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Der Migrantenrat

Eine Stimme der Stadtpolitik

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Lesedauer: ca. 7 Minuten

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Der Migrantenrat ist das einzige Sprachrohr für Migrant:innen in Rostock, durch das sie indirekt Einfluss auf die Kommunalpolitik nehmen können“, erklärt Seyhmus Atay-Lichtermann, Vorsitzender des Migrantenrats Rostock (Migro). Er wurde am 12. Oktober 1992 zum ersten Mal gewählt, kurz nach dem Pogrom in Lichtenhagen. Doch die Idee entstand bereits kurz nach dem Fall der Berliner Mauer und dem gleichzeitigen Anstieg rechter Gewalt. Während in der Bundesrepublik schon seit den Siebzigerjahren vermehrt sogenannte Ausländerbeiräte gegründet wurden, war der Rostocker einer der ersten Ostdeutschlands.

Der Migro besteht aus neun gewählten Mitgliedern und ist der Rostocker Bürgerschaft als Beirat beigeordnet. Er soll als Interessenvertretung die politische Teilhabe der migrantischen Community ermöglichen, vertritt diese vor Bürgerschaft und Oberbürgermeister:in und berät diese. Wahlberechtigt sind alle ausländischen Rostocker:innen, die nicht Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind und seit mindestens drei Monaten ihren Wohnsitz in der Stadt haben. Damit dürfen auch Personen wählen, die aufgrund ihres rechtlichen Status nicht an anderen Wahlen teilnehmen dürfen, beispielsweise Menschen mit Duldung. Außerdem wahlberechtigt sind Deutsche mit mindestens einer weiteren Staatsangehörigkeit, Eingebürgerte sowie Spätaussiedler:innen und deren Familienangehörige. Der Migro wird alle fünf Jahre gewählt.

„Rostock war damals ein Kriegsgebiet für uns“

Der heute 38-jährige Atay-Lichtermann floh mit 15 Jahren zusammen mit seiner kurdischen Familie vor dem Krieg in der Türkei nach Deutschland und kam nach Rostock. Das war 1999, zum Ende der sogenannten Baseballschlägerjahre. Gewohnt hat er zusammen mit seiner Familie in der Parchimer Straße 9, direkt gegenüber des Sonnenblumenhauses. „Die Luft von 1992 war definitiv noch extrem zu spüren“, erinnert er sich.

Erst in Rostock hat Atay-Lichtermann Neonazis und Skinheads kennenlernen müssen. Ein paar Tage nachdem seine Familie – seine Eltern und seine drei Geschwister – nach Lichtenhagen gezogen war, wurden sie von etwa 30 Neonazis angegriffen, erzählt er. Bei ihrem ersten Ausflug nach Warnemünde.

„Alle, die ’99 auf der Promenade unterwegs waren, wissen, dass die Skinheads immer da waren.“ Kaum jemand der Passant:innen habe sich eingeschaltet und geholfen. Erst spät griff ein Mann ein und rettete so die Familie. „Ein riesengroßer Typ, er sah aus wie ein Bodybuilder“, erinnert sich Atay-Lichtermann.

Nach dem Angriff rief seine Familie die Polizei. Sie habe den Fall aufgenommen und sich nie wieder gemeldet. „Dann haben wir uns auf Selbstschutz eingestellt.“ Es blieb ihnen nichts anderes übrig, „wenn Polizei und Rechtsstaat dich nicht schützen“. Und auf den Zufall, dass wieder jemand eingreift, wollten sie sich nicht verlassen. Von da an war Rassismus für Atay-Lichtermann und seine Familie Normalität: „Das ist so. Das brauchst du auch nicht zur Anzeige zu bringen, das ist deren Land.“ Sie seien vor Krieg geflohen und hätten Sicherheit gesucht. „Aber Rostock war damals für uns ein Kriegsgebiet.“

Keine körperliche Gewalt, aber immer noch Rassismus

In der Zwischenzeit habe sich in Rostock viel geändert. Wenn er heute beispielsweise Syrer:innen erzähle, was er erlebt hat, könnten sie sich das gar nicht vorstellen. Er selbst habe keine Angst mehr, wenn er durch die Straßen gehe, denn tätliche Angriffe seien nicht mehr an der Tagesordnung. „Zumindest in Rostock, in ländlichen Räumen ist das noch anders.“ Doch Rassismus gebe es immer noch. „Egal, wie integriert und angekommen du bist, wenn du anders aussiehst, gehörst du nicht dazu. Wenn ich sage, dass ich Deutscher bin, werde ich immer noch gefragt, ob ich hier geboren bin. Das passiert mir tagtäglich, sogar mitten in der KTV“, sagt der Migro-Vorsitzende. Seinen Kindern gegenüber würde er ein solches Verhalten nicht ertragen. Er hat zwei Söhne, drei und zehn Jahre alt. „Mein Großer ist Rostocker Patriot, er ist Norddeutscher.“ Er wisse zwar, was Rassismus sei, beziehe das aber nicht auf sich selbst.

Frischer Wind und alte Satzungen

2020 wurde Seyhmus Atay-Lichtermann zum Vorsitzenden des Migros gewählt. Mit den meisten Stimmen seit Bestehen des Migros, und das als Einzelkandidat, wie er erzählt. Sein Vater war selbst zehn Jahre lang Mitglied. Es habe einige Zeit gedauert, bis er merkte, wie gut und wichtig die Arbeit seines Vaters war. Er möchte als nächste Generation frischen Wind in das kommunale Gremium bringen.

Neben den Aufgaben, die Kommunikation mit der Bürgerschaft und der Stadtverwaltung zu verbessern und die Präsenz der migrantischen Community in Ausschüssen und Gremien zu erhöhen, möchte Atay-Lichtermann die Netzwerke erweitern, beispielsweise auch mit queeren Organisationen, zivilgesellschaftlichen Initiativen oder politischen Parteien zusammenarbeiten.

Doch auch die Satzung des Migros könnte dem Vorsitzenden zufolge frischen Wind gebrauchen. Das letzte Mal geändert wurde diese 2010. Der Migro ist lediglich eine beratende Stimme in Ausschüssen der Bürgerschaft und in den Ortsbeiräten. Er soll Anregungen, Vorschläge und Stellungnahmen für die Bürgerschaft erstellen und mit der Stadtverwaltung zusammenarbeiten. Das hält Atay-Lichtermann für unzeitgemäß. „Wir wollen Rederecht und eigenständiges Antragsrecht.“

Außerdem hat der Migro das Informations- und Anhörungsrecht nur, wenn das Anliegen Migrant:innen unmittelbar betrifft. „Ich lebe hier, mich betrifft jedes Thema unmittelbar“, sagt Atay-Lichtermann. Dennoch sei der Migro bei der Debatte, ob der Antisemit Xavier Naidoo in der Stadthalle auftreten darf, nicht um eine Stellungnahme gebeten, nicht angehört, nicht informiert worden. „Wenn sie uns als vollwertige Vertretung ansehen würden, hätten sie uns gefragt.“ Wie oft der Migro in seiner Zeit als Vorsitzender um eine Stellungnahme gebeten wurde? Sicher ist er sich nicht, aber ihm fällt kein einziges Mal ein.

„Mit staatlicher Unterstützung könnten wir noch viel mehr erreichen“

Die Mitglieder des Migros arbeiten ehrenamtlich. Die jährlich 10.000 Euro von der Stadt wurden im Doppelhaushalt 2022/2023 auf 15.000 Euro erhöht. Das sei eine echte Hilfe. Das Geld werde unter anderem für Miete, Strom und Fahrtkosten ausgegeben. „Wir kamen manchmal in Schwierigkeiten, Blumen und Kränze zum Niederlegen zu bezahlen“, sagt Atay-Lichtermann. Im gleichen Atemzug seien allerdings die Landesmittel für Migranet MV von 60.000 auf 50.000 Euro reduziert worden. Migranet ist ein Netzwerk der Migrant:innenselbst-organisationen und die migrantische Interessenvertretung gegenüber der Landesregierung. Gegründet wurde Migranet von Fabro, dem Förderverein des Migro; Atay-Lichtermann ist Co-Sprecher des Netzwerks.

„Der Staat soll die Integration nicht als Bringschuld ansehen. Es betrifft nicht nur uns, es betrifft die Gesamtgesellschaft“, sagt Atay-Lichtermann. Innerhalb eines Jahres habe der Migro-Förderverein Fabro drei interkulturelle Zentren ohne kommunale Unterstützung gegründet: in Schwerin, Wismar und Neubrandenburg. „Mit staatlicher Unterstützung könnten wir noch viel mehr erreichen.“

Der Migro ist Mitglied des Bündnisses Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992. Am 18. Oktober feiert der Migro auf einer Sondersitzung im Bürgerschaftssaal und dem Foyer des Rathauses mit geladener Politprominenz und Musik sein 30-jähriges Bestehen.

Migrant:innenräte in Meck-Vorp

Neben dem Migro in Rostock gibt es in Mecklenburg-Vorpommern den Beirat für Menschen mit Migrationshintergrund im Landkreis Rostock,in Ludwigslust den Integrationsbeirat und in Parchim den Flüchtlingsbeirat. Die Gründung war eine Maßnahme nach dem im Mai 2019 durch den Kreistag beschlossenen Integrationskonzept des Landkreises Rostock.

Letztes Jahr – fast 30 Jahre nach dem ersten Migrant:innenrat MVs – wurde in Greifswald der fünfte gegründet, gewählt wird er im Oktober. Die Vorbereitungen laufen, die Idee hatte der Integrationsbeauftragte von Vorpommern-Greifswald, Ibrahim Al Najjar (SPD), jedoch bereits 2016. Spätestens nächstes Jahr soll ebenfalls ein Migrant:innenbeirat für den Landkreis gegründet werden. Die landesweite Dachorganisation Migranet möchte in allen großen Städten MVs Migrant:innenräte gründen.

Die komplette Übersicht findet ihr in KATAPULT MV Ausgabe 12

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Fußnoten

  1. Migrantenrat Rostock (Hg.): Wer wir sind, auf: migrantenrat.de / Dokumentationszentrum „Lichtenhagen im Gedächtnis“ (Hg.): „Empathie“ – Doberaner Platz, auf: app.lichtenhagen-1992.de.
  2. fabro-interkulturell.de.
  3. Art. 116 Abs. 1 GG lautet: „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“
  4. Migrantenrat Rostock (Hg.): Satzung des Migrantenrates der Hansestadt Rostock, auf: migrantenrat.de / Dokumentationszentrum „Lichtenhagen im Gedächtnis“ (Hg.): „Empathie“ – Doberaner Platz, auf: app.lichtenhagen-1992.de / Politischbilden.de (Hg.): Methodensammlung „Lichtenhagen im Gedächtnis“, auf: politischbilden.de.
  5. Migrantenrat Rostock (Hg.): Informationen für Wahlberechtigte, auf: migrantenrat.de.
  6. Migrantenrat Rostock (Hg.): Wer wir sind, auf: migrantenrat.de.
  7. Kröpeliner-Tor-Vorstadt: studentisches Szeneviertel in Rostock.
  8. Migrantenrat Rostock (Hg.): Wer wir sind, auf: migrantenrat.de.
  9. E-Mail der Pressestelle des Landkreises Rostock vom 10.8.2022.
  10. Telefonat mit Ibrahim Al Najjar am 15.8.2022 / Hirsch, Claus: Ohr und Stimme der Migrant:innen, auf: katapult-mv.de (16.8.2022).

Autor:innen

Geboren in Rostock.
Aufgewachsen in Rostock.
Studierte in Rostock. Und Kiel.

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