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Schluss mit Russland-Fokus

„Europa ist eben viel mehr als nur Fördertöpfe“

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KATAPULT MV: Was plant die Landesregierung hinsichtlich der Ostseekooperation?
Bettina Martin: Angesichts des Angriffskrieges Putins auf die Ukraine gilt es, den demokratischen Ostseeraum zu stärken. Wir wollen unsere Regionalpartnerschaften mit den Wojewodschaften Westpommern und Pommern verstärken, aber auch unsere Kooperation mit den skandinavischen Ländern oder den drei baltischen Staaten weiterentwickeln. Hierfür können wir an bestehende Partnerschaften, wie z.B. mit Südwestfinnland oder mit der südschwedischen Provinz Skåne anknüpfen.


Was genau steht da auf der Agenda? 
Eine unabhängige Energieversorgung, gerade durch Offshore-Windkraft spielt eine große Rolle. Hier wollen wir die Zusammenarbeit weiter verstärken. Gerade auch in den wichtigen Bereichen Forschung und Entwicklung setzen wir bereits heute schon auf Kooperationen mit den Partnern im Ostseeraum. Ein wichtiges Beispiel ist hier die Wasserstofftechnologie. Auch im Bereich der Gesundheitswirtschaft ist MV ein starker Partner. Ein Forum für den engen Austausch mit unseren Partnern der Ostseeregion ist der „Baltic Sea Business Day“. Schon lange geplant, wird er am 22. September in Rostock stattfinden. Dort werden auch Themen rund um den Green Deal und klimaneutrales Wirtschaften eine wichtige Rolle spielen und Kontakte in den Ostseeraum geknüpft. Die Wirtschaftskammern vor Ort sind eng mit eingebunden. 


Hat der Krieg gegen die Ukraine die europapolitischen Ziele der Landesregierung beeinflusst? 
Wir erleben eine Zeitenwende. Gerade jetzt, wo ein Krieg auf europäischem Boden, quasi vor unserer Haustür stattfindet und die bisherige europäische Sicherheit- und Wirtschaftspolitik grundlegend infrage gestellt ist, müssen auch wir in MV uns neu orientieren. Eine Debatte um die Zukunft Europas ist notwendig. Die Regionalpartnerschaft, die MV vor dem Krieg mit dem Leningrader Gebiet hatte, haben wir beendet. Die Stärkung unserer Zusammenarbeit mit den demokratischen Staaten im Ostseeraum ist für uns ganz wichtig.  

Das Projekt Nord Stream 2 haben unsere östlichen Nachbarstaaten von Anfang an abgelehnt, aber es wurde dennoch von Deutschland und besonders durch MV betrieben. Wie belastet dies eine verstärkte Zusammenarbeit mit den östlichen Nachbarn?
Die Pipeline war ein Projekt, das von mehreren Bundesregierungen getragen wurde. Als Bundesland, wo die Pipeline in Lubmin anlandet, hatte MV es vor Ort umzusetzen. Die Inbetriebnahme Nord Stream 2 ist nun richtigerweise gestoppt. Die Haltung der Landesregierung angesichts des Angriffskrieges Putins auf die Ukraine ist eindeutig. Mit dieser klaren Haltung werden wir an die guten Beziehungen zu unseren östlichen Partnern anknüpfen und den Dialog mit ihnen führen.  

Wie will die Landesregierung verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen?
Wir haben traditionell enge Beziehungen zu unseren polnischen Nachbarn und pflegen eine enge Partnerschaft zu den Wojewodschaften Westpommern und Pommern. Es gibt auf allen Ebenen einen regelmäßigen Austausch - auch mit anderen Ostseeanrainerstaaten. Regelmäßig finden „Polentage“, die Spitzentreffen der Landesregierung mit den Wojewodschaften statt. Darauf aufbauend die Kontakte zu vertiefen, das ist jetzt die Aufgabe. Ministerpräsidentin Schwesig hatte kürzlich ein Treffen mit Vertretern der polnischen Botschaft und wird bald den Marschall der westpommerschen Wojewodschaft treffen. Ein wichtiges gemeinsames Thema ist jetzt die Hilfe für geflüchtete Menschen.


Kapitel XIV „Europa und internationale Zusammenarbeit“ steht mit knapp zwei Seiten im Koalitionsvertrag „Aufbruch 2030“ an drittletzter Stelle. Reden die Koalitionspartner über eine Neufassung des Kapitels?
Wir leben in einer neuen Zeit und müssen uns jetzt neu ausrichten. Wir werden unsere europapolitische Strategie mit unserem Koalitionspartner dementsprechend weiterentwickeln und gemeinsam umsetzen.


Was erwarten unsere Nachbarländer im Rahmen unserer politisch-wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit von MV?
Einen Austausch auf Augenhöhe in allen Bereichen. Ein wichtiges gemeinsames Ziel ist es, unabhängig von fossiler Energie zu werden und bis 2050 – und in MV bis 2040 - CO2-neutral zu wirtschaften. Das kann nur gemeinsam gelingen. Da erwarten die europäischen Partnerländer den Beitrag Deutschlands und auch den des Küstenlandes Mecklenburg-Vorpommern. Hier kann MV bei erneuerbaren Energien, vor allem der Windkraft, liefern. Wir erzeugen in MV mehr als doppelt so viel, wie wir selbst verbrauchen. 

Wie funktioniert Ostseekooperation konkret?
Als Forschungsministerin fallen mir da zuerst Beispiele aus der internationalen Forschungszusammenarbeit ein:  Das Leibniz-Institut in Rostock und die Universität in Aarhus forschen gemeinsam zu synthetischen Kraftstoffen, den sogenannten E-Fuels. Im Forschungsprojekt „CAMPFIRE“ arbeitet das INP Greifswald mit Partnern aus der Wirtschaft aus Norwegen, Schweden und Polen zusammen. Das sind nur zwei Beispiele für die vielfältigen Kooperationen.


Welche europapolitischen Forderungen hat die Landesregierung in die Bundespolitik eingebracht?
Wir haben uns beispielsweise in Bezug auf den Green Deal „Fit for 55 Prozess“ zusammen mit Hamburg und Niedersachsen in der Europaministerkonferenz dafür eingesetzt, dass die Förderung von erneuerbaren Energien auf europäischer Ebene so geregelt wird, dass wir bestmöglich davon profitieren können. Hier sehe ich für unser Bundesland besondere Chancen im Bereich der Windenergie. Ein zweiter Punkt sind die sozialen Auswirkungen des Green Deals, nämlich dass Energie für Menschen mit geringerem Einkommen auch noch bezahlbar bleiben muss. Die Forderung nach finanzieller Abfederung haben wir gemeinsam mit anderen Bundesländern in die Europaministerkonferenz eingebracht. Am Herzen liegt mir auch, dass möglichst noch vor der nächsten Europawahl das Wahlalter bei Europawahlen auf sechzehn Jahre gesenkt wird. Das ist ein europapolitisches Vorhaben der Bundesregierung, das wir aktiv unterstützen. 

Welche neuen Impulse will die Landesregierung für eine europäische Wissenschaftskooperation zu geben?
Ein Beispiel ist das länderübergreifende Forschungsprojekt Marispace-X, für das gerade der Startschuss gegeben wurde und an dem die Universität Rostock wichtiger Partner ist. Fokus ist die Digitalisierung des maritimen Ostseeraums. Ein weiteres konkretes Beispiel ist die Vernetzung der Wissenschaftskooperation mit den Hochschulen in den drei baltischen Staaten und denen in MV. Wir finanzieren schon seit längerem eine Personalstelle in Riga, die sich um den Studierenden- und Wissenschaftleraustausch kümmert. Dieses Projekt gewinnt jetzt noch mehr an Bedeutung.

Wie funktioniert im Ministerium für „Europaangelegenheiten" die Ressortabstimmung in der Landesregierung?
Europapolitische Grundsatzthemen, die alle Ressorts betreffen, wie beispielsweise der Brexit werden durch unser Ministerium koordiniert. Einzelne Fachthemen werden durch die jeweiligen Fachministerien selbst koordiniert. Die politischen Interessen der Landesregierung werden in Brüssel durch das Büro der MV-Landesvertretung bei den entsprechenden Institutionen, wie Europäisches Parlament, Kommission und Rat platziert. Und durch unsere Brüsseler Vertretung werden die Ressorts der Landesregierung ständig mit europapolitisch relevanten Informationen versorgt.

Wie versuchen Sie Europa attraktiv zu machen? 
Die Bedeutung Europas wird leider oftmals noch unterschätzt. Auch wenn wir in MV seit 1990 über 10 Milliarden Euro an Finanzhilfen erhalten haben, so bedeutet Europa trotzdem viel mehr als nur Fördertöpfe. Die Freiheit, in 27 Länder reisen, dort arbeiten und studieren zu können, ist ein unschätzbarer Wert, den wir unbedingt verteidigen müssen. Erasmus+ ist eine große Errungenschaft. Die Erfahrungen, die junge Menschen in einem Europa in Frieden und Freiheit machen können, sind unbezahlbar. Im Rahmen des „Europäischen Jahr der Jugend“ finden in diesem Jahr in Mecklenburg-Vorpommern mehrere Veranstaltungen statt. Wir wollen junge Menschen, insbesondere aus unserer Ostseeregion, zusammenbringen und mit ihnen über die europäische Idee diskutieren. Menschliche Begegnungen sind für den Zusammenhalt Europas unverzichtbar.

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Fußnoten

  1. Die Europäische Union will Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 statt um 40 Prozent um 55 Prozent im Vergleich zum Basisjahr 1990 reduzieren. Mit dem Paket will die EU ihre Klima- und Energiegesetze fit für die neuen 2030-Klimaziele machen.
  2. Erasmus+ ist ein Programm der Europäischen Kommission für allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport.

Autor:innen

haut als freier Journalist in Schwerin für KATAPULT MV in die Tasten. Manchmal knipst er auch.

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