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60 Jahre Mauerbau

Fluchten über die DDR-Staatsgrenze Nord

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Eine Forschungsgruppe der Universität Greifswald beschäftigt sich am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte mit tödlich geendeten Fluchten über die Ostseegrenze der DDR. Der Grenzabschnitt wurde damals als „Staatsgrenze Nord“ bezeichnet. Die bisherige Forschung konnte 112 tödliche Fluchtfälle über die Ostseeküste in den Westen nachweisen. Viele Biographien konnten bereits rekonstruiert werden. Schon vorher gab es Privatpersonen, die ausführlich über Ostseefluchten in der DDR recherchierten. Dazu gehören Bodo Müller und Christine Vogt-Müller. Auch der Verein Ostseefluchten e. V. führt eine Liste über Fluchtversuche an der Staatsgrenze Nord. Die erhobenen Daten, Namen und Zahlen der Fluchtversuche muteten jedoch etwas undurchsichtig und wenig nachvollziehbar an, erklärt Merete Peetz, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts. „Es wurde großartige Vorarbeit geleistet, die wir niemals in Frage stellen würden, aber es ist einfach so, dass dort nicht mit den Möglichkeiten gearbeitet werden konnte, die wir jetzt haben. Wir wollen mit der Gründlichkeit, die uns zur Verfügung steht, auch dank der Finanzierung durch das Bundesforschungsministerium, jetzt alles sorgfältig überprüfen.“ Hinzu komme, dass 30 Jahre nach dem Mauerfall der Zugriff auf Akten in Archiven einfacher sei.

DDR-Geflüchtete waren meist jung und karriereorientiert

Menschen, die über die Ostsee in die BRD flohen, hatten ganz unterschiedliche Beweggründe. Dazu gehörten häufig ein verwehrtes Studium oder eine verwehrte Berufsausbildung. Außerdem war es nicht ungewöhnlich, dass DDR-Bürger, die direkt am Strand wohnten, von der Staatssicherheit angeworben wurden, um Menschen aus der Küstenregion über geplante Fluchten auszuspionieren. Auch das sei für viele ein Fluchtgrund gewesen, da es keine Aussicht mehr auf ein Leben ohne staatlichen Druck gegeben habe, führt Merete Peetz aus. Den Ausgangspunkt der Flucht über das Meer bezeichnet man als Ablandungsort.

In der Altersgruppe der 15- bis 30-Jährigen wurden die meisten Fluchtversuche unternommen. „Oft waren es junge Menschen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollten“, schildert die wissenschaftliche Mitarbeitern des Projekts. Dazu gehörten Akademiker, Handwerker und DDR-Bürger, die in der Industrie arbeiteten.

Fluchtversuche häufig spontan

Den richtigen Moment abwarten und schnell handeln – das war die Devise, um eine Ostseeflucht anzutreten. Er war abhängig von Faktoren wie dem Wetter, aber auch der Bewachung des Strandes. Die Vorbereitungszeit wurde sehr kurz gehalten, um möglichst wenig Aufmerksamkeit von ungewollten Mitwissern oder Beobachtern auf sich zu ziehen. Vor allem wollte man diese nicht belasten.

Nicht alle versuchten, auf einem Boot die Ostsee zu überqueren, einige schwammen oder tauchten auch. Zwei Geflüchtete wagten sich sogar zu Fuß auf die zugefrorene Ostsee, um in den Westen zu gelangen. Gerade einmal fünf von 43 Personen haben es geschafft, schwimmend die DDR über die Ostsee zu verlassen. Am häufigsten wurde dies aus dem Gebiet Teschow-Wismar versucht.

Mitbringsel der Geflüchteten

Meistens traten die betroffenen Personen ihre Flucht mit nur wenigen Habseligkeiten an. Häufige Gegenstände waren ein Handkompass, persönliche Unterlagen, Fotos von nahestehenden Personen, Valuta und Dinge, die später leicht zu Geld gemacht werden konnten. „Der Handkompass diente der Orientierung auf See. Nicht jeder Geflüchtete hatte die nautischen Kenntnisse, sich an den Sternen zu orientieren“, erklärt Peetz. Persönliche Unterlagen wie Zeugnisse und andere Papiere, um in Westdeutschland ein neues Leben beginnen zu können, wurden meist in einem Plastikbeutel transportiert. Valuta ist ausländisches Geld. Wenn die Geflüchteten Glück hatten, hatten sie vor ihrem Fluchtvorhaben bereits ein paar Valuta auftreiben können, in diesem Fall meist D-Mark. Bei manchen, die tödlich verunglückten, fanden sich auch Erinnerungsfotos von Freunden und Familie.

Feuerschiff Gedser: „Vi har brug for vand“

„Wir brauchen Trinkwasser!“ ist die Übersetzung aus dem Dänischen. Dieser Funkspruch wurde vom Feuerschiff Gedser an das Festland abgesetzt, sobald Geflüchtete aus dem Wasser gerettet wurden. So wusste man dort, dass Flüchtlinge an Bord genommen worden waren. Am nächsten Tag wurden sie dann abgeholt. Im Gedserriff befand sich bis 1972 ein Schiff mit Leuchtfeuer, da der Bereich als schwierig schiffbar galt. Aktuell liegt es im dänischen Hafen Helsingør.

Forscher:innen versinken in archivierten Akten

Um Fluchtversuche aufzuspüren, nutzt die Forschungsgruppe unterschiedliche Quellen. Ein wichtiges Hilfsmittel für die Wissenschaftler:innen sind die Vorarbeiten privater Initiativen. Außerdem werden Akten in Archiven durchforstet, um mehr über Fluchtverläufe und die Geschichten dahinter zu erfahren. Dazu gehören auch Akten der Generalstaatsanwaltschaften, die mittlerweile archiviert sind. Auch Standesämter bieten gerade bei tödlichen Fluchtversuchen die Möglichkeit, Sterbelisten durchzusehen und nach Ertrunkenen zu suchen. Hier muss natürlich nach entscheidenden Faktoren, wie Alter und Jahreszeit, gesucht und gegengeprüft werden: „Es ist unwahrscheinlich, dass ein 70-jähriger Mann im November einen Fluchtversuch startet“, macht Peetz deutlich.

Zeitzeugenberichte sind nicht zu unterschätzen

Fluchten sind zwar meist politisch motiviert, bringen aber dennoch viele Emotionen mit sich, vor allem für Angehörige und Freunde. Gerade diese seien essenziell bei der Rekonstruktion der Lebensgeschichte der Opfer. Peetz erzählt, dass die Bereitschaft der Angehörigen, aktiv bei der Recherche zu helfen, unterschiedlich groß sei: „Angehörige, die als Zeitzeugen dabei waren, können durch eine Befragung erneut traumatisiert werden.“ Sie werden vorab zwar meist per Brief kontaktiert, die Reaktionen unterscheiden sich jedoch stark. Manche melden sich gar nicht zurück, andere sagen ab. Wiederum andere sind auch zu einem Austausch bereit. Die Forschungsgruppe unter der Leitung von Professor Hubertus Buchstein setzt auf solche persönlichen Gespräche mit Zeitzeugen: „Starke Beziehungsarbeit auf persönlicher Ebene ist bei diesem Thema enorm wichtig. Durch Corona wurde uns das komplett genommen.“

Nach Corona: Recherche geht weiter

In den letzten anderthalb Jahren kamen gerade einmal zwei persönliche Gespräche mit Zeitzeugen zustande. Jetzt beginne die eigentliche Arbeit. Archive sind wieder geöffnet und der persönliche Kontakt zu Angehörigen und Freunden der Geflüchteten zumindest wieder möglich. Weitere Herausforderungen bestehen darin, dass Zeitzeugen traumatisierende Ereignisse häufig verdrängen und dazu immer älter werden: „Man hat eben nur dieses eine Fenster, wenn man auf die Angehörigen zugeht“, erläutert Peetz. Die Forschungsgruppe setzt trotz der erschwerten Bedingungen auf respektvollen Umgang mit traumatisierten Zeitzeugen und lässt Fälle, bei denen diese keine Auskunft geben wollen, ruhen.

Bis Oktober 2022 wird das Projekt noch gefördert, doch die Forschungsgruppe wünscht sich eine Verlängerung, um mehr Fälle dokumentieren zu können. Das abschließende Ziel ist ein biografisches Handbuch.

mit Universität Greifswald

Autor:innen

Freie Reporterin in Greifswald.

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