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Bildung und Teilhabe

Gleiches Recht, ungleiche Rechnung

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Bei Bettina von Sarnowski hat sich Ärger angestaut. Statt die Integrationshelferin für den Ferienhort ihrer siebenjährigen Tochter zu bewilligen, schickte das Sozialamt Vorpommern-Greifswald im Mai ein Formular zur Offenlegung ihrer Vermögensverhältnisse, von Guthaben über Immobilienbesitz bis zur Sterbegeldversicherung. Schnell wurde klar: Nicht nur die Integrationshelferin im Ferienhort, alle Integrationshelfer im Hort werden im gerade begonnenen Schuljahr nur noch bis zu einer gewissen Einkommens- und Vermögensgrenze kostenfrei sein.

Integrationshelfer sind Lernbegleiter in Schulen und eben auch im Hort. Kinder brauchen sie je nach ihrer Einschränkung zum An- und Ausziehen. Als Begleiter zur Toilette. Sie reichen Kindern Essen, die nicht alleine eine Gabel halten können, „dolmetschen“ für Kinder, die nicht gut sprechen können, schieben Rollstühle und puffern stark aggressives Verhalten ab. Ohne sie können Kinder mit schweren geistigen Beeinträchtigungen nicht zusammen mit anderen Kindern lernen und spielen. Was Integrationshilfe im Einzelfall kosten könnte, dazu konnte die Sprecherin des Landkreises bisher keine Aussage machen. Bettina von Sarnowski sagt, man habe ihr am Telefon gesagt, dass ein Integrationshelfer für den Ferienhort 1.300 Euro pro Woche koste.

Soziale Teilhabe in Meck-Vorp kostenpflichtig

Aus Sicht des Amtes gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen der grundsätzlich kostenfreien Teilhabe an Bildung – dem Schulbesuch – und der, je nach Vermögen kostenpflichtigen, sozialen Teilhabe – dem Hortbesuch. „Das Bundesteilhabegesetz sieht tatsächlich diese Zweiteilung vor“, sagt Kai Pakleppa von der Lebenshilfe, einer der wichtigsten bundesweiten Interessenvertretungen für Menschen mit geistigen Behinderungen und deren Familien. „Das stellt Eltern immer wieder vor riesengroße finanzielle und organisatorische Probleme. Das betrifft nicht nur den Hort, sondern so gut wie alle Freizeitaktivitäten. Für diese Eltern ist das ganze soziale Leben ihrer Kinder zuzahlungspflichtig.“

Wie viele Kinder im Landkreis Vorpommern-Greifswald insgesamt von der neuen Praxis des Sozialamtes betroffen sind, hat das Amt bislang nicht mitgeteilt. Auch warum die Praxis ohne eine gesetzliche Änderung nun verschärft wurde, blieb unklar. 

Allein an der Greifswalder Martinschule sind die Eltern von 25 Kindern von den Vermögensoffenlegungen betroffen. Schulleiter Benjamin Skladny sagt, es sei gut möglich, dass einige Familien sich einen Hortbesuch künftig nicht leisten können oder Eltern ihre Erwerbsarbeit vermindern oder niederlegen müssen, um ihre Kinder nachmittags betreuen zu können.

Keine Planungssicherheit für Schulen: Sozialamt meldete sich erst kurz vor Ferienende

Die Martinschule wurde 2018 für ihr inklusives Konzept mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Hier lernen Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam. In der Laudatio heißt es, in der Martinschule lebe „der unbedingte Wille, das ‚Anderssein‘ der Kinder und Jugendlichen radikal zu akzeptieren und wertzuschätzen.“ Die Martinschule stehe hoffnungsstiftend für eine inklusivere Gesellschaft.

Benjamin Skladny sieht hinter dem aktuellen Konflikt auch grundsätzliche Ignoranz. „Man hat schon den Eindruck, dass sich niemand für diese Kinder und ihre Familien interessiert. Mit ihnen gewinnt man eben keine Blumentöpfe, die werden nie Olympiamedaillen oder Nobelpreise bekommen, die interessieren einfach niemanden.“ Auch im neuen Schulgesetz spiele Inklusion so gut wie keine Rolle.

Weil das Sozialamt erst wenige Tage vor Ferienende die Aufforderungen zur Vermögensoffenbarung an viele Eltern verschickte, hatte die Schule keine Planungssicherheit für das kommende Schuljahr. Und das, obwohl die Anträge auf Integrationshelfer bereits im März an das Sozialamt gingen. Skladny stellte die Integrationshelfer trotzdem an – auf eigenes Risiko. „Uns blieb nichts anderes übrig“, sagte er, „dass Kinder den Hort nicht besuchen dürfen, weil sie beeinträchtigt sind, kommt für uns nicht infrage.“

Kostenlose Kinderbetreuung in MV – dafür mit schlechtem Betreuungsschlüssel

Er sieht auch einen Zusammenhang zu dem Vorzeigeprojekt der Landesregierung, dem kostenfreien Kita- und Hortbesuch für „normale“ Kinder. Das Projekt, sagt er, sei so teuer, dass kein Geld übrig sei, auch qualitativ die Betreuung zu verbessern. Im Kitabereich kommt in Mecklenburg-Vorpommern eine Erzieherin auf etwa 13 Kinder, das sind doppelt so viele wie in Baden-Württemberg.

Und auch im Hortbereich arbeiten die Erzieherinnen an der Belastungsgrenze. Hier gilt ein Betreuungsschlüssel von 1:22. „Unter diesen Voraussetzungen können wir kein einziges Kind mit einer geistigen Behinderung mitbetreuen“, sagt Skladny. Schon für die Betreuung von Kindern ohne Beeinträchtigungen sei dieser Schlüssel eine Herausforderung, sagt Christopher Lanzke von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft Mecklenburg-Vorpommern. Er fordert für Horte einen Betreuungsschlüssel von 1:12.

Hort als Weiterführung der pädagogischen Schularbeit

Bei der finanziellen Beteiligung der Eltern hat das Sozialamt Vorpommern-Greifswald durchaus einen Ermessensspielraum: Ob der Hort als Ort der Bildung oder der Teilhabe gilt, hängt nämlich auch davon ab, ob es dort Angebote gibt, die die pädagogische Arbeit der Schule unterstützen. Wenn ja, dann könne man auch den Hortbesuch als (dann nicht zuzahlungspflichtige) Hilfe zur Schulbildung betrachten, sagt Kai Pakleppa von der Lebenshilfe.

Gerade für Kinder mit Beeinträchtigungen, deren Lernziele beim Schulbesuch oft nicht unbedingt Lesen, Schreiben, Rechnen, sondern vielmehr das Lernen von sozialem Miteinander, Kommunikation und emotionaler Kontrolle sind, sei der Hortbesuch besonders wertvoll und selbstverständlich eine Weiterführung der pädagogischen Arbeit der Schule, sagt Benjamin Skladny.

Bettina von Sarnowski hat das Formular zur Vermögensprüfung durchgestrichen und an das Amt zurückgeschickt. Sie wartet jetzt auf eine Kürzung der Leistung. Also darauf, dass das Amt sie auffordert, die Integrationshelferin ihrer Tochter ganz oder teilweise zu bezahlen. Und dann wird sie dagegen klagen, gemeinsam mit anderen betroffenen Eltern. „Ich finde den ganzen Vorgang ehrabschneidend“, sagt sie. „Auch wir als Eltern haben ein Anrecht auf Teilhabe an der Gesellschaft. Niemand ist dafür verantwortlich zu machen, dass unsere Tochter schicksalhaft mit einer Schwerbehinderung geboren wurde.“

Für sie und viele andere Eltern ist der Kampf um die Integrationshelfer im Hort nur eines von vielen Problemen, die sie tagtäglich bewältigen müssen. Was zum Beispiel ist nach der sechsten Klasse, wenn die Hortzeit spätestens endet? Wer vor Ende der sechsten Klasse im Rollstuhl sitzt, sitzt auch nach den Sommerferien drin. Kinder, die vorher nicht sprechen können, sprechen auch dann noch nicht. „Normale“ 13-Jährige können den Nachmittag alleine zu Hause verbringen, ein Kind mit einer schweren geistigen Behinderung kann das nicht.

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