In Rostock, MV und ganz Deutschland

Häusliche Gewalt nimmt zu, Gelder werden gestrichen

Jedes Jahr findet am 25. November der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen statt. Jedes Jahr beschwören Politiker:innen, wie wichtig Beratung und Hilfe für Betroffene ist. Währenddessen wird das Hilfenetz ausgedünnt, weil ihnen die Finanzierung fehlt. Vereine fordern einen gesetzlichen Anspruch auf Beratung, Hilfe und Schutz.

Erst letzte Woche hat ein Mann im Rostocker Stadtteil Schmarl mutmaßlich versucht, seine Lebensgefährtin zu erstechen, bevor er sich und die neun Monate alte Tochter der 23-Jährigen umgebracht hat. Er starb sofort, das Mädchen starb vier Tage später an den schweren Verletzungen. Die Mutter ist inzwischen außer Lebensgefahr. Die Ermittlungen dauern an, doch die Polizei vermutet einen versuchten Femizid.

Es ist einer von vielen. Fast jeden Tag wird in Deutschland eine Frau umgebracht, weil sie eine Frau ist. Aus Frauenhass, weil sie sich von ihrem Partner trennt, vom Täter als nicht gleichwertig angesehen wird. 2023 wurden 938 Mädchen und Frauen Opfer einer versuchten oder vollendeten Tötung, 360 Mädchen und Frauen wurden umgebracht.

Es sind keine Einzelfälle, Familiendramen oder Eifersuchtstragödien – solche Begriffe verharmlosen Morde, vertuschen ihre gesellschaftliche Dimension, privatisieren und entpolitisieren die Tat und normalisieren Geschlechtergewalt. Gewalt an Frauen ist ein strukturelles Problem, das für Frauen tödlich sein kann und ist.

Erstes Lagebild zu Gewalt an Frauen

Daher hat die Bundesregierung kürzlich das erste Lagebild zu Gewalt an Frauen veröffentlicht. Darin werden Straftaten aus der polizeilichen Kriminalstatistik, die überwiegend gegen Frauen begangen werden oder vor allem Frauen betreffen, sowie Hassverbrechen aus Vorurteilen gegenüber Frauen aus dem Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität zusammengetragen. Ergebnis: Die Zahl der angezeigten Straftaten an Frauen in Deutschland stieg in jeder Deliktsart im vergangenen Jahr an. Der gefährlichste Ort für eine Frau ist und bleibt ihr zu Hause. Doch auch der digitale Raum wird zunehmend zur Belastung und Gefahr. Im Fünfjahresvergleich wird der Trend besonders deutlich.

Gewalt an Frauen: Säulendiagramm zur Anzahl der Betroffenen insgesamt, 2023, und Veränderung gegenüber 2019 in Prozent. Häusliche Gewalt: 180.715 (+17), Sexualstraftaten: 52.330 (+28), digitale Gewalt: 17.193 (+130), versuchte Femizide: 938 (+17), Menschenhandel: 591 (-2)
Von häuslicher Gewalt betroffene Frauen in Deutschland: 2019: 154.260, 2020: 160.856, 2021: 157.303, 2022: 171.076, 2023: 180.8715.
Von Sexualstraftaten betroffene Frauen in Deutschland: 2019: 40.978, 2020: 41.184, 2021: 42.519, 2022: 49.284, 2023: 52.330.
Von digitaler Gewalt betroffene Frauen in Deutschland: 2019: 7.466, 2020: 8.654, 2021: 12.659, 2022: 13.749, 2023: 17.193.
Von versuchten oder tatsächlichen Femiziden betroffene Frauen in Deutschland: 2019: 799, 2020: 1.050, 2021: 839, 2022: 929, 2023: 938.
Von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung betroffene Frauen in Deutschland: 2019: 605, 2020: 555, 2021: 445, 2022: 553, 2023: 591.

Ein Licht für jede Frau in Rostock

Auch in MV steigt die Zahl der Gewalttaten an Frauen. Allein in Rostock hat sich die Zahl der Frauen, die in den Einrichtungen des Vereins Stark Machen Beratung und Hilfe suchten, in den vergangenen 20 Jahren verdreifacht. Ob das an steigender Gewalt liegt oder daran, dass sich mehr Betroffene Hilfe suchen als vor 20 Jahren, lässt sich der Zahl nicht entnehmen. Der Verein betreibt Frauenhäuser, Interventions- und Beratungsstellen in Stadt und Kreis Rostock sowie in Stralsund.

Foto von der Kerzenaktion in Rostock am 26. November 2024. 1.374 Frauen haben in Rostock 2023 Hilfe vor Gewalt gesucht

Seit 20 Jahren macht der Verein Stark Machen die Aktion Ein Licht für jede Frau in Rostock gegen häusliche und sexualisierte Gewalt. Symbolisch wird eine Kerze für jede Frau angezündet, die im Vorjahr Hilfe und Beratung aufgesucht hat. Damit möchten die Veranstalterinnen betroffenen Frauen Mut machen, sich Hilfe zu suchen. Es wird vermutet, dass nur 20 Prozent der Betroffenen das tun. „Zu groß sind oft Angst, Scham, Unsicherheit, Misstrauen und erfahrene Stigmatisierungen“, erklärt Mitglied Christine Voss am Dienstagabend am Doberaner Platz in Rostock. 

Die Rechtsmedizinerin Dr. Verena Kolbe warb bei der Lichteraktion für die Möglichkeit für Betroffene, an der Gewaltambulanz in Rostock nach einer Tat kostenfrei, anonym und unkompliziert „objektivierbare Befunde“ von Verletzungen zeitnah dokumentieren zu lassen. Daraus könne auch lange Zeit später ein Gutachten für die juristische Aufarbeitung angefertigt werden, wenn sich die Betroffene für eine Anzeige entscheidet. „Wir verschaffen den Betroffenen Zeit”, erklärt die Rechtsmedizinerin. Zeit, um sich beraten zu lassen. Zeit, Entscheidungen zu treffen. 

225 Betroffene habe die Gewaltambulanz dieses Jahr bereits untersucht. So viele wie in keinem Jahr zuvor, betont Kolbe. Doch das zeige, wie wichtig das Angebot und wie groß der Bedarf seien. 
Die Gleichstellungsbeauftragte der Universität Rostock, Heidrun Jander, erklärte, dass Befragungen an der Hochschule Wismar und Uni Greifswald ergaben, dass fast die Hälfte der Befragten sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt im Hochschulkontext erlebt hätten. Und sie kündigte für das kommende Frühjahr an, ebenfalls eine Befragung an der Uni der größten Stadt des Landes durchzuführen.

Prekäre Lage des Hilfenetzes

Obwohl die Zahl der Frauen, die Beratung und Hilfe suchen, steigt, tut dies nicht die Zahl der Berater:innen in den Einrichtungen. Vergangenes Jahr konnte das Frauenhaus in Rostock 48 Frauen aufnehmen, 171 mussten die Mitrabeiterinnen abweisen. Auch andere Frauenhäuser im Land kämpfen um ihre Existenz – und verlieren mitunter. Ende des Jahres muss das Frauenschutzhaus in Grevesmühlen schließen. Der Grund: fehlende Finanzierung. Seit Jahren fordert beispielsweise der Verein Stark Machen mehr Geld sowie einen Rechtsanspruch auf Beratung, Hilfe und Schutz.

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Wie jedes Jahr finden um den 25. November, den Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, und die darauffolgenden „Orange Days” bis zum 10. Dezember zahlreiche Veranstaltungen in MV statt.

Hilfe für Betroffene

MV-Karte zum Hilfenetz gegen Gewalt

Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erleben oder erlebt haben. Unter der 116 016 und über Onlineberatungen werden Betroffene 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag unterstützt. Auch Angehörige, Freund:innen und Fachkräfte können die Beratung kostenfrei und anonym nutzen.

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Autor:in

  • Bild von KATAPULT MV Redakeurin Victoria Flägel

    Redakteurin in Rostock

    Geboren in Rostock. Aufgewachsen in Rostock. Studierte in Rostock. Und Kiel.