Der Idee nach soll Kommunalpolitik so etwas sein wie die Keimzelle der Demokratie. Es geht um Radwege, öffentlichen Nahverkehr, um die Nutzung von Sporthallen oder um die Kreismusikschule. Und in den Großkreisen von Mecklenburg-Vorpommern geht es um Gemeinden, die lange Autofahrten voneinander entfernt liegen.
Jobst-Peter Brach (Die Linke) kennt sich mit Kreispolitik aus. Er ist seit 48 Jahren Kreistagsmitglied, erst in der DDR, seit der Wende im vereinten Deutschland. Seit 2011 im Kreistag Mecklenburgische Seenplatte, dem größten Landkreis Deutschlands, zweimal so groß wie das Saarland. „Wissen Sie, was das bedeutet?“, fragt er. Vom Südzipfel am Plauer See bis zur Friedländer Großen Wiese sei man über zwei Stunden mit dem Auto unterwegs.
Der Kreistag, in dem er sitzt, seit der Müritzkreis in dem Großkreis aufgegangen ist, hat 77 Mitglieder, nur zwei weniger als der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Einmal im Quartal tagt er im Haus der Kultur und Bildung in Neubrandenburg.
„Der Müritzkreis war noch einigermaßen überschaubar, da kannte man jede Ecke. Aber die Mecklenburgische Seenplatte zu überblicken, das lässt sich im Ehrenamt fast nicht realisieren,“ so Brach.
„Uns sind oft die Hände gebunden, weil wir die nötige Sachkenntnis nicht haben“
Ein erster kleiner Hinweis, dass die politischen Vertreter nicht ganz so aktiv sind, wie sie sein könnten, könnten Zahlen sein, die zeigen, dass zwischen Januar 2014 und Dezember 2019 im Kreistag der Mecklenburgischen Seenplatte über 659 Vorlagen der Verwaltung abgestimmt wurde – aber nur über 98 Anträge der politischen Parteien. In anderen, kleineren Landkreisen, wie etwa Nordwestwecklenburg, der noch nicht einmal halb so groß ist wie die Seenplatte, ist das Verhältnis dagegen relativ ausgeglichen.
Jobst-Peter Brach sagt, dass die Verwaltung im Vorteil sei, weil sie hauptamtlich arbeite. „Uns sind oft die Hände gebunden, weil wir die nötige Sachkenntnis nicht haben.“
Christian Bartelt, der in einem anderen Großkreis, dem Landkreis Vorpommern-Greifswald, für die FDP im Kreistag sitzt, sieht das genauso. Allerdings nicht, weil er der Verwaltung Machthunger unterstelle – sondern allein, weil „die ehrenamtliche Arbeit deutlich schwieriger geworden ist“. Die Verwaltung, das sagen beide Kreistagspolitiker, leide selber unter den langen Anfahrten und der Größe der Kreise. Nur dass sie eben haupt- und nicht ehrenamtlich arbeite.
Die langen Anreisen zu den Sitzungen und Ausschüssen, das Einarbeiten in Probleme von Gemeinden, die man nicht aus eigener Anschauung kenne, bräuchten viel Zeit und Engagement. „Wenn wir über den Straßenausbau im äußersten Zipfel von Uecker-Randow debattieren, dann weiß im Saal manchmal kaum einer, welche Straße zwischen welchen zwei Orten eigentlich gemeint ist“, sagt Bartelt.
„Die ehrenamtliche Arbeit ist deutlich schwieriger geworden“
Es könnte sein, dass die Unüberschaubarkeit der Kreise auch ein Grund dafür ist, dass nur selten ein Bürger vorbeikommt, wenn der Kreistag tagt. Weder persönlich noch im Livestream. Wenn da die Mitglieder des Kreistags mehr oder weniger unter sich mit den Verwaltungsmitarbeitenden sitzen, wirkt das ziemlich dröge. Fast ein bisschen verkümmert, diese Keimzelle der Demokratie.
Da hilft es auch nicht, dass man auf den Mitgliederlisten der Kreistage einige prominente Namen entdeckt. Im Kreistag der Seenplatte sitzt zum Beispiel Vincent Kokert, der bis 2020 noch Landesvorsitzender der CDU war. Und hoppla, im Kreistag von Vorpommern-Greifswald sitzt Philipp Amthor (CDU), trotz Bundestagsmandats plus Nebentätigkeiten. Aber auch Patrick Dahlemann (SPD), Staatssekretär für Vorpommern, die Greifswalder Bausenatorin Jeanette von Busse (CDU) oder Landtagsmitglied Mignon Schwenke (Die Linke) sind Berufspolitiker und gleichzeitig Mitglieder des (ehrenamtlich arbeitenden) Kreistags.
„Wer im Landtag sitzt, macht mit Sicherheit keine gute Kreistagsarbeit“, sagt Jobst-Peter Brach, „ganz einfach, weil es da Interessenkonflikte gibt. Wir versuchen mit unserer Arbeit ja auch, uns gegenüber dem Land für die Kommunen einzusetzen, Druck auf das Land auszuüben.“
Aber was machen all die Berufspolitiker in den Ehrenämtern? Brach sagt, dass es für die Parteien einerseits schwierig sei, Leute zu finden, die dieses zeitaufwendige Ehrenamt machen wollten. Auf der anderen Seite sei der Kreistag für Berufspolitiker eine Möglichkeit, sich weiter zu profilieren. Und für die Parteien zähle natürlich auch der bekannte Name auf dem Wahlzettel.
Entschieden wird im Kreistag nur über zwei Prozent des Kreishaushalts
Neben der riesigen Fläche der Landkreise sehen Jobst-Peter Brach und Christian Bartelt das größte Problem für die Kreispolitik im fehlenden Handlungsspielraum. 450 Millionen Euro umfasst der Haushalt des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte. Davon müssten 98 Prozent für Pflichtausgaben aufgewendet werden, sagt Brach. Zumeist seien das Sozialleistungen wie Wohngeld, Leistungen nach SGB II oder Leistungen für Geflüchtete. Wirklich entschieden wird im Kreistag also nur über die verbleibenden zwei Prozent.
Das macht die Arbeit des Kreistags nicht unbedingt attraktiver. Um trotzdem mit ihrer Arbeit wahrgenommen zu werden, auch medial, gebe es die Angewohnheit vieler Kreistagspolitiker, Scheindebatten zu führen. „Da wird dann ein Antrag eingebracht, über den diskutiert wird, ohne dass das Problem, um das es geht, in unsere Zuständigkeit fällt“, sagt Brach. „Heraus kommen Appelle oder Resolutionen, die an sich wenig bewirken können.“
Das wirft noch mal ein anderes Licht auf die Statistik, nach der die Politiker in der Mecklenburgischen Seenplatte in sechs Jahren nur 98 Anträge in den Kreistag eingebracht haben. In Vorpommern-Greifswald waren es 273. Aber die Menge der Anträge sagt natürlich noch nichts über ihre Qualität aus. Marion Reiser ist Professorin für das Politische System der Bundesrepublik Deutschland in Jena. Sie hält die Menge der Anträge für einen spannenden, aber nicht hinreichenden Indikator. Klar könnte sie durch die Arbeitslast beeinflusst sein, allerdings gebe es auch Gegenbeispiele; Kommunen, in denen zum Beispiel die AfD-Fraktion eine Unmenge an Anträgen und Vorlagen einbringe und dadurch Parlamente an den Rand der Arbeitsfähigkeit bringe.
Antragszahlen hin oder her: Die Forscherin betont, dass es für ehrenamtlich arbeitende Lokalpolitiker und -politikerinnen in Städten und Kreisen mit großer Bevölkerungsdichte häufig schwierig sei, die gut besetzte hauptamtlich arbeitende Verwaltung zu kontrollieren. „Man kann plausibel annehmen, dass das in ähnlicher Form für flächenmäßig große Kreise zutrifft, die durch die Menge an Gemeinden und Themen, aber auch die langen Fahrtwege anders, aber eben auch überdurchschnittlich belastet sind“, sagt Reiser.
Um die Kommunalparlamente zu stärken, zahlen einige der größten Kommunen ihren Kommunalpolitikern mittlerweile eine so hohe Aufwandsentschädigung, dass diese ihre Erwerbstätigkeit deutlich reduzieren oder sogar aufgeben können. Anderswo werden den ehrenamtlichen Politikern stattdessen hauptamtliche Referentinnen und Referenten zur Seite gestellt. Im Stadtparlament von Frankfurt am Main hat eine große Fraktion zum Beispiel Anspruch auf bis zu zehn Hauptamtliche.
Ein Vergleich zwischen Frankfurt und der Mecklenburgischen Seenplatte hinkt natürlich auf so gut wie allen Ebenen: wirtschaftliche Prosperität, Größe, Aufgabenfülle – die Aufgaben eines Stadtparlaments sind andere als die eines Kreistags. Sich Gedanken darüber zu machen, wie Kreispolitik attraktiver werden würde, könnte sich aber gerade auch in den größten Landkreisen Deutschlands lohnen.
Nächste Kreistagssitzungen in MV:
Mecklenburgische Seenplatte: am 29.10.21 um 17 Uhr in Neubrandenburg, Haus der Kultur und Bildung
Vorpommern-Greifswald: am 6.12.21 um 16 Uhr in Pasewalk, Luisensaal, Kulturforum
Nordwestmecklenburg: am 9.12.21 um 17 Uhr in der Sporthalle des Gymnasiums Grevesmühlen
Vorpommern-Rügen: am 13.12.21 um 17 Uhr in Grimmen, Kulturhaus
Landkreis Rostock: am 14.12.21 um 16.30 Uhr, Fachhochschule Güstrow
Ludwigslust-Parchim: am 14.12.21 um 17 Uhr voraussichtlich in Parchim, Solitär