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Boizenburg im Jahr 2050

Kleinstadt neu gedacht

Moderne Kleinstädte sollen wirtschaftlich stabil sein, sozial vernetzt und attraktiv für Bürger und Touristen. Wie gelingt das? Sechs Studierende aus Hamburg entwickeln praxisnahe Visionen, wie das Boizenburg von morgen aussehen kann.

Lange war es nur ein Gerücht. Jetzt hängen die Worte „Räumungsverkauf wegen Geschäftsaufgabe“ in unübersehbar roten Lettern im Schaufenster. Mit dem Sportbekleidungs- und Spielzeuggeschäft Gumz und Mieck schließt einer der letzten inhabergeführten Einkaufsläden Boizenburgs. Die Kleinstadt sieht sich Herausforderungen gegenüber: wirtschaftlicher, aber auch sozialer und gesellschaftlicher Natur. Sechs Studierende der Hafencity-Universität Hamburg haben es sich nun zur Aufgabe gemacht, diese Herausforderungen zu analysieren und die Boizenburger zu fragen: „Wie sieht eure Stadt im Jahr 2050 aus?“

Es ist genau diese Frage, die den sechs Studierenden des Masterstudiengangs Stadtplanung seit drei Monaten durch den Kopf geht. Denn im Rahmen ihres Semesterprojekts wollen sie herausfinden, wie das Boizenburg von morgen aussehen kann. „Wir wollen versuchen, einen Weg zu finden, wie man praxis- und bürgernah eine Art Vision erarbeiten kann, wie sich Regionen weiterentwickeln können. Wir wollen weg von diesen sehr trockenen und theoretischen Konzepten“, sagt Bentje Büttner, eine der Studierenden.

Mangel an Treffpunkten

Dafür haben sie Daten und Fakten rund um die Stadt gesammelt, vor allem jedoch das Gespräch mit Stadtvertreter:innen und Bürger:innen gesucht. Aber warum gerade Boizenburg? „Das Spannende an Boizenburg war für uns, dass es nah an Hamburg liegt und eine Region ist, die sehr ländlich wirkt, deren Bevölkerung jedoch wächst. Wir hatten das Gefühl, dass es vor Ort durchaus zivilgesellschaftliches Engagement und ein politisches Interesse daran gibt, in der Stadt etwas zu bewegen“, erläutert Büttner. Boizenburgs Bürgermeister Rico Reichelt (Die Linke) versteht das Interesse an seiner Stadt gut: „Ich finde die besondere Lage Boizenburgs im Dreiländereck ganz spannend. Es ist relativ gut erreichbar. Und es ist eine Region, die schon mehrere Transformationen erlebt hat, viele Umbrüche“, sagt er.

Eine Entwicklung, die darf es gerne wieder geben – zumindest wenn es nach den Boizenburger:innen geht, die mit den Studierenden ins Gespräch kommen. „Wir merken, dass der Wunsch der Bürger da ist, sich aktiv an der Stadtgestaltung zu beteiligen. Inhaltlich war ein großer Punkt, dass es einen extremen Mangel an Treffpunkten gibt“, sagt der Student Gereon Wahl.

Anfang Februar, Seminarraum 2.104 in der Hafencity-Universität. Tessa Zunker, eine der sechs Studierenden, drückt auf den kleinen Knopf der Fernbedienung, damit Zahlen wie „11.500 Menschen“ und „47 Quadratkilometer Fläche“ an die Wand projiziert werden. Eine Region mit Charakter heißt der Titel der Präsentation, die nun auf die Stärken und Schwächen der Stadt eingeht.

Multis für eine bessere Vernetzung

Es gebe viel soziales Engagement in Boizenburg, sehr viele Vereine. Und auch die Bevölkerungsentwicklung sei positiv. Boizenburg wachse, nicht zuletzt wegen seiner guten überregionalen Erreichbarkeit.

Doch es gibt auch Schwächen: Die Stadt im äußersten Westen von MV habe eine hohe Zahl an Erwerbslosen und eine geringe Kaufkraft. Im Zusammenspiel mit dem steigenden Onlinehandel könne das dazu führen, dass die Innenstadt zu einer Schlafstadt verkomme. Auch eine mangelhafte ärztliche Versorgung kritisieren die Studierenden. Außerdem fehle es an Treffpunkten und Koordination für mehr bürgerschaftliches Engagement. Hier setzt eine der studentischen Visionen an: die Einführung von multifunktionalen und nutzungsoffenen Räumen. „Wir haben sie Multis genannt“, sagt Wahl.

Sieben solcher Multis, so die Vision, könnten in der Region etabliert werden. „Sie haben alle dasselbe Grundgerüst: Sanitäranlagen, eine Küche und Sitzmobiliar – doch können individuell erweitert werden“, erklärt der Student. Über zwei Ringbuslinien würden die Multis miteinander verbunden werden, um „den regionalen Austausch und Zusammenhalt zu verbessern“. Die Multis sollen Orte für Veranstaltungen sein, Vereinstreffen, Workshops, Feiern, aber auch ärztliche Sprechstunden und „was den Bewohnern eben so einfällt“.

Neue Zukunft für alte Werft

Eine zweite Idee der angehenden Stadtplaner verbindet Zukunft mit Historie. „Wir haben festgestellt, dass die ehemalige Elbewerft Boizenburg vielen Bürgern, auch historisch bedingt, am Herzen liegt. Viele wünschen sich, dass es dort eine Entwicklung gibt“, berichtet Tessa Zunker. Denn wo einst die großen Kähne gebaut wurden, stehen nach dem Konkurs der Werft im Jahr 1997 die Hallen heute weitestgehend leer. Das muss nicht so bleiben, finden die Studierenden. Man könne die ehemalige Werft zum Beispiel als nutzungsgemischtes und standortgerechtes Quartier umgestalten. „Boizenburg hat mit dem Fliesenwerk und der einstigen Werft Meilensteine im Handwerk gesetzt. Diesen Charakter wollen wir ganz bewusst für die Region stärken“, sagt Zunker.

Ein verkehrsberuhigtes Quartier mit Wohnungen und handwerklicher Nutzung, mit Freizeitangeboten und Bildungseinrichtungen schwebt den Studierenden vor. Von einer Kunsthandwerkermeile über eine Schule für maritimes Handwerk reichen dabei die Visionen. Aber auch ein Handwerkszentrum mit Möglichkeiten für Tauschcafés oder Tauschbörsen sowie individuelle Veranstaltungen wie Flohmärkte zieht das Team in Betracht. „In diesem Quartier sollen die vielfältigen Handwerke der Bevölkerung und den Touristen transparent gemacht werden, und es fungiert gleichzeitig als eine besondere Attraktion der Stadt“, beschreibt Zunker die Idee.

Visionen von heute als Pläne für morgen

Es sind nur zwei von vielen Visionen, die das Team für Boizenburg entwickelt hat. „Eine Region mit Charakter, das bedeutet für uns, dass jede Generation willkommen ist, dass die Region gut vernetzt ist und auf sanften Tourismus setzt. Wichtig ist, die Bevölkerung vor Ort mitzunehmen, sodass die Vision von den Bürgern mitgetragen werden kann“, erklärt Gereon Wahl. Der Projektbericht ist mittlerweile fertig. Innerhalb der nächsten zwei Wochen soll er den Stadtvertreter:innen vorgelegt werden.

„Wir erwarten nicht, dass alles, was wir hier entworfen haben, direkt in die Tat umgesetzt wird. Aber wir wünschen uns, dass einige der Ideen vor Ort Früchte tragen“, sagt die Studentin Büttner. Bürgermeister Reichelt ist gespannt auf die Ergebnisse der Studierenden: „Ein Blick von außen ist immer gut, lieber einmal zu viel als zu wenig, und ab einem gewissen Semester ist bei den Studierenden durchaus Fachexpertise vorhanden“, sagt er. In einem Punkt gibt es jedenfalls jetzt schon neue Entwicklungen.

Vor Kurzem tauschten sich alle Veranstalter Boizenburgs gemeinsam über ihre Aktionen des Jahres aus. „Das haben wir in dieser Form das erste Mal so gemacht“, sagt Reichelt. Und siehe da: Den diesjährigen Laternenumzug richten der Angelverein und die Kirchengemeinde erstmals gemeinsam aus. „Das ist der Vorteil, den eine Kleinstadt hat. Man weiß viel schneller, wer die anderen Akteure sind. Das müssen wir nutzen“, so Reichelt.

Quellen

  1. Bürgerbefragung der Studiengruppe am 10./11.12.2022.
  2. Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern (Hg.): Bevölkerungsentwicklung der Kreise und Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern (Faktoren der Bevölkerungsentwicklung) 2012, auf: laiv-mv.de (30.11.2022).
  3. Bundesagentur für Arbeit (Hg.): Arbeitsmarkt kommunal – Gemeindeverbände und Gemeinden (Jahreszahlen), auf: statistik.arbeitsagentur.de (30.11.2022).
  4. Interview der Studiengruppe mit Bürgermeister Rico Reichelt (2022).
  5. Bürgerbefragung der Studiengruppe am 10./11.12.2022.
  6. Höll, Rainer: Boizenburg Elbe Fliesenstadt: Tradition, Geschichten, Zukunft, S. 76 (2022).

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