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Daten zum Unterrichtsausfall

Krankheitswelle setzt dem System Schule zu

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Lesedauer: ca. 7 Minuten

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Nachdem das Schuljahr 2022/23 bereits seit einem halben Jahr Geschichte ist, hat das Bildungsministerium am Mittwoch endlich die lang erwarteten Daten zum Unterrichtsausfall an MVs Schulen veröffentlicht. Aus ihnen geht hervor, dass zwischen August 2022 und Juli 2023 3,7 Prozent des Unterrichts an den allgemeinbildenden Schulen (ABS) – das waren final 319.959 Unterrichtsstunden – ganz ausfielen, an den beruflichen Schulen (BLS) waren es 7,8 Prozent, was 78.697 Stunden entspricht. Vertreten werden mussten an den ABS in MV insgesamt über 8,5 Millionen Stunden, an den BLS über eine Million. Zum Vergleich: Im letzten Erhebungszeitraum davor, dem Schuljahr 2018/19, fielen 2,4 beziehungsweise 6,9 Prozent der Stunden aus.

Am stärksten vom Unterrichtsausfall betroffen waren die Gesamtschulen. Hier mussten am häufigsten Vertretungsstunden ausfallen, da eine Vertretung nicht abgesichert werden konnte. Mit Abstand den wenigsten Ausfall gab es an den Gymnasien im Land. Dort fielen aber auch insgesamt die wenigsten Stunden zur Vertretung an.

Eigentlich sollten erste Zahlen dazu schon nach Ende des ersten Halbjahrs – Ende März 2023 – vorliegen. Doch das Ministerium entschied im Laufe des Jahres, die Daten nur noch zum Schuljahresende zu erheben. Der Prozess sei mit sehr viel Aufwand für die Schulen verbunden. Sich nur noch einmal im Jahr damit beschäftigen zu müssen, würde dort auf Zustimmung stoßen, begründete die Ministerin jetzt den Schritt. Im Juni hieß es deshalb, dass die entsprechende Jahresstatistik „zu Beginn des vierten Quartals 2023“ öffentlich werden solle. Anfang November rückte der Termin dann auf „voraussichtlich Anfang 2024“.

Die Opposition zeigte sich unzufrieden mit der späten Veröffentlichung der Ergebnisse. „Warum hat man diese wertvollen Monate verstreichen lassen? Eine Haushaltsberatung wurde deshalb nicht genutzt“, schreibt der Bildungspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Torsten Renz, auf Nachfrage. Noch dazu habe er als Abgeordneter mehrfach durch Kleine Anfragen versucht, an die entsprechenden Informationen und Daten zu kommen. Dass ihm eine Antwort verweigert wurde, sehe er vor dem Hintergrund seines Informationsrechts als Abgeordneter kritisch.

Krankheit als Hauptursache für mehr Unterrichtsausfall

Unabhängig von der langen Wartezeit stellt sich mit Blick auf die Zahlen nun die Frage, warum im vergangenen Schuljahr mehr Unterricht ausfiel, als dies noch vor Corona der Fall war. Ministerin Simone Oldenburg (Linke) hat dafür drei Gründe ausgemacht, wie sie am Dienstag erklärte.
So schlage natürlich der Lehrkräftemangel zu Buche. Als viel gravierender schätzte sie allerdings die gestiegene Zahl an Erkrankungen bei Lehrer:innen und deren Kindern ein. Auch vor den Schulen hätten die von den Krankenkassen und amtlichen Statistiken erfassten Rekordwerte beim Krankenstand nicht haltgemacht. Unter den Ursachen für den Unterrichtsausfall seien Erkrankungen bei Lehrkräften an den ABS um 45 Prozent gestiegen. An den BLS schnellten die Erkrankungen bei den Kindern der Lehrkräfte sogar um 200 Prozent nach oben.

GEW: „Strukturelle Unterbesetzung“

Natürlich gebe es zwischen den Erkrankungen, den damit verbundenen Ausfallstunden und dem Lehrkräftemangel, der auch MV betrifft, einen Zusammenhang, erklärte die Ministerin auf Nachfrage. Gäbe es mehr Personal an den Schulen, könnten solche krankheitsbedingten Ausfälle besser kompensiert werden. Damit gibt Oldenburg der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) recht. Deren Landesverband forderte bereits zu Beginn des vergangenen Jahres, den Stellenbedarf an den Schulen realistischer einzuschätzen. So seien bei der Planung zum Beispiel auch Krankheiten nicht hinreichend eingepreist. Damals forderte die Gewerkschaft eine Abdeckung von 107 Prozent. Der Landeselternrat zielt in dieselbe Richtung – 110 bis 115 Prozent sollten angestrebt werden, so der Vorsitzende Kay Czerwinski.

Oldenburg spricht bezüglich der aktuellen Planung des Landes von 103 Prozent. Gerne sehe sie auch einen noch höheren Wert. Aufgrund des Lehrer:innenmangels könne aber nicht mit mehr geplant werden. Czerwinski lobt die Ministerin für diese transparente und ehrliche Aussage. Dem Landeselternrat gehe es aber vor allem um eine Langfristperspektive, um dem Mangel an Lehrkräften im Land zu begegnen. Immerhin würden jetzt eingeleitete Maßnahmen auch erst in einigen Jahren Wirkung zeigen, so Czerwinski.

Als Reaktion auf die vom Bildungsministerium veröffentlichten Zahlen unterstreicht die GEW MV in einer ersten Stellungnahme die „strukturelle Unterbesetzung“ an den Schulen. Dieses System habe der immensen Krankheitswelle daher nichts entgegenzusetzen gehabt. Wie groß die eigentlich zu schließende Lücke ist, darauf gibt laut GEW der letztjährige Länderfinanzbericht des Landesrechnungshofs einen Hinweis. Darin beschäftigt sich die Behörde unter anderem mit der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Landes. Auch die Stellenbesetzungen im Bereich des Bildungsministeriums sind Thema. Der Landesrechnungshof bescheinigt dem Ministerium einen seit 2020 rückläufigen Trend bei der „Stellenbesetzung bei den Lehrkräften“. Im Jahr 2022 waren im Durchschnitt 94,7 Prozent der Stellen besetzt. Angesichts der Annahme der Behörde, dass „eine Unterbesetzung von bis zu 5 Prozent (...) kein Risiko für die Aufgabenwahrnehmung darstellt und daher hinnehmbar ist“, gebe die Entwicklung „Anlass zur Sorge“, heißt es weiter.

Ohne Mehrarbeit und Überstunden läuft’s nicht

Wie lang der Weg rein in den, wie es der Landesrechnungshof ausdrückt, „tolerierbaren Bereich“ ist, darauf gibt das Bildungsministerium Hinweise. Obwohl in MV an den zwei Universitäten Lehrkräfte ausgebildet würden, beendeten für den Bedarf, den es an den Schulen gebe, „viel zu wenige“ ihr Studium, erklärte Oldenburg am Dienstag. Die Lücke, die gefüllt werden müsse, sei 400 bis 500 Personen groß. Die Frage, wie viele Stellen derzeit offen sind, könne sie eigentlich nicht beantworten, überlegt Oldenburg. Dann gibt sie aber doch noch eine Schätzung ab – „lassen Sie es zwischen 30 und 40 Stellen sein“.

Die „Leidtragenden“ dieses Mangels und des durch so viele Erkrankungen ausgelösten zusätzlichen Unterrichtsausfalls seien Schüler:innen und Lehrkräfte, unterstreicht die GEW. Sie hätten mit einem „unglaublichen Kraftakt der Mehrarbeit“ dafür gesorgt, dass nicht noch mehr Stunden ausfielen. Das belegt auch die Statistik des Bildungsministeriums. So konnte ein großer Teil der Ausfälle durch „Mehrarbeit/Überstunden tätiger Lehrkräfte“ aufgefangen werden. Dass dies vor dem Hintergrund der in den vergangenen Jahren ohnehin gestiegenen Arbeitsbelastung von Lehrkräften geschieht, darauf weist etwa Torsten Renz hin. Auch KATAPULT MV hat darüber bereits berichtet.
Entsprechend notwendig und verdient ist der Dank der Ministerin an die Lehrkräfte. Auch mit Blick darauf, dass im betrachteten Schuljahr noch über 5.000 Schüler:innen aus der Ukraine beschult werden mussten, wofür 272 Lehrkräfte zusätzlich eingestellt wurden.

Die Baustelle Bildung

Notwendig erscheint vor dem Hintergrund der Daten, aber auch der allgemein bekannten Situation an den Schulen, auch weiterhin ein Maßnahmenprogramm, welches den Unterricht im Land nachhaltig absichert. Wie die Lage sich darstelle, sei bereits seit 30 Jahren bekannt. „Wir haben kein Erkenntnisproblem“, formuliert Kay Czerwinski vom Landeselternrat. Dass das so ist, zeigt das Bildungsministerium und hat mit der Veröffentlichung der Statistik gleich verschiedene Maßnahmen mitgeliefert. So sollen nach Wunsch des Ministeriums zum Beispiel externe Vertretungskräfte über die Dauer von sechs Wochen beziehungsweise sechs Monaten hinaus an den Schulen beschäftigt werden dürfen. Und – wie es zu Corona-Zeiten schon einmal gewesen war – Vertretungskräfte könnten auch ohne Ausschreibung eingestellt werden. Weiterhin wolle man die Attraktivität des Referendariats steigern. So sollen Referendar:innen, die ihre Prüfungen erfolgreich beendet haben, bereits im folgenden Monat als normale Lehrkraft an den Schulen anfangen können.

Wann diese Maßnahmen messbare Wirkung zeigen, ist offen. Die neue Regelung für das Referendariat wird zumindest erst dem Durchgang ab August 2024 zugute kommen. Die GEW gibt sich auf kurze Sicht pessimistisch: An der Mehrarbeit für Lehrkräfte werde sich aufgrund des Personalmangels „auf absehbare Zeit nichts ändern“. CDU-Politiker Renz formuliert es drastischer: „Insgesamt sind dies keine Lösungen, die diesen enormen Anstieg an Ausfallstunden auch nur irgendwie eindämmen können.“ Vielmehr seien manche Handlungsvorschläge – etwa die Veränderung beim Referendariat – weniger „Reaktion auf die Zahlen, sondern eine grundsätzliche Planung“. Aus seiner Sicht müsste zum Beispiel ein Augenmerk auf die Senkung der Unterrichtsverpflichtung der Lehrkräfte gelegt werden. Und auch die Lehre an den regionalen Schulen müsste, etwa durch eine bessere Ausstattung, attraktiver gestaltet werden.

Dass über solche (auch wortwörtlichen) Baustellen an den Schulen – marode Schulbauten, Zustand der Sanitäreinrichtungen oder der Schüler:innenverkehr – damit noch gar nicht gesprochen ist, zeigt, wie viel Nachholbedarf der Bildungsbereich in MV sowieso hat. Wie diese „Daseinsfürsorge“ zukünftig besser organisiert und mit Ressourcen ausgestattet werden könnte, dazu müsse es endlich einen parteiübergreifenden Bildungskonsens geben, fordert Kay Czerwinski. Doch das nur am Rande.

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Fußnoten

  1. In der Angabe des Bildungsministeriums von 3,6 Prozent Unterrichtsausfall sind die 0,1 Prozent Ausfall aufgrund von Hochwasser nicht eingerechnet.
  2. Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung MV (Hg.): Zahlenwerk zur Statistik zum Vertretungsunterricht und Unterrichtsausfall für das Schuljahr 2022/2023 nach Schularten und insgesamt, S. 2 und 4.
  3. Erfassung des Vertretungsunterrichts und des Unterrichtsausfalls, auf: service.mvnet.de.
  4. E-Mail des Ministeriums für Bildung und Kindertagesförderung MV vom 9.3.2023.
  5. E-Mail des Ministeriums für Bildung und Kindertagesförderung MV vom 20.6.2023.
  6. E-Mail des Ministeriums für Bildung und Kindertagesförderung MV vom 9.11.2023.
  7.  E-Mail der CDU-Landtagsfraktion MV vom 29.2.2024.
  8. Telefonat mit Kay Czerwinski am 29.2.2024.
  9. E-Mail der GEW MV vom 28.2.2024.
  10. Landesrechnungshof MV (Hg.): Jahresbericht 2023. Teil 1 – Landesfinanzbericht, S. 1 (Oktober 2023).
  11. Ebd., S. 22-23.
  12. Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung MV (Hg.): Zahlenwerk zur Statistik zum Vertretungsunterricht und Unterrichtsausfall für das Schuljahr 2022/2023 nach Schularten und insgesamt, S. 3.
  13. E-Mail des Ministeriums für Bildung und Kindertagesförderung MV vom 29.2.2024.

Autor:innen

Redakteurin bei KATAPULT MV.

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