Rostocks Oberbürgermeister Madsen

Dänen lügen nicht? Der große Realitätscheck!

Als hipper Typ mit Vollbart und Kapuzenpulli zog Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen vor über zwei Jahren ins Rostocker Rathaus ein und wollte nicht weniger als Stadt, Verwaltung und Politik umkrempeln. Dann kam die Realität. Eine Zwischenbilanz.

Mit 68 Wahlversprechen zog Claus Ruhe Madsen (parteilos) im September 2019 als erster ausländischer Oberbürgermeister (OB) einer deutschen Großstadt in das rosa Rathaus. Der Däne wollte als Chef der Stadtverwaltung viel verändern. „Mit zahlreichen Ideen und Plänen für eine ‚smarte Stadt‘ bin ich vor zwei Jahren als Oberbürgermeister angetreten“, sagt Madsen rückblickend. Nicht nur im Bereich der Wirtschaft – dem Fachgebiet des Möbelunternehmers und ehemaligen Präsidenten der Rostocker Industrie- und Handelskammer (IHK). Sondern auch in Bezug auf Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit hatte er Großes mit Rostock vor. Sein Wahlkampfmotto: Gestalten statt Verwalten. Es wurde sogar gemutmaßt, Madsens Wahl könnte „als Lehrstück für eine bessere Politik in die Geschichte eingehen“. Seitdem sind mehr als zwei Jahre vergangen. Was ist geblieben von Aufbruchstimmung und Vorschusslorbeeren?

Umwelt

„Ich wünsche mir, dass Rostock als Stadt an Fluss und Meer eine Vorreiterrolle im Bereich Natur- und Umweltschutz einnimmt“, hieß es auf seiner Wahlkampfseite madsen-waehlen.de. Er kündigte an, Einwegplastik zu vermeiden und auf umweltschonende Alternativen zu setzen. Noch während des Wahlkampfes Anfang 2019 schrieb Rostock fest, dass in kommunalen Einrichtungen und bei städtischen Veranstaltungen kein Einwegplastik angeboten werden darf. Auch Mehrwegbecher wurden zum ersten Mal auf der Hanse-Sail 2019 angeboten – ein paar Wochen vor Madsens Amtsantritt.

Ein Mehrwegpfandsystem hat die Stadt mithilfe der Initiative „Plastikfreie Stadt“ und jährlich 30.000 Euro mittlerweile realisieren können. Dieses Jahr soll eine „Plastikinventur“ in der Stadtverwaltung zeigen, wo weitere Ressourcen gespart werden können. Der Gründer der Initiative, Samuel Drews, gibt Madsen für die Umsetzung seiner Wahlversprechen die Schulnote Zwei. „In dem Wissen, dass eine Eins eigentlich unerreichbar ist.“ Starre Strukturen in etablierten Systemen wie einer Stadtverwaltung würden Veränderungen oft hemmen. „Aber auch hier sehe ich die Ambitionen von Madsen, Hemmungen abzubauen“, räumt Drews ein.

Was Madsen nach seinem Amtsantritt schnell durchgesetzt hat: Im Rathaus wird auf Veranstaltungen nur noch vegetarische Verpflegung angeboten. Aber reicht das für eine Vorreiterrolle im Natur- und Umweltschutz? Hannes Scharen von „Rostock for Future“ kritisiert, dass Madsen „eigentlich wichtige Klimaschutzmaßnahmen gar nicht im Programm gehabt hat“: Erneuerbare Energien, Wärmewende und das Abschalten des Rostocker Kohlekraftwerkes fänden sich gar nicht im Wahlprogramm. Im entscheidenden Moment habe er sich außerdem gegen das vorzeitige Abschalten des Kraftwerks positioniert.

Verkehr und Infrastruktur

Madsen plante, den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) e-mobil zu machen. Mittlerweile fahren eine Elektrofähre zwischen Gehlsdorf und Stadthafen, die ersten E-Busse durch das Ostseebad Warnemünde und 2.000 E-Roller von vier Verleihfirmen durch die ganze Stadt. Doch ob diese umweltschonend sind, ist mindestens umstritten: Gemietete Elektroscooter stoßen einer Studie zufolge mehr CO₂ aus als die Verkehrsmittel, die sie ersetzen. Auch der im Sommer versprochene kostenlose Nahverkehr zwischen Rostock und Warnemünde wurde nicht realisiert. Zumindest machte der OB den öffentlichen Nahverkehr in ganz Rostock an vier Samstagen im September 2020 kostenlos.

Außerdem kommt der Ausbau der Elektroladesäulen nicht voran. Hannes Scharen von Rostock for Future nennt das Pilotprojekt zu drei sogenannten Mobilpunkten in der Kröpeliner-Tor-Vorstadt (KTV) mit jeweils einem Lastenrad sowie Carsharing-Auto „symbolisch“. Auch die Fahrradinitiative Radentscheid Rostock kritisiert den fehlenden Ausbau dieser Mobilpunkte.

Großes Wahlkampfthema von OB Madsen war „Fahrradstadt Rostock“ nach dem Vorbild seiner Heimatstadt Kopenhagen. Im September 2019 beauftragte die Bürgerschaft den OB, die zehn Ziele des Radentscheids umzusetzen. Dazu gehören insbesondere mehr sichere Radwege. „Entgegen der klaren Zielsetzung der politischen Parteien und des Oberbürgermeisters Claus Ruhe Madsen zeigen die Zahlen, dass seit 2018 in der Summe kein Meter Radweg hinzugekommen ist“, sagt Marie Heidenreich von der Fahrradinitiative. Außerdem fühlen sich einer Umfrage zufolge Radler:innen in Rostock unsicherer als noch 2016. Auch Hannes Scharen resümiert: „Madsen bleibt insbesondere im Radverkehr weit hinter seinen Versprechen zurück.“

Doch es gibt kleine Experimente in Richtung Fahrradstadt: Im Mai soll das Problemkind der Rostocker Fahrradstrecken, die Lange Straße, testweise zu einer Fahrradstraße umfunktioniert werden.

„Eigens für das Ziel nachhaltiger Fortbewegungsmöglichkeiten wurden das Amt für Mobilität sowie die Fastlane Fahrradstadt in der Rostocker Stadtverwaltung geschaffen“, heißt es von Madsen. Das neue Amt hat beispielsweise im letzten Jahr den Verkehrsversuch Sommerstraße am Brink durchgeführt: Die Straße wurde in den Sommermonaten für Autos gesperrt, die Lokale konnten so ihre Außenbereiche vergrößern.

Außerdem sind die ersten Meter des Radschnellwegs mittlerweile befahrbar, der irgendwann einmal Rostock mit Warnemünde verbinden soll. Geplant ist dieser allerdings schon lange. Sehr lange: „Das Radschnellwegekonzept wurde 2013 beschlossen, 2019 wurde mit den Arbeiten begonnen, 2030 werden sie vielleicht abgeschlossen. Das ist ein Offenbarungseid der Verwaltung und der Parteien“, sagt Sophia Rabien vom Radentscheid. Und ihre Mitstreiterin Marie Heidenreich resümiert: „All das hatte bisher noch keine sichtbaren Verbesserungen für den Radverkehr zur Folge.“ Aber: „Wir nehmen wahr, dass er sich das Thema nun stärker auf den eigenen Schreibtisch geholt hat. Die ersten Jahre waren für ihn lehrreich, für uns enttäuschend.“

Hannes Scharen räumt ein: „Dennoch ist es schwierig, dem Oberbürgermeister allein ein Versagen vorzuwerfen.“ Stadtverwaltung und kommunale Unternehmen stellten sich als „rückwärtsgewandte Bremser“ heraus: Verkehrsplaner:innen, die keine Notwendigkeit für Radverkehr sehen, die Rostocker Stadtwerke, die Ladeinfrastruktur für E-Autos nicht ernst nehmen, und Rostock Port, der anstelle eines Windparks ein intaktes Moor überbauen will.

Digitalisierung

Zur Vorreiterstadt für Digitalisierung wollte Madsen Rostock machen. Durch ein Onlineportal für Bürger:innen sollten alle Behördengänge und Beteiligungsverfahren papierlos von zu Hause aus durchgeführt werden können. Das lässt noch auf sich warten. Genauso wie freies WLAN in allen Stadtteilen, am Strand und in den öffentlichen Verkehrsmitteln oder ein städtisches Unternehmen zur Unterstützung von Schulen, Verwaltung und Geschäften bei der Digitalisierung.

Doch Rostock wurde 2020 als Modellstadt „Smart Cities made in Germany“ ausgewählt und erhält knapp acht Millionen Euro Bundesförderung für die Umsetzung eines Konzepts, das Madsen kurzerhand zur „Smile City“ erklärt hat: Smarte Lösungen sollen die Rostocker:innen glücklicher, die Stadt lebenswerter machen.

Seine Vorliebe für digitale Lösungen konnte er vor einem Jahr ausleben. Da saß er nicht nur regelmäßig in namhaften Talkshows, um das Phänomen der niedrigen Inzidenzen in seiner Stadt zu erklären. Er wollte Rostock auch zur Modellstadt für Öffnungen während des Lockdowns der dritten Welle machen. Und zwar mit einer App zur digitalen Kontaktnachverfolgung, außerdem mit regelmäßigen Tests an Schulen sowie einem Ampelsystem, das sich neben den Inzidenzen an weiteren Werten wie Krankenhausauslastung und Anteil von Virusmutationen orientiert.

Kommt uns das heute nicht alles sehr bekannt vor? Zugegeben: Die Luca-App wird von den Gesundheitsämtern in MV kaum genutzt – vom Datenschutz und gelegentlichen Missbrauch durch Polizeibehörden ganz zu schweigen. Und die Ampel leuchtet mittlerweile nicht nur grün, orange oder rot, sondern auch mal dunkelorange oder rot-plus. Doch ein Wahlversprechen zur Digitalisierung konnte Madsen 2021 einlösen: Die ersten E-Sports-Stadtmeisterschaften fanden statt und sollen auch dieses Jahr wieder durchgeführt werden.

Soziales

Aus Madsens angepriesenen Tiny House Parks als Alternative für bezahlbaren Wohnraum ist bisher noch nichts geworden. Auch das neue Gebäude für die muslimische Gemeinde lässt auf sich warten. Zudem ist mittlerweile nicht mehr der aktuelle Standort, die Erich-Schlesinger-Straße, im Gespräch, sondern der Grote Pohl. Doch finale Zusagen der Stadt gibt es für den Islamischen Bund dazu noch nicht. Schon seit Jahren sucht die Gemeinde nach neuen Gebetsräumen. Bisher sind alle Deals gescheitert, am Geld und am Widerstand der AfD.

Seit Ende vergangenen Jahres gibt es die versprochene Tierkümmerin: Maxi Voß kümmert sich um Fragen, Sorgen und Probleme von Rostocker:innen und ihren Haustieren. Damit ist Voß die erste Tierkümmerin in Deutschland.

Bei zwei weiteren Wahlkampfzusagen spielte OB Madsen die Pandemie in die Hände: Er wollte den Stadthafen „hyggeliger“ – gemütlicher und menschenfreundlicher – gestalten, durch Spiel- und Sportplätze, Grünflächen, eine Open-Air-Bühne, Grillplätze und öffentliche Toiletten. Corona und Tausenden feierwütigen Jugendlichen sei Dank wurden Letztere im vergangenen Sommer realisiert. Und auch der Plan eines Open-Air-Kinos im IGA-Park wurde in die Tat umgesetzt. Zumindest einen Sommer lang im Jahr 2020.

Bessere Kommunikation

Doch insbesondere an der Kommunikation innerhalb der Bürgerschaft haperte es mitunter. So hatte Madsen – ein halbes Jahr im Amt – zu Beginn des ersten Corona-Lockdowns im Alleingang die Ämter im Rathaus umstrukturiert, im Mai 2020 beschlossen, das Petritor doch nicht wieder aufzubauen und im letzten Sommer das von der Bürgerschaft beschlossene Auftrittsverbot von Xavier Naidoo in der Stadthalle hinterrücks torpediert. Und auch als er die Bürgerschaft in seine Entscheidungen über die Priorisierung von Großinvestitionen einbeziehen wollte, stellte diese auf Stur und machte nicht mit.

Andererseits kam der OB auf Veranstaltungen gelegentlich mit den Bürger:innen direkt ins Gespräch und schuf eigens dafür eine Koordinierungsstelle für Bürgerbeteiligung. Und eigenen Angaben zufolge rede man innerhalb der Verwaltung nun mehr miteinander. Und alle würden sich seit seinem Amtsantritt duzen.

Es freut mich, dass wir viele Projekte bereits umsetzen konnten – und das trotz der Corona-Pandemie. Sie zeigen eine Entwicklung, die mich als Oberbürgermeister sehr stolz macht. Den ersten Anstoß haben wir gemacht, jetzt gilt es dranzubleiben.

Claus Ruhe Madsen, Oberbürgermeister Rostock

Redakteurin Victoria Flägel findet:

Claus Ruhe Madsen hat im Wahlkampf viel versprochen. Umsetzen konnte er noch nicht viel. Doch gerade die ganz großen Versprechen wie eine digitale Verwaltung, ein sicheres Radwegenetz und eine „menschenfreundlichere Stadt“ lassen sich nur schwer in zwei Jahren umsetzen, dafür braucht es Geduld. Und „Ruhe“ ist doch sein zweiter Vorname.

Quellen

  1. madsen-waehlen.de.
  2. Casdorff, Stephan-Andreas: Dänen lügen nicht, auf: tagesspiegel.de (10.6.2019).
  3. facebook.com/HanseSail/.
  4. Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): Gurken-Gate im Rathaus? – Bei Empfängen künftig Brezeln statt Bouletten, auf: rathaus.rostock.de (19.12.2019).
  5. Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): Stellungnahme – 2021/AN/1864-02 (SN), auf: ksd.rostock.de (20.4.2021).
  6. Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): Neue Regeln für Elektro-Tretroller – LIME legt Winterpause ein, auf: rathaus.rostock.de (28.1.2022).
  7. Reck, Daniel J. u.a.: Mode choice, substitution patterns and environmental impacts of shared and personal micro-mobilty, auf: sciencedirect.com (Januar 2022).
  8. Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): Kostenfreie Samstage im September in Rostock, auf: rathaus.rostock.de (2.9.2020).
  9. Radentscheid Rostock (Hg.): Ziele, auf: radentscheid-rostock.de.
  10. Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): Sicherheitsgefühl im Straßenverkehr bei Radfahrenden gesunken, auf: rathaus.rostock.de (25.10.2021).
  11. Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): Modellprojekt Lange Straße – Fahrradstraße, auf: rathaus.rostock.de (27.1.2022).
  12. Das Fastlane-Team (von englisch „Überholspur“) beschäftigt sich ämterübergreifend mit der Umsetzung von Radverkehrsprojekten, um das Projekt Fahrradstadt schneller voranzubringen.
  13. Menzel, Stefan: Ausweg aus dem Corona-Lockdown: OB Madsen stellt Pläne für Rostock als Modellstadt vor, auf: svz.de (23.2.2021).
  14. Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): Höhepunkte des Jahres 2021 in Rostock – Eine Auswahl, auf: rathaus.rostock.de (21.12.2021).
  15. Meyer, Andreas: Neue Pläne für Moschee in Rostock: Hier soll sie gebaut werden, auf: ostsee-zeitung.de (19.4.2021).
  16. Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): Rostock begrüßt neue „Tierkümmerin“, auf: rathaus.rostock.de (2.12.2021).
  17. Flägel, Victoria: Autokino im IGA-Park bleibt geschlossen, auf: svz.de (13.10.2020).
  18. Zimmer, Katrin: Madsen strukturiert Ämter in der Corona-Krise um, auf: svz.de (27.3.2020).
  19. Menzel, Stefan: Nächster Alleingang: Madsen streicht Petritor, auf: svz.de (1.5.2020).
  20. NDR (Hg.): Rostock: Keine Bürgerschaftsmehrheit gegen Naidoo-Auftritt, auf: ndr.de (16.6.2021).
  21. Zimmer, Katrin: Madsens Prioritätenliste von der Bürgerschaft zerrissen, auf: svz.de (23.6.2020).
  22. Eggert, Ingo: „Ich fühle mich manchmal wie eine menschliche E-Mail“, auf: brandeins.de (November 2019).

Autor:in

  • Bild von KATAPULT MV Redakeurin Victoria Flägel

    Redakteurin in Rostock

    Geboren in Rostock. Aufgewachsen in Rostock. Studierte in Rostock. Und Kiel.