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Interview mit argentinischem Gastprofessor

„Milei ist ein Vorbild der globalen Rechten“

Der Soziologe Nicolás Welschinger von der Nationaluniversität La Plata gastierte bis Ende 2024 an der Uni Rostock. Er forscht zur Neuen Rechten in Argentinien und Lateinamerika. Dabei konzentriert er sich besonders auf den libertären argentinischen Präsidenten Javier Milei. Im Gespräch mit KATAPULT MV berichtet Welschinger über Mileis Aufstieg, die Versäumnisse der etablierten Parteien und was die deutsche Politik daraus lernen kann.

KATAPULT MV: Javier Milei bezeichnet sich selbst als ersten libertären Präsidenten der Welt. Viele politische Beobachter teilen diese Einschätzung. Was bedeutet das?

Nicolás Welschinger: Mileis libertäre Vision ruht auf drei Säulen. Für ihn ist der Staat eine kriminelle Organisation, die in ihrer Konzeption grundlegend verändert werden muss. Öffentlicher Dienst, Politik, Bildung, Gesundheitssystem, Verkehr und sogar das Meer sollen privatisiert werden. Dieser radikale Blick richtet sich gegen die Idee des Staates als Akteur im Leben der Menschen. Milei ist überzeugt, dass der freie Markt der beste und effizienteste Organisator der Gesellschaft ist. Die zweite Säule seines libertären Denkens ist die Wirtschaft. Sie steht im Mittelpunkt jeder Debatte. Auch Politik und Menschenrechte betrachtet Milei aus ökonomischer Perspektive. Demnach hat soziale Gerechtigkeit einen Preis, der bezahlt werden muss. Wer also Menschenrechte wie das Recht auf Bildung haben möchte, muss dafür bezahlen. Die dritte Säule betrifft die Demokratie. Für Milei und seine Anhänger ist Freiheit das höchste Gut. Wenn sich Demokratie und Freiheit gegenüberstehen, dann ist Demokratie das Problem. Die individuelle Freiheit und die freie Wirtschaft haben stets Vorrang.

Ähnlich wie Donald Trump in den USA tritt Milei als Unternehmer statt als Politiker auf. Wie Trump vor wenigen Wochen, wurde Milei 2023 zum Präsidenten gewählt. Wie hat er das geschafft?

Milei ist das Ergebnis einer wirtschaftlichen und politischen Krise in Argentinien. Während die beiden großen Parteien im Land mit sich selbst beschäftigt waren, ist es dem Außenseiter gelungen, die Kritik an der Regierung und die Sorgen der Bevölkerung zu adressieren. Dabei ist er mit einer klaren, libertären und radikalen Vision angetreten, die versucht, die argentinische Gesellschaft zu erneuern. Mit seinem Wahlsieg hat Milei eine neue politische Kraft in Argentinien etabliert.1
Noch heute, mehr als ein Jahr nach der Wahl, haben die beiden etablierten Parteien, die Peronisten und die Konservativen, die Probleme der Menschen im Land nicht verstanden. Das spielt Milei weiterhin in die Karten.

Von Mileis radikalen Forderungen profitiert vor allem eine kleine, wohlhabende Elite. Warum wurde Milei dennoch von der Mehrheit ins Präsidentenamt gewählt?

Das ist mein aktueller Forschungsgegenstand. Seit der Corona-Pandemie bis zur Wahl 2023 habe ich mit jungen Menschen gesprochen, um herauszufinden, warum sie Milei unterstützen. Viele fühlen sich von etablierten politischen Akteuren vergessen. Sie haben den Eindruck, dass sich die Politik immer weiter von ihren entfernt hat. Daraus ergeben sich Probleme: Junge Menschen haben angefangen, den Staat sowohl für politische Entscheidungen der Regierungsparteien als auch für die schwache wirtschaftliche Situation als Folge der Pandemie infrage zu stellen.

Wie unterscheiden sich Mileis politische Positionen von den Positionen der Neuen Rechten in Deutschland?

Milei hat es geschafft, die schlechten Erfahrungen der Bevölkerung mit der vorherigen Regierung und speziell die Kritik der jungen Wählerinnen und Wähler aufzugreifen und für sich zu nutzen. Gleichzeitig hat er Versprechen gegeben, die bei vielen Menschen im Land gut ankamen. Dabei konzentriert er sich auf die Inflation und ganz besonders auf die Wirtschaft. Er hat vorgeschlagen, den Argentinischen Peso durch den US-Dollar abzulösen, um die Inflation zu beenden. Das ist technisch nicht umsetzbar, aber politisch nützlich. Es ist eine einfache Antwort auf ein komplexes Problem.
Für Milei haben alle das Recht auf Freiheit und können tun, was sie wollen. Themen wie Migration, Rassismus, Frauenrechte und Diversität sind deshalb nicht Teil seiner Politik. Hier in Deutschland ist das anders. Die rechten Parteien sprechen viel mehr über Abgrenzung und Bewahrung der eigenen Identität.

Und wie unterscheidet sich die politische Kommunikation in Argentinien und Europa?

Der größte Unterschied in der politischen Kommunikation ist in den Sozialen Medien sichtbar. Milei nutzt sie so natürlich wie die jungen Menschen. Er tritt oft als Hater auf, polarisiert und wirkt wenig präsidial. Er versucht authentisch zu sein statt institutionell. Grundsätzlich ist die Debatte über die Sozialen Medien in Europa viel stärker, wenn es um Fake News und den Schutz der persönlichen Daten geht. Man sorgt sich um die Qualität der öffentlichen Debatte, die unter der Dynamik der Sozialen Medien leidet, weil nur Meinungen dargestellt, aber kein Austausch gefördert wird. In Argentinien sind diese Debatten schwächer. Es gibt keine Regulierung der Sozialen Medien. Stattdessen werden sie als neues Werkzeug im politischen Diskurs akzeptiert. Da kommen auch populäre Influencer ins Spiel.

Hier in Deutschland scheint es ein Problem damit zu geben, Politik in Sozialen Medien zielgruppengerecht und unterhaltsam zu vermitteln. Die Angst vor populistischer Verkürzung ist groß und ein seriöser Umgang mit den Plattformen gelingt nur wenigen. Wie funktioniert die politische Kommunikation in Argentinien?

Populistische Äußerungen gehören in Argentinien zum politischen Vokabular. Milei hält die Rolle des Staates im Leben der Menschen für eine kommunistische Idee. So wie er alles, was nicht seiner libertären Vision entspricht, für kommunistisch hält. Das ist reiner Populismus. Für ihn ist Politik auch ein Kulturkampf. Nach seiner Auffassung sei dieser Kampf in den traditionellen Medien und in den Sozialwissenschaften verloren. Darum müsse die Ideologie der Neuen Rechten verstärkt in den Sozialen Medien verbreitet werden. Milei provoziert und verschiebt mit seinen Aussagen die Grenzen des Sagbaren: Sein Ziel ist es, die öffentliche Debatte zu zerstören.

Wie ist Milei international mit den Akteuren der Neuen Rechten verbunden?

Milei ist ein großer Fan von Donald Trump und mit radikalen Vertretern der Neuen Rechten, wie dem ehemaligen brasilianischen Präsident Jair Bolsonaro, vernetzt. Milei trifft sich mit der spanischen rechtskonservativen Vox-Partei, Melonis Fratelli d’Italia und Gruppen aus Österreich und Deutschland. Im Juni wurde Milei die Medaille der Hayek-Gesellschaft in Hamburg verliehen. Der rechtsliberalen Gesellschaft gehören auch AfD-Abgeordnete wie Beatrix von Storch an. Argentinien ist unter Milei zum Labor für die globale Rechte geworden.

Milei ist seit gut einem Jahr als argentinischer Präsident im Amt. Wie hat sich die Situation im Land seitdem verändert?

Die Realwirtschaft hat sich verschlechtert. Es gibt mehr Arbeitslose und mehr Menschen in prekären Verhältnissen. Aus Sicht des Finanzsektors hat die Regierung aber auch Ergebnisse erzielt. Die Inflation ist zurückgegangen. Milei verspricht, dass das, was auf gesamtwirtschaftlicher Ebene passiert, auf lange Sicht auch jedem Einzelnen zugutekommt. Es ist das Versprechen eines Anarcho-Kapitalisten.

Milei wurde argentinischer Präsident, weil sich das Land in einer Krise befand. In Deutschland erleben wir gerade mehrere Krisen gleichzeitig. Erst kürzlich hat sich die Ampelregierung selbst zerlegt. Was können wir von Argentinien lernen, damit nicht auch hier demokratiegefährdende Akteure in Regierungsverantwortung kommen?

Die demokratischen Parteien werden nicht mehr als Lösung aller Probleme verstanden. Ihre Aufgabe ist es, Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Entwicklungen zu ermöglichen. Das Wichtigste wird sein, dass alle Parteien im demokratischen Spektrum verstehen, dass sie die Bedürfnisse und Sorgen der Bevölkerung annehmen und eine Verbindung zu den Menschen herstellen. Sie müssen verstehen, was die Menschen seit der Corona-Pandemie erlebt haben. Besonders junge Menschen, die Arbeiterklasse und die Mittelschicht haben während und nach der Pandemie viel Vertrauen in den Staat verloren, weil dieser viele kontroverse Entscheidungen treffen musste: Lockdowns, Abstandsregelung, Impfungen.

Welche Vorsichtsmaßnahmen tatsächlich notwendig waren, ist bis heute ungewiss. Das hat dazu geführt, dass dem Staat eine geringere Autorität zugestanden wird als vor der Pandemie. Die Menschen sind skeptischer geworden. Auch Versäumnisse aus der Vergangenheit verstärken das neue Misstrauen: marode Infrastruktur, unzureichendes Bildungssystem und überlastetes Gesundheitswesen lassen nicht darauf schließen, dass sich die Institution Staat um die Bevölkerung kümmert.

Außerdem müssen Politik und Gesellschaft einen Weg finden, mit den Provokationen der Rechten umzugehen. Sie dürfen sie nicht ignorieren, denn dann verlieren sie den Zugang zu den Menschen. Genau das ist in Argentinien passiert. Die etablierten Parteien haben Milei ignoriert. Sie waren der Meinung, dass er die Wahl nicht gewinnen kann, doch er hat gewonnen. In diesem Sinn war Milei nicht nur Nutznießer einer politischen Krise, sondern auch Nutznießer eines fehlenden Verständnisses der gesellschaftlichen Situation.

  1. Mileis Bündnis La Libertad Avanza besteht aus verschiedenen Gruppen, die als libertär, radikal konservativ bis rechtsextrem gelten. ↩︎

Autor:in

  • Freier Redakteur

    Ist KATAPULT MVs Inselprofi und nicht nur deshalb gern am Wasser. Nutzt in seinen Texten generisches Femininum.

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