Dunkelheit. Dumpfe Schlaglaute ertönen unter lebensgroßen Walmodellen. Die Tänzer:innen des Stralsunder Vereins PerformDance eröffnen mit einer Tanzperformance die Veranstaltung „Wissenschaft kontrovers“ im Stralsunder Ozeaneum. Zweihundert Besucher:innen finden sich Ende Mai im ausgebuchten Ausstellungssaal „1:1 Riesen der Meere“ zusammen.
Auf dem Podium: fünf Stühle – vier Gäste. Ein Platz bleibt frei für Menschen aus dem Publikum, die sich in die Diskussion einbringen oder Fragen stellen wollen. Die Gäste: die Journalistin Ann-Katrin Schröder vom Kunstprojekt Tainted Ocean Love, die Biologin und WWF-Fachbereichsleiterin für Meeresschutz, Heike Vesper, sowie der neue Direktor des Deutschen Meeresmuseums, Burkard Baschek.
Das Stralsunder Meeresmuseum, Deutschlands einziges mit vier Ausstellungshäusern und vielfältigen Forschungsprojekten, ist Teil der UN-Ozeandekade. Die Vereinten Nationen haben die Jahre 2021 bis 2030 zum Internationalen Jahrzehnt der Meeresforschung für nachhaltige Entwicklung ausgerufen. Das Deutsche Meeresmuseum ist offizieller Netzwerkpartner des deutschen Ozeandekaden-Komitees und beteiligt sich mit neuen Ausstellungen und Veranstaltungen sowie Forschung zur Biodiversität und zu Lärm im Meer.
Internationales Jahrzehnt für Meere und Ozeane
Seit einem Jahr tauschen sich dafür Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen, Kunst und Zivilgesellschaft über den Schutz der Meere aus. In der Hansestadt vernetzt das Ozeaneum unter anderem lokal ansässige Firmen, die sich in puncto Nachhaltigkeit verbessern wollen. Im dazugehörigen „Wissenschaftsjahr 2022 Nachgefragt“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung können Bürger:innen im Ozeaneum direkt ihre Fragen an die Wissenschaft stellen.
Den Auftakt bildet am Nachmittag das erste „Ocean Future Lab Stralsund“. Ziel der Workshopreihe ist es, „Ideen und Impulse für positive und nachhaltige Zukunftsszenarien für das Zusammenleben von Meeren und Menschen“ zu entwickeln. Gleichzeitig soll das bürgerschaftliche Engagement für einen nachhaltigen Umgang mit Meeren, Küsten und Ozeanen gestärkt werden. Gemeinsam entwickeln die Akteur:innen aus Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft neue Sichtweisen und Lösungsansätze zu Fragen wie: Wie lassen sich in einer Region wie Vorpommern-Rügen Meeresschutz, Tourismus, Energiewirtschaft und Fischerei nachhaltig vernetzen und kombinieren? Welche Forschung, welcher politische Weitblick und welche Beteiligung von Bürger:innen sind dafür nötig?
Moderiert von Zeit-Wissenschaftsredakteur Fritz Habekuß geht es am Abend im großen Ausstellungssaal um lebendige Weltmeere in Zeiten von Klimawandel, Artensterben, Krieg und Pandemie. „Wir leben in globalen Krisenzeiten“, eröffnet Jens Schiffers, Referent beim Bildungsministerium, das neue Veranstaltungsformat. „Die Situation ist so komplex und verwoben, dass grenzüberschreitendes Handeln erforderlich ist.“ Mit grenzüberschreitend meint der Referent dabei nicht nur Landesgrenzen. Auch gesellschaftliche Grenzen müssten überwunden werden, um alle Beteiligten zum Schutz der Meere ins Boot zu holen.
Meere brauchen Schutz – der Mensch braucht das Meer
„Der Mensch ist Täter und Opfer zugleich“, resümiert die Journalistin Ann-Kathrin Schröder, die mit dem Fotografen Oliver Franke das Kunstprojekt Tainted Ocean Love ins Leben gerufen hat. Sie inszenieren dafür vor allem Profi-Wassersportler:innen in einer neuen Perspektive: der Mensch als Opfer im Bild, bedroht von seinen eigenen Taten in der Realität. Ausgestellt sind die großformatigen Fotos im Foyer des Ozeaneums. Schröder sieht die Corona-Pandemie dabei als negativen Verstärker für die komplexen Herausforderungen der Meere. „Man denke nur an all das Plastik durch die Corona-Maßnahmen. Ich sehe schon die Masken am Meeressaum.“
Heike Vesper, Fachbereichsleiterin für Meeresschutz beim WWF, kann hingegen der Pandemie auch positive Aspekte abgewinnen: „Viele fanden zurück zur Natur. Denn die Natur war auch im Lockdown nicht geschlossen.“ Und setzt auf die Hoffnung: „Man könnte Corona als Ausgangspunkt nehmen, um jetzt alles anders und besser zu machen.“ Dabei sei aber eine Vision nötig. „Wir müssen uns bei Veränderungen oder persönlichen Einschränkungen zugunsten der Umwelt fragen: Ist es etwas, was uns dann fehlt? Oder vielleicht etwas, das uns sogar bereichern kann?“ Die Menschen seien Teil des Planeten und dennoch völlig entkoppelt, findet die Umweltaktivistin. „Wir müssen uns kümmern, weil wir das Meer brauchen.“
Der neue Direktor des Deutschen Meeresmuseums, Burkard Baschek, betont dabei die Bedeutung einfacher Maßnahmen. „Endlich ist die Klimakrise auch in der breiten Masse angekommen. Aber wir müssen versuchen, gemeinsam Lösungen auszuarbeiten, die so einfach sind, dass sie weltweit umgesetzt werden können“, meint der Ozeanograf.
4.606 Schutzgebiete in Deutschland nicht ausreichend geschützt
Eine einfache Lösung, die Heike Vesper vom WWF sieht, liegt in den marinen Schutzgebieten: „Als ersten Schritt sollten wir von Schutzgebieten einfach mal die Finger lassen.“ Selbst das Wattenmeer – als Weltkulturerbe und Nationalpark mit dem höchsten Schutzstatus – werde nicht ausreichend geschützt. „Mehr Superlative im Schutzstatus gibt es nicht und trotzdem wird dort gefischt und nach Öl gebohrt“, so Vesper. „Unsere Schutzgebiete werden nicht sauber umgesetzt.“ Darüber hinaus sollen diese laut der Meeresbiologin für den Bau von Windrädern freigegeben werden. „Wir brauchen die erneuerbaren Energien, dürfen aber nicht die schützenswertesten Winkel dafür opfern.“ Und erst im vergangenen Jahr verklagte die EU-Kommission Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof, weil das Land Verpflichtungen zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie wildlebender Tiere und Pflanzen nicht eingehalten hat. Die Frist für die Umsetzung der notwendigen Maßnahmen der Habitat-Richtlinie ist in einigen Fällen bereits vor mehr als zehn Jahren abgelaufen. Dazu hat Deutschland eine bedeutende Anzahl an Flächen noch nicht als besondere Schutzgebiete ausgewiesen. Die EU-Kommission geht daher davon aus, dass es in allen Bundesländern und auf Bundesebene üblich war und ist, für keines der 4.606 Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung detaillierte und quantifizierte Erhaltungsziele festzulegen. Das habe enorme Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Schutzmaßnahmen. Ohne messbare Erhaltungsziele ist laut der Kommission auch keine ausreichende Berichterstattung möglich. Das müsse viel ernster genommen werden, findet Vesper.
Einer von vier spontanen Publikumsgästen auf dem Podium ist ein junger Student der Hochschule Stralsund, der sich bereits im Studium mit zu Unterhaltungszwecken gehaltenen Schwertwalen auseinandersetzt. Er kritisiert das Ozeaneum und die Haltung von Tieren in Gefangenschaft. Im Ozeaneum seien ein Sandtigerhai nach dem Transport sowie ein Mondfischexemplar verstorben. Auch das Halten von Fischen in Aquarien sei für den Studenten nicht mehr zeitgemäß und solle durch digitale Medien ersetzt werden. Direktor und Ozeanograf Baschek fordert daraufhin eine differenziertere Betrachtung des Hauses. „Man kann Fische auch artgerecht im Aquarium halten. Unsere Dorsche gedeihen sehr prächtig“, so der Wissenschaftler. Um die Faszination für das Meer bei den Besucher:innen zu wecken, seien artgerecht lebende Tiere unabdingbar und der Eindruck schwer durch digitale Medien ersetzbar. Dazu betont er: „Das Ozeaneum ist kein Aquarium, sondern ein Museum.“
Das Ozeaneum sei ein Haus mit starkem Bildungsauftrag, das jährlich ein Prozent der deutschen Bevölkerung über die heimischen Meere und ihre Schutzbedürftigkeit informiere. „Nur wenn wir die Menschen für das Meer begeistern, können wir es gemeinsam schützen. Und da sind wir in der Pflicht“, sagt der Direktor und lädt den jungen Meeresschützer zu einem gemeinsamen Rundgang durch die Ausstellung ein. Denn: „Es geht nicht ohne Herz und Faszination.“ Da sind sich beide einig.
Quellen
- Europäische Kommission (Hg.): Naturschutz: Kommission beschließt, Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof wegen mangelhafter Umsetzung der Habitat-Richtlinie zu verklagen, auf: ec.europa.eu (18.2.2021).↩
- Ebd.↩
- Ebd.↩