Ende Januar feierte radio 98eins sein 18-jähriges Bestehen. Über drei Tage organisierte der Verein, der das gleichnamige Lokalradioprogramm für Greifswald und Umgebung verantwortet, Konzerte, einen DJ-Abend und Livesendungen. Auf die Beine gestellt wurde das Programm von Ehrenamtlichen. „Es war okay“, antworten die beiden Vorstandsvorsitzenden Tom Güldner und Jasmin Dressler auf die Frage nach der Besucher:innenzahl. Der Vereinsvorstand hatte sich noch ein paar Gäste mehr erhofft, es seien aber doch einige da gewesen.
Besucher:innen bleiben weg
Die beiden beschreiben ein Phänomen, was viele Kulturschaffende in Mecklenburg-Vorpommern umtreibt. Denn die Nachfrage nach Kulturangeboten ist merklich zurückgegangen. Das berichtet auch Undine Spillner vom Verein Kultur-Transit-96, der die Burg Klempenow (Mecklenburgische Seenplatte) erhält und als Kulturort für zahlreiche Veranstaltungen nutzt. Es gebe einen „ganz massiven Publikumsrückgang“, sagt sie. Das sehe man überall. Dabei sei nach den großen Einschränkungen durch die Corona-Pandemie im letzten Jahr alles wieder sehr gut angelaufen. Gerade im Frühling 2022 sei die Nachfrage enorm gewesen, doch „spätestens seit Mitte des Jahres massiv eingebrochen“.
Wie viele Menschen zu einer Kulturveranstaltung kommen, hänge auch von der Art der Veranstaltung und dem Format ab, sagt Spillner. So seien beispielsweise die Märkte, die auf der Burg stattfinden, immer sehr gut besucht gewesen. Bei so manchem Open-Air-Event hätten sie sich aber schon über fünf anwesende Gäste gefreut. Gerade die Angebote, die etwas Anspruch hätten, seien schwierig, schildert sie ihre Beobachtung. Doch woran liegt das?
„Ohne euch geht es nicht!“
Erklärungsansätze vonseiten der Kulturschaffenden gibt es einige. „Eine Kombination aus Gewohnheit und Netflix“, beantwortet etwa Spillner selbst die Frage. Aber auch das Grundgefühl der Leute, nicht zu wissen, wie es weitergeht, hält sie für einen Faktor. Dazu kommen nach Überzeugung von Ulrike Hanf, Geschäftsführerin des Landesverbandes Soziokultur, noch die momentanen finanziellen Sorgen der Menschen aufgrund der gestiegenen Preise.
Für den Landesverband ist der Rückgang der Gästezahlen jedenfalls nichts Neues. Diese Entwicklung sei ihnen von Mitgliedern bereits gespiegelt worden, erzählt Hanf im Gespräch mit KATAPULT MV. Sie vermutet auch Ängste als Erklärung für nur zögerlich zurückkommende Besucher:innen. Die Corona-Pandemie habe etwas mit den Menschen gemacht, sagt sie, „uns nachhaltig verändert“. Es werde dauern, bis das aus dem Kopf vertrieben und abgelegt sei. „Immerhin wurde ja zwei Jahre gesagt: Meide Menschen und Versammlungen“, ergänzt Kati Mattutat, Leiterin des Greifswalder Literaturzentrums Koeppenhaus. In dieser Zeit hätten die Leute sich anderes angewöhnt und auch ein bisschen verlernt und vergessen, wie das Erlebnis Kultur für sie sein kann.
Das sieht auch Undine Spillner so. Sie beobachte es seit der Wiederbelebung des Kulturangebotes immer wieder, dass Leute zu Veranstaltungen kämen und danach überrascht über den Genuss des Erlebens gewesen seien. Die Menschen hätten ein Stück weit die „Nutzung der Kulturlandschaft“ verlernt und dabei sei das doch ein so wichtiger „Lebensquell“, findet sie. Und, ergänzt Ulrike Hanf, ohne Gäste, die die Einrichtungen unterstützen, gibt es sie am Ende nicht. Ihr Appell: „Ohne euch geht es nicht!“
Ehrenamtliches Engagement geht zurück
Doch nicht nur die Besucher:innen bleiben weg. Der Kulturbereich in MV ist auch personell zunehmend schlechter aufgestellt. So sind einmal während der Corona-Pandemie viele Leute aufgrund der Unsicherheit in der Branche abgewandert, erzählt Martin Auer vom Servicecenter Kultur, einer Beratungsstelle für Künstler:innen, Kulturschaffende und -einrichtungen zu Fördermöglichkeiten. Hinzu kommt, dass vielen Vereinen die Ehrenamtlichen weggebrochen sind. Zwar habe MV nach wie vor „eine vitale Kulturlandschaft“, doch ein Großteil des Angebots werde eben durch Ehrenamtliche ermöglicht.
Das „Engagement hat abgenommen in den letzten Jahren“, beobachtet auch Ulrike Hanf. Gerade junge Menschen würden sich weniger für ehrenamtliche Arbeit interessieren. Dass dann auch die Nachwuchsgewinnung schwerer fällt, merken sie zum Beispiel bei radio 98eins. Zwar sei der Verein mit aktuell 24 Mitgliedern für seine Verhältnisse relativ groß und auch ehrenamtliche Radiomitarbeiter:innen gebe es einige, doch diesen Stand zu halten oder sogar neue Leute zu gewinnen, sei schwierig, sagen sie. Dressler sieht auch hier die Corona-Pandemie als einen Auslöser. Die Menschen gehen weniger raus, die Stadt ist leerer als vorher, überlegt sie. Zudem gewinnt der Sender Mitarbeiter:innen normalerweise auch über Uni-Praktika. Doch während Corona musste auch das Radio schließen beziehungsweise konnte nur unter strengen Vorschriften arbeiten. Da war die Betreuung von Praktikant:innen, wenn überhaupt Interesse bestand, kompliziert bis unmöglich.
Ulrike Hanf bringt noch einen weiteren Punkt ins Gespräch. Ehrenamt müsse man sich leisten können, sagt sie. Gerade im ländlichen Raum brauche es, um zu Kultureinrichtungen zu kommen, meist ein Auto. „Die Leute haben nicht genug Geld, um noch irgendwo hinzufahren und kostenlos zu arbeiten“, erklärt auch Undine Spillner. Es gebe zwar die Ehrenamtspauschale und das sei auch gut so, aber das Geld dafür müssten dann wiederum die Vereine und Initiativen aufbringen, ergänzt Hanf. Und das neben den finanziellen Sorgen, die bei vielen Kulturschaffenden bereits bestehen und die Frage aufwerfen, wie es weitergehen soll.
Steigende Kosten auch für Kulturschaffende
Das Greifswalder Radio hat zumindest im Hinblick auf die hohen Energiepreise Glück. Neben der Miete für das Gebäude, in dem das Studio untergebracht ist, zahlt die Medienanstalt MV – Trägerin des Offenen Kanals – auch die Kosten für Heizung und Strom. Dafür bemerkt der Verein die Teuerungen an anderer Stelle. Zum Beispiel bei Veranstaltungen, sagen Tom Güldner und Jasmin Dressler. Die Miete für einen Transporter, die Veranstaltungsversicherung, aber auch das Catering vor Ort für die Künstler:innen – überall dort zahlen sie mittlerweile weit mehr als noch vor drei Jahren.
Und auch die Künstler:innen, die für verschiedene Veranstaltungen gebucht werden, möchten mehr Geld haben, berichten Undine Spillner und Ulrike Hanf. Allein wenn man die gestiegenen Fahrtkosten betrachtet, sei das ganz logisch, finden Dressler und Güldner. Und obwohl etwa der Landesverband Soziokultur dies nachdrücklich unterstützt, können sich eben nicht alle Einrichtungen oder Vereine dies auch leisten.
„Wir haben ein Finanzierungsproblem“
Das liegt unter anderem daran, dass die Ausgaben in den vergangenen Jahren bereits gestiegen sind, sich das jedoch wenig in der Finanzierung von Kultureinrichtungen zeige, erklärt Ulrike Hanf weiter. Die Mittel für Kultur seien nicht mehr geworden, stimmt Martin Auer zu. Und so müssen die Einrichtungen „mit steigendem Aufwand, aber gleichem Geld oder sogar weniger klarkommen“. Die Situation sei prekär, betont Hanf.
Kati Mattutat vom Koeppenhaus illustriert die Aussagen Hanfs mit einem Beispiel aus der Stadt Greifswald. So hat die Bürgerschaft Ende letztes Jahres die Bettensteuer beschlossen. Laut Beschlussvorlage, um der Stadt in Anbetracht einer sich ankündigenden angespannten Haushaltslage eine neue Einnahmequelle zu verschaffen. Diese müssten nun aber nicht nur klassische Beherbergungsbetriebe zahlen, sondern auch Kultureinrichtungen. Dass die von der Stadt zur Verfügung gestellten Fördermittel aufgrund der Mehrkosten durch die Abgabe nicht steigen, lasse die Einrichtungen am Ende also mit weniger Geld zurück, so Mattutat.
Auf Anfrage von KATAPULT MV dementiert die Stadt Greifswald, dass Kultureinrichtungen betroffen seien. Nur Gäste von Hotels und anderen Beherbergungen müssten die Steuer entrichten, so eine Sprecherin. Auch der Tatsache, dass Kultureinrichtungen durch das Engagement von Künstler:innen ebenfalls Gäste unterbringen und die Kosten dafür dann wiederum bei den Häusern anfallen, widerspricht die Stadt. Kultureinrichtungen seien „nicht direkt betroffen, sofern sie nicht selbst die Übernachtungsmöglichkeit stellen“.
Ohne Selbstausbeutung geht es nicht
Was es für die im Kulturbereich Tätigen – gerade in freien Einrichtungen – bedeutet, wenn mehr Aufwand für die Einwerbung von Geldern betrieben werden muss, die Unterstützung aber insgesamt nicht mehr wird oder sogar weniger, fasst Kati Mattutat nachdrücklich mit einem Wort zusammen: Selbstausbeutung. Denn jeder Projektantrag braucht Zeit und Energie, „was abgeht von der eigentlichen Kulturarbeit“, und dann über die Arbeitszeit hinaus, wenn diese überhaupt gleich bleiben kann, erledigt werden muss. Für die Mitarbeiter:innen ist das schwierig. Auch vor dem Hintergrund, dass nur ein geringer Anteil von ihnen überhaupt nach Tarif oder Honorarempfehlungen bezahlt wird, wie das Monitoring Kulturfinanzierung MV ergab. Für Mattutat öffnet sich damit auch die Schere zwischen öffentlichen und freien Einrichtungen noch weiter. Denn bei Ersteren könne der Arbeitgeber – zum Beispiel die Gemeinde oder das Land – ja nicht anders, als entsprechend zu zahlen. Und auch die Lohnentwicklung mitzugehen. Deshalb fordern die Kulturverbände MV beispielsweise auch zusätzlich eine Million Euro für die freie Kultur, um höhere Löhne zahlen zu können. Ob die derzeitigen Bedingungen die Kulturarbeit noch attraktiv für Nachwuchs machen, daran hat Mattutat zumindest Zweifel.
Erschwerend kommt hinzu, dass mit Projektförderungen zwar die Vorhaben an sich unterstützt werden, aber eben auch nur die, erklärt die Koeppenhaus-Leiterin. Nicht etwa das Personal, welches diese im Verein oder der Kultureinrichtung organisiert und durchführt. Mit einer gesicherten Stelle besteht natürlich kein Problem, so Mattutat. Gibt es die nicht, dann sieht es schlecht aus.
Dass gerade die Finanzierung von Personal bei Förderungen eine große Herausforderung darstellt, bestätigt auch Martin Auer vom Servicecenter Kultur. Personal sei teuer. Außerdem bestehe bei Fördermittelgebern die Angst, dass einmal geförderte Personen sich dann festsetzen oder sich Erwartungen für erneute Förderungen bei den Einrichtungen ergeben, erklärt er die Logik.
Förderer und Sponsoren treten kürzer
Dass mit der Einwerbung von Fördergeldern mittlerweile mehr Aufwand verbunden ist, können Tom Güldner und Jasmin Dressler von radio 98eins ebenfalls bestätigen. „Die einzelnen Förderer geben weniger“, sagt Güldner. Oder überhaupt nichts mehr. So haben nach Aussage der beiden Vereinsvorsitzenden zum Beispiel die Stadtwerke Greifswald ihre jahrelange Unterstützung der vom Verein organisierten Veranstaltungen für dieses und das kommende Jahr eingestellt. Die Stadtwerke begründen dies auf Nachfrage mit der schwierigen finanziellen Situation des Unternehmens durch die Energiekrise. Jedoch seien wieder vorsichtige Öffnungsschritte geplant und es bestehe weiterhin Kontakt zu den Partnern, so die Unternehmenssprecherin.
Das Geld für Veranstaltungen muss radio 98eins nun vorerst woanders auftreiben. Oder es muss mit weniger davon geplant werden. Im schlimmsten Fall bedeuten solche Entscheidungen weniger Kulturangebot, kommentiert Ulrike Hauf. Zusätzlich sei mittlerweile ebenfalls mehr Geld nötig, um überhaupt die gleichen Leistungen zu erbringen, ergänzt Güldner.
Dass Sponsoren abspringen, kennt auch der Verein Kultur-Transit-96. Einige seien ihnen bereits im vergangenen Jahr zum Beispiel für das auf Burg Klempenow stattfindende Transit-Festival weggebrochen, meist ohne Begründung, berichtet Undine Spillner. Doch nicht nur regionale und mittelständische Unternehmen entscheiden sich offenbar, bei Förderungen kürzerzutreten. Auch bei den Kommunen in ihrer Rolle als Kulturförderer sei eine Zurückhaltung spürbar, sagt Martin Auer. Sie müssen sparen. Und das tun sie als erstes bei freiwilligen Ausgaben, also bei Kultur oder Sport, ist Kati Mattutat überzeugt. Die Gemeinden könnten momentan nicht abschätzen, wie viel Mehrkosten die gestiegenen Preise bei den von ihnen getragenen öffentlichen Einrichtungen der kulturellen Grundversorgung, etwa Musikschulen oder Bibliotheken, verursachen werden. So erklärt Martin Auer die Zurückhaltung.
Neustart nach dem Neustart
Bei den Kulturschaffenden, die bereits durch die Corona-Pandemie mit Existenzängsten und Perspektivsuche konfrontiert waren, schürt all das ernste Befürchtungen für die Zukunft. In der Pandemie konnten zumindest finanziell mit dem Programm Neustart Kultur der Betrieb und die Arbeit vielerorts gesichert, teilweise sogar Möglichkeiten für Investitionen und Erneuerungen geschaffen werden. Doch nun ist das Programm ausgelaufen und dieser Wegfall bringt all das zurück, was bereits vor Corona ein Problem war. „Die Kultur muss besser ausgestattet werden“, fordert Kati Mattutat. Ansonsten, befürchtet Ulrike Hanf, kann sie auf Dauer in diesem Umfang nicht gehalten werden. Das Wegbrechen von Kultureinrichtungen gerade im ländlichen Raum bedeutet dann nicht nur weniger Angebot, sondern auch weniger Möglichkeiten der Teilhabe, eine Gefahr für die demokratiestiftende Arbeit gerade kleiner Initiativen, deren Lücken im schlimmsten Fall von rechts geschlossen werden.
Mit der Politik arbeite man, auch dank Corona, zum Glück sehr gut zusammen, bilanziert die Geschäftsführerin des Landesverbands Soziokultur. „Wir merken, dass sie helfen will“, sagt sie. Jedoch fehle es bisher noch an einem entscheidenden Punkt: der Umsetzung. Denn die Bekenntnisse zur Kultur und deren Unterstützung – etwa durch die kulturpolitischen Leitlinien – sind ja da. Bis jetzt gebe es dennoch das Gefühl, etwas auf der Stelle zu treten, bemerkt Kati Mattutat. Obwohl sowohl sie als auch Ulrike Hanf zum Beispiel das Monitoring Kulturfinanzierung, dass erstmals eine Bestandsaufnahme der Finanzierung der Kulturlandschaft MVs machte und als direkte Konsequenz der kulturpolitischen Leitlinien zu betrachten ist, als sehr positiv hervorheben. Die Analyse liefere „eine fundierte Gesprächsgrundlage für kulturpolitisches Handeln“, erklärt Hendrik Menzl, einer der Autoren. Sie helfe unter anderem, „Handlungsstrategien für MV zu entwickeln“.
Zusätzlich ist mit Kulturland MV in diesem Jahr eine neue Vernetzungsstelle für die Kultur in MV entstanden. Sie ist als „zentraler Anlaufpunkt für Kulturakteur:innen“ gedacht und soll neben Vernetzungsprojekten auch Beratung, Qualifizierung und Veranstaltungsmanagement zusammenführen, erläutert Koordinator Menzl. Ein Knotenpunkt, den es dringend braucht, sind sich Mattutat und Hanf einig.
Dieser Artikel erschien in KATAPULT MV-Ausgabe 17. Er wurde am 29. Juni aktualisiert und ergänzt.