Silke Hagens Sohn besuchte im jetzt zu Ende gegangenen Schuljahr die achte Klasse der Kooperativen Gesamtschule Barth (Landkreis Vorpommern-Rügen). Das Halbjahreszeugnis ihres Sohnes bezeichnete die Mutter im Februar in einer Mail an KATAPULT MV als den „Oberhammer“. Dort war keine Note im Fach Deutsch zu finden. Denn: Fast das ganze erste Schulhalbjahr – seit den Herbstferien – bekam ihr Sohn keinen Deutschunterricht.
Wie kann das sein, fragte die Mutter damals im Gespräch mit KATAPULT MV. Und wieso interessiert es offenbar niemanden, obwohl sie solche Geschichten zur Genüge aus ihrem Bekanntenkreis, von anderen Schüler:innen und Eltern kenne?
Vertretung wegen Krankheitswelle nicht möglich
Auf Nachfrage wollten sich sowohl die Schule als auch das zuständige Staatliche Schulamt Greifswald nicht zu dem Fall äußern. Beide verwiesen auf das Landesbildungsministerium. Auf eine Nachfrage zu längeren Unterrichtsausfällen im Schulamtsbereich Greifswald, den davon vor allem betroffenen Fächern und den Gründen antwortete die Schulrätin gar nicht mehr.
Das Bildungsministerium bestätigte Hagens Schilderung auf Anfrage. Es sei richtig, dass Schüler und Schülerinnen „keine Note im Fach Deutsch“ erhalten hätten, so ein Sprecher. Neben der achten Klasse von Silke Hagens Sohn in Barth seien noch drei weitere Klassen betroffen gewesen, da die Lehrkraft für den Deutschunterricht wiederholt ausgefallen sei. So erzählte es auch Silke Hagen. Niemand habe den Unterricht in der Klasse ihres Sohnes vertreten, als die neue Lehrerin, die die Stunden erst zu Beginn des Schuljahres übernommen hatte, immer wieder krank war.
Das Ministerium versicherte im März, dass sowohl die Schule als auch das zuständige Schulamt große Anstrengungen unternommen hätten, die Stunden zu besetzen. Ein Versuch, die Vertretung „schulübergreifend zu initiieren“, sei gescheitert. Und auch eine Stellenausschreibung habe keine geeigneten Bewerberinnen und Bewerber geliefert. Die Stelle konnte auch aufgrund der jeweils nur für kurze Zeiträume geltenden Krankschreibung nicht sofort ausgeschrieben werden. Darüber hinaus seien „zwei weitere Lehrkräfte im Fach Deutsch“ an der Schule von der Krankheitswelle im November und Dezember betroffen gewesen, was die fachgerechte Vertretung des Unterrichts verhindert habe. Eine fachfremde Vertretung müsse mit dem Schulamt abgestimmt werden und dürfe nur erfolgen, wenn der Ausfall anderer Stunden dafür „vertretbar und hinnehmbar“ sei.
Dauerhaft zu wenig Personal?
Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft MV (GEW) geht davon aus, dass „seitens der Schule alle erdenklichen Maßnahmen getroffen wurden, um den andauernden Stundenausfall zu verhindern“. Dass es in der Praxis zu solchen Situationen komme, sei der Gewerkschaft bewusst. Es sollte jedoch nicht so sein, bemängelte der GEW-Landesvorsitzende Nico Leschinski Anfang Mai. Versorgungslücken habe es bereits vor der Pandemie gegeben und seine Gewerkschaft habe dies auch damals schon kritisiert. Es sei „dauerhaft zu wenig Personal eingeplant“, um die Unterrichtsstunden hinreichend zu gewährleisten, so Leschinski weiter. Es bräuchte in MVs Schulsystem mindestens 500 bis 800 Lehrkräfte mehr.
Mit Blick auf den Fall Barth sieht das Ministerium dies offenbar anders. Mit insgesamt 15 Lehrkräften im Fach Deutsch sei die Unterrichtssicherung dort „ausreichend“ gegeben. Jedenfalls dann, wenn „alle Lehrkräfte einsetzbar sind“, so die Einschränkung von Henning Lipski, dem Sprecher des Bildungsministeriums, Ende März. Damit bestätigte das Ministerium eine Beobachtung, die die GEW bereits im Januar gegenüber KATAPULT MV schilderte. Nämlich dass Faktoren wie eben Krankheit, aber auch Schwangerschaften oder Fort- und Weiterbildungen in der Planung des Landes nicht hinreichend eingepreist sind. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels an den Schulen fehle es einfach an Lehrer:innen, die „bei dünner Personaldecke und zusätzlichen Ausfällen, wie etwa durch Krankheit“, einspringen können.
Keine aktuellen Zahlen zum Unterrichtsausfall
Dies untermauern könnte die Unterrichtsversorgungsstatistik, die Aufschluss über den gehaltenen Vertretungsunterricht in den vier Schulbezirken sowie über die Anzahl tatsächlich ausgefallener Unterrichtsstunden und die Gründe dafür gibt. Die letzten Daten stammen aus dem Schuljahr 2018/19 – in der Corona-Pandemie wurden die Zahlen nicht erhoben. Schon damals fiel der meiste Unterricht aus, weil keine Vertretung organisiert werden konnte.
Wie es im Schuljahr 2022/23 aussah, ist noch unbekannt. Die entsprechende Statistik liegt aktuell nicht vor. Auch Zahlen zum ersten Schulhalbjahr gibt es noch nicht. Und das, obwohl die Meldung durch die zuständige untere Schulbehörde an das Ministerium zum Ende der neunten Kalenderwoche erfolgte – sprich: Anfang März. Mittlerweile ist es Ende Juli. Das Ministerium erklärt diesen Umstand im Frühjahr damit, dass die Meldungen der 503 Schulen im Land „geprüft, plausibilisiert, ausgewertet und analysiert“ werden müssten. Dieses Verfahren nehme „aufgrund des Umfangs Zeit in Anspruch“. Auf erneute Nachfrage Ende Juni hieß es dann, die Jahresstatistik werde erst „zu Beginn des vierten Quartals 2023“ vorliegen. Was mit den Daten aus dem ersten Halbjahr ist, blieb trotz entsprechender Nachfrage unbeantwortet.
Oft keine Alternative für Eltern und Kinder
Unabhängig von der Situation im Land fragt sich Silke Hagen, wie es weitergehen soll, wenn die Schule, so nimmt sie es wahr, „den Bildungsauftrag nicht mehr erfüllen“ kann. Vor dem Hintergrund des ausgefallenen Unterrichts versichert das Ministerium, dass zur Vertiefung und Festigung des Stoffes „unterstützende Maßnahmen“ getroffen wurden. Für die Klasse acht von Silke Hagens Sohn habe dies vor allem darin bestanden, dass „bei Ausfall eines anderen Fachs vorrangig Deutschunterricht als Vertretung angeboten“ wurde.
Ob eine andere Schule für ihre Kinder infrage gekommen wäre, beantwortet Hagen mit einem klaren Nein. Ihre Kinder seien jetzt bereits 45 Minuten mit dem Bus zur Schule unterwegs. Zudem gebe es in ihrer Region wenige Schulen und diese seien ausnahmslos voll. Nachhilfelehrer:innen habe sie keine finden können. Aussicht auf Besserung sieht sie in Barth ebenfalls nicht. So sei der Unterricht im zweiten Halbjahr zwar wieder gesichert gewesen – was auch das Bildungsministerium bestätigt –, doch die Lage werde sich mit der jetzt anrollenden großen Rentenwelle in Barth wohl nicht verbessern. Dafür könne die Schule nichts, betont Hagen.
Das Bildungsministerium räumt ebenfalls ein, dass aufgrund des Fachkräftemangels trotz großer Anstrengungen „zeitweilige Lücken in der Unterrichtsversorgung nicht gänzlich vermieden werden können“. Durch eine enge Zusammenarbeit mit den Beteiligten plus entsprechender Kommunikation wolle man Verständnis erzielen. Dass ein solches in einem Fall wie Barth nicht entwickelt werden müsse, macht die GEW deutlich. Vielmehr sollten Eltern hier die entsprechenden Gremien nutzen – zum Beispiel die Schulkonferenz oder den Landeselternrat –, um sich Gehör zu verschaffen. Klar sei schließlich auch, dass Schulpflicht bestehe und jedes Kind ein Recht auf Bildung habe. „In letzter Instanz“ sei das Land dafür zuständig, ein entsprechendes Unterrichtsangebot sicherzustellen.
Zur Arbeitsbelastung und dem Lehrkräftemangel in MV weiterlesen: „Ein Job, der dein Leben verschlingen kann“
Quellen
- Name von der Redaktion geändert.↩
- E-Mail vom 7.2.2023.↩
- Telefonat am 22.2.2023.↩
- E-Mail von Marit Schindler, Schulrätin des Staatlichen Schulamtes Greifswald, vom 23.2.2023 / E-Mail von Udo Liebelt, Schulleiter des Gymnasialen Schulzentrums Barth, vom 1.3.2023.↩
- E-Mail von Henning Lipski, Pressesprecher des Ministeriums für Bildung und Kindertagesförderung, vom 9.3.2023.↩
- E-Mail von Henning Lipski vom 23.3.2023.↩
- E-Mail der GEW MV vom 4.5.2023.↩
- Telefonat mit der GEW MV am 10.1.2023.↩
- Erfassung des Vertretungsunterrichts und des Unterrichtsausfalls, auf: service.mvnet.de.↩
- E-Mail von Henning Lipski vom 20.6.2023.↩