Die Unsichtbaren

Obdachlose Frauen in Rostock

Minusgrade in der Nacht, eisiger Wind und Schneeregen: Besonders im Winter sind Obdachlose der Witterung schutzlos ausgeliefert. Wohnungslose Frauen fallen im Straßenbild kaum auf, dennoch gibt es sie. Und es werden mehr. Ein Abend im Nachtasyl für Frauen.

Luna ist das einzige Nachtasyl für obdachlose Frauen in Rostock. Es bietet Frauen ohne Wohnung, Wohngruppe oder sonstiges Obdach ein Dach über dem Kopf, eine Dusche und eine warme Decke. Zumindest für eine Nacht, zwischen 18 und 7 Uhr.

Ab 18 Uhr steht Sandra Robrahn bereit, öffnet den Frauen die Tür, macht den obligatorischen Corona- Test und anfallenden Papierkram. „Es muss dokumentiert werden, wer wann und wie oft hier schläft“, erklärt die 47-Jährige. Für jede Frau wird ein Prüfbogen für das Sozialamt ausgefüllt, der alle zwei Wochen erneuert werden muss. Einige kommen seit einem Jahr täglich, andere nur sporadisch, manche sind gar nicht mehr in Rostock – weitergezogen oder im Gefängnis.

Psychische Beeinträchtigungen

„Frau Sandra“ wird die gelernte Krankenschwester von den Frauen oft genannt. Für die, die reden wollen, hat Sandra Robrahn ein offenes Ohr. „Wir wollen den Menschen hier Schutz für die Nacht und in der kurzen Zeit ein bisschen Halt geben.“ Aber viele wollen das gar nicht, nicht reden, keine Beratung, keine weitere Hilfe.

„Frauen kommen fast ausnahmslos erst dann in die Übernachtungsunterkünfte, wenn sie recht auffällige psychische Störungen, Beeinträchtigungen oder Erkrankungen aufweisen“, erklärt Hartwig Vogt, verantwortlich für die Obdachlosenhilfe der Rostocker Stadtmission. Wenn sich psychische Störungen manifestiert haben, wenn die vorgezogenen Übernachtungsmöglichkeiten bei Familie, Freund:innen, mehr oder weniger Bekannten wegfallen, wenn sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, dann erst wenden sich Frauen an das Nachtasyl im Rahnstädter Weg. „Gleichzeitig verhindern die psychischen Beeinträchtigungen, dass weiterführende Hilfe angenommen wird“, erklärt der Einrichtungsleiter.

Schlafen am Strand und in Kleingartenanlagen

Die unterschiedlichsten Frauen nutzen die Notunterkunft als letzte Zuflucht für die Nacht: „Von jung bis alt, Alkoholikerinnen, Drogenabhängige, viele mit paranoider Schizophrenie – unbehandelt und ohne Diagnose“, sagt Sandra Robrahn. Die Kliniken sind voll und viele Obdachlose haben keine Krankenversicherung. Einige kommen aus anderen Bundesländern nach Rostock, weil sie ans Meer, an die Ostsee wollen. Und sind dann oft schnell wieder weg. „Viele Frauen leben schon jahrelang auf der Straße und tingeln immer von Ort zu Ort.“ Manchmal bringt die Polizei auch misshandelte Frauen zur Notunterkunft, wenn das Frauenhaus voll ist. Viele der Frauen hätten Gewalterfahrungen in ihrem Leben gemacht.

In der Wohnküche machen sich die Frauen ihr Essen. „Das müssen sie selbst mitbringen. Eigentlich.“ Im selben Raum steht eine große, beige Eckcouch, die zwei Wochen vorher gespendet wurde. Heute sitzt nur eine Frau vor dem Fernseher, schaut das Nordmagazin. Über Persönliches rede sie nicht, sagt sie. Zwei andere Frauen liegen schon im Bett. Mehr werden es heute nicht. „Es wird wärmer“, sagt Sandra Robrahn zur Erklärung. Etwa fünf Grad sind es draußen. Trotzdem sind heute ungewöhnlich wenige Frauen in der Unterkunft. „In der Regel sind es zwischen sieben und neun pro Nacht.“ In den warmen Monaten hingegen würden viele am Strand schlafen oder in verwaisten Kleingartenanlagen.

Sandra Lobrahn inspiziert Spenden im „Luna“ (Fotos: Victoria Flägel)

Die Rostocker Stadtmission betreibt die einzigen beiden Notunterkünfte für Übernachtungen: die für Frauen in Reutershagen mit zehn Plätzen und das innenstadtnahe Nachtasyl am Güterbahnhof für bis zu 25 Männer. Außerdem betreibt die Stadtmission ein Betreutes Wohnen: 130 Plätze gibt es im Integrativen Betreuungszentrum (IBZ) in 20 gemischtgeschlechtlichen und fünf Frauenwohngruppen.

Statistiken über die Anzahl Obdachloser gibt es nicht, weder in Rostock noch bundesweit. Erst ab diesem Jahr plant das Statistische Bundesamt, die Anzahl wohnungsloser Menschen zu erheben. Doch Hartwig Vogt beobachtet eine Zunahme wohnungsloser Frauen in Rostock.

Wir haben aktuell fünf reine Frauenwohngruppen, vor einigen Jahren war es nur eine. Auch die Kapazitäten des Nachtasyls haben wir vor zwei Jahren verdoppelt, von fünf auf zehn Plätze.

Hartwig Vogt, Verantwortlicher der Obdachlosenhilfe der Rostocker Stadtmission

Im Dezember 2020 zog die Notunterkunft in das Gebäude der Verwaltung des IBZ, ihren jetzigen Standort. „Alles hat sich verbessert: die Räumlichkeiten, die sanitären Einrichtungen, die Betreuung und damit die Situation der Frauen“, berichtet Vogt. Seitdem arbeitet auch Sandra Robrahn in der Notunterkunft. Zwei Stunden am Tag, entweder in der Spätschicht von 18 bis 20 Uhr oder in der Frühschicht von 6 bis 8 Uhr, abwechselnd mit einer Kollegin. Die restlichen sechs Stunden arbeitet sie im IBZ.

In der Unterkunft gibt es zwei Doppelzimmer und zwei Zimmer mit jeweils drei Betten, außerdem zwei Zusatzbetten für den Notfall. Ein Unterschied zu dem Schlafsaal im Männer-Nachtasyl mit Doppelstockbetten. „Manche würden sagen, wir hätten es den Frauen zu schön, zu gemütlich eingerichtet“, sagt Sandra Robrahn. Doch sie hätten aus wenigen Mitteln viel zaubern müssen.

Wachdienst übernimmt Nachtschicht

„Seit ich hier arbeite, konnte ich drei, vier Frauen eine dauerhafte Unterkunft vermitteln“, erzählt Sandra Robrahn. „Das macht einen schon stolz.“ Doch die meisten würden schon zu lange auf der Straße leben, wollen frei und ohne Regeln leben. „Das muss man akzeptieren.“

Um 20 Uhr kommt ihre Kollegin Kerstin Lüthke vom Wachdienst. Sie übernimmt die Nachtschicht und Sandra Robrahn hat Feierabend. „Man braucht schon starke Nerven für den Job. Und Empathie für die Bedürfnisse von Menschen“, sagt Robrahn.

20 Uhr: Dienstübergabe im Nachtasyl für Frauen „Luna“.

In Rostock gibt es außerdem ein Betreutes Wohnen für wohnungslose oder von Obdachlosigkeit bedrohte Frauen und Familien. Der Verein Charisma mietet Wohnungen in einem Block in Schmarl an und vermietet diese an die Frauen unter. Und verhindert so das Fehlen einer Unterkunft, also die Obdachlosigkeit. Viele Frauen seien mit ihren Kindern unterwegs, die sie durch eine Obdachlosigkeit verlieren würden, sagt Sozialarbeiterin Maja Schult.

Nur vereinzelte Extremfälle

Doch Charisma vermittelt nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Beratungsstellen, unterstützt mit Schuldenberatung und bei Behördengängen. Denn zur Wohnungslosigkeit kommen häufig weitere Probleme dazu: „Damit einher gehen oft Schulden, Suchterkrankungen, psychische Erkrankungen, körperliche Einschränkungen, geistige Beeinträchtigungen“, zählt Maja Schult auf.

Dennoch weist die Sozialarbeiterin darauf hin, dass es meist „ganz normale Frauen“ seien, die bei Charisma Hilfe suchen. Weil sie durch das soziale Netz fallen. Nur vereinzelt handele es sich um Extremfälle, wie Frauen aus dem Gefängnis oder Frauenhaus. Die häufigsten Gründe für Wohnungslosigkeit seien profaner, wie Mietschulden, Verstöße gegen die Hausordnung, Lärmbelästigung, manchmal auch Naivität und Unerfahrenheit. „Es ist schade, dass den Frauen durch Vorurteile so viele Chancen genommen werden.“

In der Regel dauert es zwischen sechs und zwölf Monate, bis die Frauen aus den Wohngemeinschaften aus- und in eigene Wohnungen einziehen. Etwa 60 Frauen hilft der Verein auf diese Weise im Jahr. 

Spenden:

Spenden sind sowohl in den Notunterkünften als auch im IBZ immer willkommen: Geld- sowie Sachspenden wie Hygieneartikel, aussortierte Bettwäsche, Handtücher, Geschirr oder auch Fahrkarten. Besonders gefragt sind Schuhe in den Größen 39 bis 41 und Reisetaschen.

  • Frauennachtasyl: 0381 / 80 83 23 60
  • Männernachtasyl: 0381 / 49 02 132
  • IBZ: 0381 / 86 51 90 oder 0381 / 46 136 0

Auch Charisma kann Geld- und Sachspenden immer gut gebrauchen, neben Hygieneartikeln und Kleidung insbesondere Spielsachen.

  • Charisma: 0381 / 518 76

Wichtig: bei den Einrichtungen vorher anrufen und einen Termin vereinbaren, um die Sachen vorbeizubringen.

  • Umsonstladen Budapester Str. 17: 0174 / 68 98 68 9Café Albert: 0381 / 65 03 48 3

Spendenaktionen:

Die „Eisbademeisters“ springen im Winter jeden Freitag in Warnemünde in die eisige Ostsee. Motto: #wirspringenfürwärmeinskaltewasser. Letztes Jahr kamen so 10.000 Euro für den Wärmebus des Rostocker Obdachlosenhilfevereins zusammen, und 5.000 Euro für die Tafel. Wer sich beteiligen möchte, kann mitmachen: Treffpunkt ist um 15.30 Uhr der Strandaufgang Höhe Hotel Hübner. Frostbeulen können auch einfach Geld spenden.

Die „Rostocker Weihnachtsengel“ veranstalten jährlich eine Obdachlosengala. Eigentlich. Die Veranstaltung mit Dreigängemenü, Unterhaltungsprogramm und Geschenken musste zum zweiten Mal in Folge coronabedingt ausfallen. Dennoch brachten die Weihnachtsengel etwa 150 Obdachlosen Speisen und Geschenke in die Unterkünfte.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 5 und wurde für die Onlineversion nicht aktualisiert.

Autor:in

  • Bild von KATAPULT MV Redakeurin Victoria Flägel

    Redakteurin in Rostock

    Geboren in Rostock. Aufgewachsen in Rostock. Studierte in Rostock. Und Kiel.