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Wer in Mecklenburg-Vorpommern nach erlebter Gewalt Hilfe sucht, wird schnell an die Beratungsstellen des landesweiten Hilfenetzes verwiesen. Doch die sind unterbesetzt und angesichts der steigenden Zahl der registrierten Fälle nicht mehr ausreichend.
Das haben die Beratungsstellen im September auch vor dem Landtag in Schwerin mit einer Protestaktion deutlich gemacht. „Der drastische Anstieg von gemeldeten Fällen und der daraus resultierende Beratungsbedarf erfordern dringend mehr Geld für mehr Personal bei allen fünf Interventionsstellen in MV“, sagt Axel Mielke von der Awo in Schwerin. Bereits seit Jahren fordern die Einrichtungen von der Landesregierung Verbesserungen in der Gewaltprävention (KATAPULT MV berichtete). Die Interventionsstellen und weiteren Angebote gegen häusliche und sexualisierte Gewalt oder Stalking werden überrannt und sind zugleich unterfinanziert.
Dabei wurden die Interventionsstellen eigens 2002 von der Landesregierung als Scharnier in der staatlichen Interventionskette gegen häusliche Gewalt zwischen polizeirechtlichem und zivil- und strafrechtlichem Schutz eingerichtet. Seitdem hat sich ihr Arbeitsgebiet aufgrund neuer Gewaltformen stetig erweitert. Mit der Änderung des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes 2020 wurde ihr Arbeitsauftrag sogar gesetzlich verankert.
Arbeitsaufwand für Berater:innen nimmt zu
Auch in der Fläche sollen Frauen Schutz vor Gewalt für sich und ihre Kinder finden können. In MV ist das nach wie vor selten der Fall. Dazu dauert die Anfahrt zu den bestehenden Hilfsangeboten mit öffentlichen Verkehrsmitteln oft mehr als zwei Stunden. Auch das schließe Hilfesuchende in abgelegenen Orten von vornherein aus, kritisiert das Hilfsnetz. Überdies sind etwa im Flächenlandkreis Ludwigslust-Parchim die Fallzahlen im Vergleich zum Vorjahr stark gestiegen. Wurden 2022 noch 83 Fälle mit 114 mitbetroffenen Kindern registriert, waren es zum Halbjahr 2023 bereits 74 Fälle und 83 mitbetroffene Minderjährige.
„Seit der Flüchtlingskrise 2015 verzeichnen wir zusätzlich steigende Zahlen im Bereich der Betroffenen mit Sprachbarrieren. Diese Situation wurde durch den Ukrainekrieg noch einmal verstärkt“, berichtet Ricarda Menzlin von der Interventionsstelle Anklam/Wolgast. Die Tendenz sei auch hier steigend, die Fälle würden „immer komplexer“ und der Arbeitsaufwand nehme somit zu.
Wie schnell Hilfesuchende auch diese Unterstützung verlieren können, zeigt sich an den Zahlen. Wurden im Jahr vor Corona von Menzlins Interventionsstelle noch 39 sogenannte Hochrisikofälle beraten, waren es infolge der Pandemie und Kontaktbeschränkungen im Jahr 2020 nur noch 19 Betroffene. „In diesem Jahr war die Fallzahl insgesamt rückläufig, was daran liegen kann, dass Betroffene uns nicht erreicht haben, weil sie durch die Lockdowns ständig mit ihren Tatpersonen zusammen waren“, erklärt Menzlin. Nach den Lockdowns stieg die Zahl 2021 direkt auf 50 Fälle, im Folgejahr auf 68 und in diesem Jahr bis dato auf 63 hochkritische Fälle, die die besondere Aufmerksamkeit der beiden Berater:innen für Anklam/Wolgast erfordern.
Die Zahl der Hochrisikofälle steigt landesweit dramatisch an. Doch besonders diese sehr komplexen Fälle bedürfen auch eines hohen Maßes an Aufmerksamkeit und spezifischer Fallkonferenzen und damit: Zeit. Zeit, die den zwei Berater:innen je Interventionsstelle nur begrenzt zur Verfügung steht. „Professionelle Beratung darf bei diesem Thema nicht auf dem Niveau eines Callcenters landen und unsere Mitarbeiter nicht in eine Entscheidungssituation einer Triage drängen“, sagt Awo-Bereichsleiter Steffen Marquardt. Sein Fazit: „Der Gesetzgeber beauftragt uns, Betroffenen von häuslicher Gewalt und Stalking unverzüglich professionelle Hilfe anzubieten – gleichzeitig bekommen wir immer mehr Aufgaben, die mit dem verfügbaren Personal nicht zu stemmen sind.“
Jede vierte Betroffene erlebt Nachtrennungsgewalt
Betroffene können Anzeige erstatten und sich vom Täter trennen – heißt es in den Kampagnen gegen häusliche Gewalt. Das empfehlen Innenminister Christian Pegel (SPD) und viele weitere Politiker:innen immer wieder. Dass nach einer Trennung aus einer Gewaltbeziehung die Gewalt vor allem bei gemeinsamen Kindern manchmal erst richtig eskaliert, wird seltener erwähnt. In einem Viertel der Beratungsfälle geht die Gewalt laut den Interventionsstellen trotz Trennung weiter. Psychische Gewalt durch Nachstellen und Stalking ist seit 2009 Teil des Beratungsspektrums des Hilfsnetzes. Immer öfter führe sich die Gewalt auch über familiengerichtliche Verfahren fort, die Täter ausnutzen, um weiterhin Kontrolle und Macht auszuüben, berichtet Annette Hochhardt von der Beratungsstelle für Betroffene von häuslicher Gewalt in Parchim. Fälle psychischer Gewalt unter Zuhilfenahme von Ämtern und Behörden stiegen bei allen Beratungsstellen stark an, was zu einer Ohnmacht der Betroffenen führe. Auch im Familienrecht müsste laut Hochhardt der Opferschutz dringend nachgebessert und berücksichtigt werden. „Schulungen aller Fallbeteiligten zu Täterstrategien wären hier sinnvoll, sind aber nur ansatzweise zu realisieren.“
Fortbildungen in häuslicher Gewalt unerwünscht?
Zusätzlich zur Beratungstätigkeit sollen die Interventionsstellen auch noch andere Stellen wie Polizei, Justiz oder Jugendämter zu Gewaltdynamiken, Täterstrategien und häuslicher Gewalt schulen – im Auftrag des Landes. In Anklam und Wolgast ist das jedoch Fehlanzeige. Die Justiz und die Jugendämter nähmen die Fortbildungsangebote der dortigen Interventionsstelle über häusliche Gewalt nicht an. Trotz der sehr hohen Zahlen, des klaren Bildungs- und Präventionsauftrages der Interventionsstellen und der Bestrebungen des Justizministeriums, die Zahl der Gerichtsverfahren zu reduzieren. Kooperationstreffen finden in unregelmäßigen Abständen dennoch statt. Die Fortbildungen bei der Polizei werden von der Interventionsstelle Anklam/Wolgast seit Jahren regelmäßig durchgeführt. Nur während der Pandemie kam es zu Einschränkungen.
Jedoch würden bei erhöhtem Fallaufkommen Abstriche bei Vernetzungsgesprächen und Öffentlichkeitsarbeit gemacht, so Annette Hochhardt, deren Personalstelle für den ganzen Landkreis Ludwigslust-Parchim reichen soll. Auch in Anklam und Wolgast hat die Interventionsstelle aufgrund der nicht an die Situation angepassten personellen Lage bereits Schwierigkeiten, dem gestiegenen Fallaufkommen gerecht zu werden. „Die logische Folge ist, dass zusätzliche Aufgaben dabei auf der Strecke bleiben“, berichtet Ricarda Menzlin. „Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit leiden am ehesten“, wobei gerade sie extrem wichtig für die Bekämpfung häuslicher Gewalt seien. Ihre Interventionsstelle betreute allein in diesem Jahr schon 369 gewaltbetroffene Erwachsene und 337 mitbetroffene Kinder und Jugendliche.
Vergisst der Rechtsausschuss die Gewaltprävention?
Vor allem werden auch Forderungen nach mehr Täterberatungsstellen laut. Davon gibt es derzeit in MV nur zwei. In einer Stellungnahme an den Rechtsausschuss des Landtages zur aktuellen Haushaltsdebatte betonen die Geschäftsführer:innen der Träger der Interventionsstellen, Ulrike Bartel, Kristin Frost, Reinhard Marschner und Axel Mielke, dennoch den Erfolg der Einrichtung der Interventionsstellen. Tausende Betroffene häuslicher Gewalt konnten bereits auf dem Weg in ein gewaltfreies Leben beraten werden. Gut 85 Prozent von ihnen waren Frauen. „Dies wird angesichts der stetig steigenden Fallzahlen bei gleichbleibender Personaldecke immer schwieriger. Und wenn diese Entwicklung weiter anhält, gar unmöglich“, heißt es in der Stellungnahme.
Aktuell reiche die Personaldecke nur für maximal 300 begleitete Fälle pro Jahr. „Wenn diese Fallzahl dauerhaft überschritten wird, geht dies zulasten der fachlichen Beratung, zulasten der Beraterinnen und letztendlich zulasten der Sicherheit der Betroffenen vor häuslicher Gewalt und Stalking“, senden die fünf Interventionsstellen eine gemeinsame Warnung an die Landesregierung. Seit Jahren setzen sie sich für eine Erhöhung der Personalförderung ein – vergeblich. Eine Förderung durch die Kommunen lehnt das Land ab – denn es liegt ja ein staatlicher Auftrag des Landes vor. „Im neuen Doppelhaushalt sind trotz Kenntnis aller Beteiligter keine Verbesserungen geplant“, kritisieren die Interventionsstellen.
Kann das Land so einen würdigen Gewaltschutz gewährleisten? Zu der Anhörung im Rechtsausschuss im Zuge der Haushaltsberatungen seien nicht einmal Sachverständige aus dem Gewaltschutz im Bereich „Frauen und Gleichstellung“ eingeladen worden, auch nicht beim Thema „Frauen und Männer in Krisensituationen“, kritisieren die Beratungsstellen weiter.
Sie finden ernste Worte: „Wir, die Träger der Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt und Stalking, müssen nun Alarm schlagen. Angesichts der teils dramatischen Steigerung der Fallzahlen ist es uns kaum noch möglich, unserem gesetzlichen Auftrag nachzukommen“, appellieren die Leiter:innen an den Rechtsausschuss und stellen die Frage: „Warum wird hier vom öffentlich propagierten Ziel, häusliche Gewalt zu stoppen und Betroffene zu unterstützen, Abstand genommen?“ Für den kommenden Doppelhaushalt 2024/2025 fordern sie ausreichende Finanzmittel, um ihren Auftrag erfüllen zu können. Sie befürchten, auch in den kommenden zwei Jahren mit der derzeitigen Ausstattung zurechtkommen zu müssen. Ricarda Menzlin wird deutlich: „Sollten diese Aufstockungen nicht kurzfristig erfolgen, nimmt die Landesregierung in Kauf, dass das Hilfenetz kollabiert. Schließlich ist die Situation bereits seit Jahren bekannt.“
Dass das Hilfenetz in seiner jetzigen Form überhaupt noch arbeitsfähig ist, liege einzig am überdurchschnittlichen Engagement der Menschen, die dort arbeiten, erzählen Berater:innen aus Anklam und Stralsund gleichermaßen: „Auch für diese Menschen, auch gesundheitlich, hat die Landesregierung Verantwortung zu tragen. Wir arbeiten im Auftrag des Staates.
Der 25. November ist der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. In MV finden jährlich verschiedene Veranstaltungen des Beratungs- und Hilfsnetzes zum Thema statt.
Alle Beratungsstellen des Hilfenetzes in MV und mehr zum Thema häusliche Gewalt findet ihr unter katapult-mv.de/thema/gewalt.
Der Artikel erschien zuerst in unserer gedruckten Novemberausgabe.
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Autor:innen
Redakteurin bei KATAPULT MV.