Corona-Demos in Schwerin
Versammlungsrecht zwingt „Querdenker“, mit Neonazis zu marschieren
Von Martin Schöler
Lesedauer: ca. 6 Minuten
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Man müsste schon die Augen fest verschließen, um Neonazis, Antisemit:innen und Reichsbürger:innen zu übersehen, die die Demos gegen die Corona-Politik zur Selbstinszenierung nutzen. Dass sich der Anmelder einer „Querdenker“-Demonstration vor einem Neonazi aufbaut, um ihm offen ins Gesicht zu sagen, er sei nicht länger willkommen, hat Seltenheitswert. In der Landeshauptstadt war am vergangenen Samstag nun genau dieser seltene Fall eingetreten. Bekanntermaßen melden mancherorts Akteure der AfD, der Neuen Rechten und Rechtsextremisten selbst die verschwörungsideologischen Aufzüge an.
Anmelder Daniel Gurr hatte von den Umtrieben eines gewissen Sven W. genug. Jener Sven W. ist seit rund zwei Jahrzehnten in der rechtsextremen Szene aktiv. Der 46-Jährige engagierte sich viele Jahre im Bremer Umland für die NPD. Zeitweilig stand er einem Kreisverband der Neonazipartei vor. Heute wohnt er in Schwerin. In der Landeshauptstadt fiel der Rechtsextremist zuletzt als regelmäßiger Teilnehmer an Gurrs Corona-Demos auf.
Neonazis führen Anmelder hinters Licht
Am 5. Februar nahm in Schwerin erstmals eine größere Gruppe Neonazis als geschlossener Block an der Demonstration teil. Die Rechten führten zwei rote Transparente mit sich. „Das System schadet dem Volk, nicht die Ungeimpften!“, war in weißer Schrift auf dem einen zu lesen. „Nur der Freiheit gehört unser Leben!“, auf dem anderen. Dass dies der Titel eines NS-Propagandalieds der Hitlerjugend ist, ist freilich nur Szenekennern bekannt. Daniel Gurr hegte Zweifel an der Einordnung der jungen Männer. Der Versammlungsleiter fragte direkt nach: Seid ihr eine politische Gruppe? Gehört ihr einer Partei an? Die Männer, von denen manche blaue Tücher mit dem Aufdruck „Gegengift“ um den Hals trugen, verneinten. Einer von ihnen: Sven W.
Gurrs politische Gegner:innen fordern seit Wochen eine Distanzierung von den Neonazis, die an den Aufzügen teilnehmen. Aber woher soll ein Daniel Gurr wissen, wer Sven W. ist? Oder dass die Kampagne „Gegengift“ von Aktivisten aus dem Dunstkreis der NPD-Nachwuchsorganisation „Junge Nationalisten“ initiiert worden sein soll?
Gurr war vor Ausbruch der Pandemie politisch nicht sonderlich engagiert. Nach eigenem Bekunden organisiere er die Demonstrationen in der Landeshauptstadt, weil er wahrnehme, wie sehr manche Menschen unter den Maßnahmen leiden würden. Mit der rechten Szene, ihren Akteur:innen, ihren Chiffren und Codes dürfte sich der bekennende Christ nicht sonderlich gut auskennen.
An seinen Veranstaltungen nehmen Menschen aus nahezu allen sozialen Schichten teil. Pfleger:innen marschieren Seite an Seite mit Handwerker:innen. Ärzt:innen laufen ebenso mit wie Gymnasiast:innen, Lehrer:innen, Künstler:innen und Ökolandwirt:innen. Viele Teilnehmer:innen haben bereits das fünfte Lebensjahrzehnt erreicht oder überschritten. Auffällig ist, dass sich nur vereinzelt Personen mit einem äußerlich erkennbaren Migrationshintergrund beteiligen. Parteipolitisch ist in erster Linie die AfD sehr präsent. Die Schweriner Landtagsabgeordnete Petra Federau lässt kaum eine Demonstration aus. Mitglieder der „Querdenker“-Partei „Die Basis“ waren bereits mit einem eigenen Transparent zugegen.
Die Veranstalter:innen stören sich an derlei Auftritten nicht, solange das Anliegen der Demonstration gewahrt bleibt und weder Parteisymbole gezeigt noch Werbemittel verteilt werden. Man wolle nicht zu einer Spaltung der Gesellschaft beitragen, indem man rechte Politiker:innen von der Versammlung ausschließe.
Einige Mitorganisator:innen scheinen durchaus gewisse Sympathien für die AfD zu hegen. Gurr selbst bewarb auf seinem privaten Telegram-Kanal im vergangenen August den Wahlkampfauftakt der Rechtspopulisten in Schwerin. Ein Ordner erklärte dem Autor am vergangenen Montag, die AfD sei im Augenblick die Partei, die sich im Bundestag am stärksten für die Grundrechte einsetze. Die Verfassungsschutzbehörden stufen die AfD indes unverändert als einen sogenannten Verdachtsfall ein.
Diese Einschätzung kommt sicher nicht von ungefähr. In Schwerin fiel ein Sympathisant zuletzt mit harscher Kritik an Gurrs Distanzierungen auf. Der Blogger Norbert Höfs, im Jahr 2019 kurzzeitig für die AfD stellvertretendes Mitglied in einem Schweriner Ortsbeirat, wirft dem Anmelder deswegen „Spaltung“ vor.
Neonazis hielten sich nicht an Regeln
Anders als die AfD-Politiker:innen hielten sich die Neonazis am 5. Februar nicht an die Spielregeln des Veranstalters. Gurrs Fragen beantworteten die Rechten mit einem Nein. Während des Aufzugs verteilten sie Werbemittel der NPD. Außerdem skandierten sie einschlägig bekannte Parolen. „Das System ist am Ende. Wir sind die Wende.“ Gurr war sichtlich bedient.
Noch während der Abschlusskundgebung ging der Politaktivist das erste Mal auf Distanz. Weitere Distanzierungen folgten während der nächsten Demo zwei Tage später und auf seinen Telegram-Kanälen. Am Samstag wies Gurr seine Anhänger:innen zu Beginn auf die Gegenwart von Neonazis hin. „Wenn es ganz klar extremistische Sachen gibt, dann muss man sich davon distanzieren.“ Die meisten Anwesenden spendeten Beifall.
Polizeieinsatz beschäftigt Innenministerium
Der Vorgang beschäftigt mittlerweile das Innenministerium, wie uns auf Anfrage bestätigt wird. Im Dezember, als die Protestwelle ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, hatten Politiker:innen der demokratischen Fraktionen im Landtag die Demonstrant:innen aufgefordert, sich von Extremist:innen in ihren Reihen zu distanzieren.
„Schauen Sie auch nach rechts und links, mit wem Sie gehen!“, forderte etwa Innenminister Christian Pegel (SPD). „Das ist nicht ein Sprechen gegen den Protest, aber ein klares Plädieren für eine Distanzierung zu denen, die das jetzt lediglich nutzen wollen, um erneut Destabilisierung zu betreiben, die den Staat in Gänze ablehnen.“ Sein Ministerium teilte KATAPULT MV am Montag mit, den Vorfall genauestens untersuchen zu wollen.
Sollte sich im Ergebnis herausstellen, dass die Voraussetzungen für einen Ausschluss von Sven W. nicht vorgelegen haben, wird sich die Polizei die Frage gefallen lassen müssen, ob nicht weniger einschneidende Maßnahmen hätten ergriffen werden können, um dem Anliegen der Versammlungsleitung Rechnung zu tragen. Rechtlich denkbar wären beispielsweise gezielte Gefährderansprachen oder Vorkontrollen auffälliger Personen. „Ich habe den Eindruck, man wolle uns dadurch absichtlich in die rechte Ecke drängen“, beklagte sich Gurr gegenüber KATAPULT MV. Sven W. wollte sich uns gegenüber nicht zu dem Vorgang äußern.
Neonazis verübten bereits Straftaten auf Demos
Dass von den Rechsextremisten sehr konkrete Gefahren für andere Menschen auszugehen scheinen, beweist eine Begebenheit am Rande der Demonstration am 5. Februar. Sven W. hatte sich an diesem Tag ein Reizstoffsprühgerät eingesteckt. Bei Demonstrationen gilt in Deutschland striktes Waffenverbot. Polizisten fertigten während der Abschlusskundgebung auf dem Alten Garten eine Strafanzeige.
Am vergangenen Samstag unterblieb allerdings eine Durchsuchung seiner Taschen – trotz Wiederholungsgefahr. Die Polizisten sprachen Sven W. nicht einmal persönlich an. Dabei wurde Sven W. während der Unterredung mit Gurr erneut straffällig, indem er einen anwesenden Journalisten beleidigte. Der Vorfall fand später Eingang in die amtliche Pressemitteilung. Ein Begleiter von Sven W. musste sich gegen Ende der Veranstaltung einer Identitätsfeststellung unterziehen. Der Staatsschutz ermittelt gegen den Mann wegen versuchter Nötigung und mehreren Äußerungsdelikten. Er hatte während der Abschlusskundgebung am 29. Januar einen Fotografen beschimpft und bedroht.