Abholen statt abhängen

Seismograph Vorpommern

Eine aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, dass Bund und Land Politik machen, die an der Lebensrealität im strukturschwachen Raum vorbeigeht. Gerade Menschen in wirtschaftlich schlechtergestellten Regionen erleben einen Alltag, den die Politik nicht berücksichtigt. Das hat Folgen.

Die rot-rote Landesregierung hat im aktuellen Koalitionsvertrag vereinbart, dass Mecklenburg-Vorpommern bis 2040 klimaneutral sein soll. Der Bund will bis 2045 nachziehen. Richtig ist: Das Klima wandelt sich. Wir erleben Dürren und Fluten, die immer extremer werden.

Richtig ist auch: Viele Menschen in MV fühlen sich übergangen. Vor allem an strukturschwachen Räumen rauscht die politische Themensetzung vorbei. Die anstehenden Umbrüche bringen vor allem für Menschen in diesen Regionen besondere Herausforderungen mit sich, schlussfolgert eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Aus Sicht der Befragten nimmt das Klima eine wichtige, aber nicht die entscheidende Rolle ein. Stattdessen beschäftigen die Menschen Themen wie die soziale Spaltung, ein mangelnder gesellschaftlicher Zusammenhalt oder Ungerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft.

Die Lebensbedingungen von Menschen in strukturschwachen Räumen sind gekennzeichnet von sozialer Ungleichheit und dem Gefühl, als Region ausgegrenzt zu sein. Dazu kommt die Angst vor einer Abwärtsspirale und vor Perspektivlosigkeit, denn schon jetzt mangelt es in Regionen wie Vorpommern an Infrastruktur vor Ort sowie Freizeit- und Kulturangeboten.

Bruch zwischen Politik und Lebenswirklichkeit

Zwischen Politik und der Lebenswirklichkeit vieler Menschen in strukturschwachen Räumen besteht ein Bruch in der Wahrnehmung von Problemen. Politikerinnen betrachten Probleme oft kollektiv und international, Menschen in strukturschwachen Regionen hingegen tun dies eher persönlich und regional. Die Dringlichkeit auf der einen Ebene entspricht nicht der Dringlichkeit auf der anderen. Die großen Probleme des Landes und des eigenen Alltags werden unterschiedlich identifiziert, heißt es bereits in einer Studie von 2018. Während sich die Bundesregierung mit Themen wie Migration und Krieg sowie der Klimakrise beschäftigt, sind strukturschwache Räume von unsicheren Arbeitsbedingungen und einer schwindenden sozialen Infrastruktur geprägt. Medien und Politik, so schlussfolgert Johannes Hillje, der Autor der Studie, beachten die Themen der Menschen nur ungenügend und erzeugen dadurch ein Gefühl der Benachteiligung.

Damit wächst die Wahrnehmung, dass Politikerinnen Prioritäten entgegen der Lebensrealität der Menschen setzen. Diese seien nicht grundsätzlich falsch, gingen aber zulasten von Investitionen vor Ort. Gegen die Klimakrise will Deutschland bis 2045 etwa fünf Billionen Euro investieren, rund 191 Milliarden pro Jahr. Herausforderungen wie ein steigender ökonomischer Druck auf Geringverdienende oder Lücken in der Daseinsvorsorge bleiben jedoch erhalten.

So entstehen soziale und geografische Gesellschaftsräume, aus denen sich die Politik gefühlt zurückgezogen habe. Vorpommern ist eine dieser Regionen. Dort herrsche ein toxischer Mix aus den „Erfahrungen der Neunziger- und Zweitausenderjahre, der von der Politik nicht beachtet wurde“, sagt Erik von Malottki. Er meint Abwanderung, niedrige Löhne, Perspektivlosigkeit. Von Malottki ist Bundestagsabgeordneter der SPD für den Wahlkreis 16, der Teile Vorpommern-Greifswalds und des östlichen Mecklenburgs umfasst.

Soziale Ungleichheit durch Entfremdung

Während Ballungsräume immer stärker entwickelt werden, fallen bundesweit ländliche und ehemalige industrielle Regionen zurück. Seit Jahren bekannte Herausforderungen wie bezahlbarer Wohnraum und attraktive Mobilitätsangebote werden dort nicht ausreichend angegangen. In diesen Regionen erleben Menschen den Abbau von Sozial- und Verkehrsinfrastruktur in ihrer unmittelbaren Umgebung, was ein Gefühl der persönlichen Entwertung erzeugt.

„Ich komme immer wieder mit Menschen in der Region ins Gespräch und höre die These, dass Deutschland am Ende ist“, berichtet von Malottki über Begegnungen mit Bürgerinnen in seinem Wahlkreis. Es fehle eine Perspektive. Wenn soziale und materielle Fragen in diesen strukturschwachen Regionen nicht geklärt werden, verhärtet sich die bereits bestehende negative Tendenz, glaubt von Malottki. Die Ergebnisse der FES-Studie zeigen: Gerade im Osten Deutschlands und so auch in Vorpommern wird deutlich, dass die Menschen in Regionen, die bereits einen Strukturwandel durchgemacht haben, sensibel auf soziale Ungerechtigkeiten reagieren und Angst vor einem persönlichen Absturz haben.

Niedriglohnland Vorpommern

Zu von Malottkis politischen Positionen gehört deshalb auch die Forderung nach besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen. Im Bundesvergleich betrachtet er seinen Wahlkreis und Vorpommern insgesamt kritisch. Die Region sei „ein Seismograph“. Steigende Energiepreise, steigende Gaspreise, steigende Inflation, dazu niedrige Löhne und Renten – all das drücke hier schneller auf die soziale Lage als andernorts. Gerade in Vorpommern hat das negative Auswirkungen, denn dort ist das Lohnniveau noch niedriger als in Mecklenburg.

Im Jahr 2020 betrug der durchschnittliche Bruttolohn je Arbeitnehmerin in Deutschland 36.951 Euro. In Meck-Vorp lag er bei 30.919 Euro – und damit 16,3 Prozent darunter. Bundesweit sind es die niedrigsten durchschnittlichen Bruttolöhne. Und während Arbeitnehmerinnen in Mecklenburg brutto 31.361 Euro bekamen, waren es in Vorpommern nur 29.556 Euro. „Energiepreisdeckel und Gaspreisdeckel sind in Vorpommern dringlich“, sagt von Malottki, um Entlastung zu schaffen. Allerdings trifft das auch auf Mecklenburg zu.

Das monatliche Haushaltsnettoeinkommen in MV betrug im Jahr 2018 2.838 Euro, während es deutschlandweit bei 3.661 Euro lag. Nachdem sie ihre privaten Konsumausgaben etwa für Lebensmittel, Wohnen, Kleidung und so weiter getätigt hatten, konnten Haushalte in MV pro Monat durchschnittlich 571 Euro ansparen, bundesweit waren es im Schnitt 957 Euro. Jede Arbeitsstunde wurde in MV mit durchschnittlich 22,84 Euro vergütet, was 79,4 Prozent des Bundesdurchschnitts entspricht.

Den Menschen in MV geht es finanziell deutlich schlechter als dem Bundesdurchschnitt. Und neben den niedrigen Löhnen spielen auch die Erfahrungen der Vergangenheit eine Rolle für die schwache strukturelle Entwicklung der Region. Über Jahrzehnte sind die Herausforderungen gleich geblieben: hohe Arbeitslosigkeit, Abwanderung, Perspektivlosigkeit, Hartz-IV-System.

Historisch bedingte Politikverdrossenheit

„Vorpommern ist auch ein Seismograph, weil die Demokratiegefährdung hier besonders hoch ist. Wir haben eine hohe Politikverdrossenheit und deshalb leider auch wenig Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie“, urteilt von Malottki. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann er seinen Wahlkreis denkbar knapp mit einem halben Prozentpunkt vor dem Kandidaten der AfD.

Diese Politikverdrossenheit begründet Jan Müller, Dozent am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock, mit den Brüchen und einschneidenden Veränderungen der Wiedervereinigung und Nachwendezeit. Die politischen und wirtschaftlichen Systemwechsel hin zu Demokratie und Marktwirtschaft waren von Beginn an vielfältig und vielschichtig und sind bis heute nicht abgeschlossen. Zwischen Ost und West gebe es weiterhin ein unterschiedliches Demokratieverständnis, erklärt Müller. In Ostdeutschland sei etwa der Wert der Gleichheit wichtiger als in der ehemaligen BRD.

Diese Unzufriedenheit mit der Demokratie gehe jedoch nicht immer mit einer Ablehnung einher. „Hier geht es auch um den Output eines politischen Systems“, wie es Müller beschreibt. Wenn Lebensbedingungen ungleich sind, dann kann auch die Bewertung der politischen Rahmenbedingungen negativ ausfallen.

Dass das Gefühl des Abgehängtseins aus den Brüchen der Nachwendezeit bis heute bestehen bleibt, liege auch daran, dass Erinnerungen und Erfahrungen zwischen den Generationen weitergegeben werden, so der Politikwissenschaftler. „Diejenigen, die Arbeitsplatzverlust und Entwurzelung erfahren haben und in den strukturschwachen Regionen geblieben sind, geben diese Erfahrungen natürlich weiter.“

Wenn dazu noch despektierlich berichtet wird und politische Wertschätzung nur anlässlich von Wahlen erfolge, ergeben sich negative Konsequenzen, so Müller. Gepaart mit niedrigen Löhnen und geringen Altersbezügen entstehe eine Verdrossenheit gegenüber politischen Prozessen. Dass sich die Lebensqualität auch in strukturschwachen Regionen wie Vorpommern seit 1990 verbessert hat, ist dabei kaum relevant. „Der Vergleichspunkt ist eben nicht der ländliche Raum in Polen, sondern das Stuttgarter Umland.“

Erik von Malottki erkennt in Vorpommern „eine Grundglut, die durch steigende Energiepreise und die aktuellen Krisen angefacht wurde“. Beides könne als Brandbeschleuniger für den Unmut der Menschen dienen.

Auch aus politikwissenschaftlicher Sicht seien Menschen in strukturschwachen Regionen von Krisen besonders betroffen, „weil sie über weniger Sicherheiten und Rücklagen verfügen“, erklärt Jan Müller.

Aufgaben und Chancen

Die Stärkung und Entwicklung dieser strukturschwachen Räume ist dabei keine eigenständige Aufgabe. Sie muss als integraler Bestandteil einer zukunftsorientierten Politik betrachtet werden, analysieren die Autorinnen der FES-Studie. „Wir brauchen Lösungen, die über marktwirtschaftliche Prinzipien hinausgehen“, erklärt von Malottki. Für ihn beginne eine regionale Entwicklung mit einer positiven Erzählung der strukturschwachen Regionen.

Dabei gehe es vor allem darum, Menschen zurückzuholen und auch zu halten. Ein Zuzug von Fachkräften gehöre ebenfalls dazu. Im Kern gebe es bereits erste Schritte in diese Richtung, aber es müssten noch viele weitere folgen. „Das ist auch Aufgabe der demokratischen Politik.“ Sie müsse Anstöße zur Veränderung geben, meint der Bundestagsabgeordnete. Das könne nicht allein mit Geld geregelt werden.

Sollen strukturschwache Räume eine Chance erhalten, brauchen die Menschen dort Möglichkeiten zur Gestaltung und Mitsprache sowie das Gefühl, gehört zu werden. Das Versprechen von Gleichheit und Gerechtigkeit durch Mitbestimmung, Transparenz, Zugang zu Informationen und Ämtern muss mit finanziellen und sozialen Maßnahmen gemeinsam gedacht und umgesetzt werden. „Gute Zukunft braucht Demokratie“, stellt von Malottki heraus. Es braucht aber auch eine stabile lokale Wirtschaft und soziale Teilhabe. Wenn Menschen außerdem Respekt und Wertschätzung für ihre Lebensleistungen entgegengebracht werden, kann das den demokratischen Prozess zusätzlich stärken.

Diese Erkenntnis ist nicht neu, allein umgesetzt wird sie bisher kaum. Bereits in der Studie von 2018 werden konkrete Felder aufgeführt, auf denen die Politik tätig werden sollte, um das Vertrauen der Menschen in strukturschwachen Regionen zurückzugewinnen. Dazu zählen Solidarität nach innen und außen und eine Stärkung der Sozial- und Verkehrsinfrastruktur, um gerechte Chancen zu fördern. Der Strukturwandel muss aber auch in einer Geschwindigkeit umgesetzt werden, die die Menschen vor Ort mitgehen können. Und es braucht zivilgesellschaftliches Engagement der Politik auf lokaler Ebene mit einem Selbstbewusstsein gegen rechtspopulistische Erzählungen.

Räume, in denen all dies nicht oder nur schwer zu finden ist, als Seismograph für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zu verstehen, hält Politikwissenschaftler Müller für richtig. Es sei Aufgabe der Politik, vor Ort zu sein, zu handeln und zuzuhören, bevor es ein „Erdbeben“ gibt.

Quellen

  1.  Fröhlich, Paulina; Mannewitz, Tom; Ranft, Florian: Die Übergangenen, S. 3, auf: fes.de (2022).- Für die Studie wurden in Vorpommern-Greifswald Menschen vorrangig in Pasewalk, Torgelow und Wolgast befragt.
  2. Ebd.
  3. Autor nutzt generisches Femininum.
  4. Fröhlich, Paulina; Mannewitz, Tom; Ranft, Florian: Die Übergangenen, S. 13, auf: fes.de (2022).
  5. Hillje, Johannes: Rückkehr zu den politisch Verlassenen, S. 2, auf: progressives-zentrum.org (2018).
  6. Kreditanstalt für Wiederaufbau (Hg.): Klimaneutralität bis Mitte des Jahrhunderts erfordert Investitionen von 5 Billionen EUR, auf: kfw.de (7.10.2021).
  7. Hillje, Johannes: Rückkehr zu den politisch Verlassenen, S. 2, auf: progressives-zentrum.org (2018).
  8. Fröhlich, Paulina; Mannewitz, Tom; Ranft, Florian: Die Übergangenen, S. 21, auf: fes.de (2022).
  9. Hillje, Johannes: Rückkehr zu den politisch Verlassenen, S. 20, auf: progressives-zentrum.org (2018).
  10. Fröhlich, Paulina; Mannewitz, Tom; Ranft, Florian: Die Übergangenen, S. 14/15, auf: fes.de (2022).
  11. Malottki, Erik von: Positionen, auf: erikvonmalottki.de.
  12. Statistisches Amt MV (Hg.): Bruttolöhne und -gehälter sowie Arbeitnehmerentgelt der Wirtschaftsbereiche in den kreisfreien Städten und Landkreisen Mecklenburg-Vorpommerns, S. 5, auf: laiv-mv.de (5.7.2022).
  13. Statistisches Amt MV (Hg.): Statistisches Jahrbuch 2021, S. 307, auf: laiv-mv.de (Oktober 2021).
  14. Eigene Berechnung, Grundlage: Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern (Hg.): Bruttolöhne und -gehälter sowie Arbeitnehmerentgelt der Wirtschaftsbereiche in den kreisfreien Städten und Landkreisen Mecklenburg-Vorpommerns, S. 13, 17, 21, 25, 29, 33, 37, 41, auf: laiv-mv.de (5.7.2022).
  15. Statistisches Amt MV (Hg.): Statistisches Jahrbuch 2021, S. 81, auf: laiv-mv.de (Oktober 2021).
  16. Eigene Berechnung, Grundlage: Ebd., S. 83.
  17. Ebd., S. 308.
  18. Der Bundeswahlleiter (Hg.): Bundestagswahl 2021, auf: bundeswahlleiter.de.
  19. E-Mail von Jan Müller vom 15.11.2022.
  20. Ebd.
  21. Fröhlich, Paulina; Mannewitz, Tom; Ranft, Florian: Die Übergangenen, S. 24, auf: fes.de (2022).
  22. Ebd., S. 3.
  23. Ebd., S. 27.
  24. Ebd., S. 3.
  25. Hillje, Johannes: Rückkehr zu den politisch Verlassenen, S. 2, auf: progressives-zentrum.org (2018).

Autor:in

  • Freier Redakteur

    Ist KATAPULT MVs Inselprofi und nicht nur deshalb gern am Wasser. Nutzt in seinen Texten generisches Femininum.