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Per Anhalter durch MV

Unterwegs mit Pappschild und Schokolade

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Lesedauer: ca. 10 Minuten

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„Ich will Richtung Stralsund. Können Sie mich ein Stück mitnehmen?“, frage ich durch das Beifahrerfenster. „Na, ich hab nicht angehalten, um die Aussicht zu genießen!“, ruft der Fahrer und winkt mich rein. So beginnt meine Reise. Ich will durch Mecklenburg-Vorpommern fahren – per Anhalter. Das Neun-Euro-Ticket durchkreuzt dieses schon lange gefasste Vorhaben ein bisschen. Aber für mich ist per Anhalter fahren nicht nur eine Möglichkeit, schnell und günstig von A nach B zu kommen, was ich jetzt auch mit dem Zug könnte, sondern ein Abenteuer. Ich bin gut vorbereitet, habe Pappe und zwei Eddings dabei (wenn man nur einen hat, geht er zu hundert Prozent verloren oder ist nach einem Wort leer), Frust-Schokolade (essenziell, wenn man alleine unterwegs ist) und eine Straßenkarte.

Wie das früher so war

Stefan, der nicht angehalten hat, um die Aussicht zu genießen, sondern nur für mich, hat drei Sekunden, nachdem ich mich an den Straßenrand gestellt hatte, gehalten. Besser könnte es nicht laufen. „Wo kommst du her, wo willst du hin?“, fragt er, und weil ich gerade erst gestartet bin und noch nichts Spannendes zu erzählen habe, erzählt er dann selbst: Davon, wie er früher per Anhalter gefahren ist, als er als Wehrpflichtiger nach Hause wollte, und wie viele das damals noch gemacht haben. „Heute sieht man das ja fast gar nicht mehr. Schade eigentlich, davon profitieren ja beide, einer kann umsonst durch die Gegend fahren und für den anderen ist die Fahrt nicht so langweilig.“ Ich freue mich, dass durch mich Stefans Autofahrt weniger langweilig ist, und noch mehr darüber, dass ich ein Stück vorankomme. Stefan fährt mich extra an eine Stelle, von wo aus ich gut weiterstoppen kann – nach Tremt. Ich bin also nach Tremt getrampt, wie passend.

Hoch motiviert schreibe ich auf mein neues Schild „Rostock“, und frage mich, wieso eigentlich nicht mehr Menschen per Anhalter unterwegs sind. Die Praxis gab es sogar schon, bevor es Autos gab. In den 1960ern und 70ern wurde per Anhalter fahren richtig populär. Aber der Trend hat nicht bis heute angehalten. Heute haben viel mehr Menschen ein eigenes Auto, es gibt Online-Mitfahrzentralen (wie Blablacar oder Uber) und günstige Fernbusse oder Flüge als Alternative zum Trampen.

Nachdem einige Autos an mir vorbeigefahren sind, hält eines an. Annegret ist circa 70 und unterwegs zu ihrem Pferdestall. Sie erzählt viel von ihrer Heimat, die zufällig auch die Heimat meiner Großeltern ist. Wir unterhalten uns prima. Sie fährt bis Niepars, einem kleinen Dorf hinter Stralsund. So sehe ich von Stralsund zwar nur die Kirchturmspitzen im Vorbeifahren, aber ich bleibe auf der Landstraße und komme schnell voran.

Die wahre Gefahr

Auch in Niepars muss ich nicht besonders lange warten, bis mich jemand mitnimmt: Ralf. Das Erste, was Ralf mir sagt, ist: „Das ist aber gefährlich, per Anhalter zu fahren.“ Als wir zehn Sekunden später mit 130 über die Landstraße rasen, denke ich: Na, bei Ihnen mitzufahren ist wirklich gefährlich! Der ältere Mann sagt noch mal eindringlich: „Wissen Sie, was da schon alles passiert ist, wenn man so an der Straße steht?“ Ich sage nicht, dass ich größere Angst davor habe, mit ihm im Straßengraben zu enden, als beim Anhalten entführt zu werden. Er überholt einen LKW an einer sehr unübersichtlichen Stelle. Ich frage, wo er hinwill, und ob er es eilig hat. „Nee nee, ich bin ja Rentner, ich hab Zeit“, sagt Ralf, bremst abrupt ab und zeigt auf den Straßenrand: „Da steht ein Blitzer.“ Aha, denke ich, gut zu wissen.

„Wieso fährst du eigentlich nicht einfach Zug mit dem Neun-Euro-Ticket?“, fragt Ralf. Wieso sollte ich mich in einen überfüllten Zug quetschen, wenn ich stattdessen Fortbewegung, Achterbahn und Unterhaltungsprogramm in einem haben kann?, denke ich und sage: „Na ja, ein bisschen aus Abenteuerlust.“ Ralf schüttelt verständnislos den Kopf, fährt über eine sehr dunkelorange Ampel und sagt: „Aber da kann dir ja wer weiß was passieren, dass dich jemand mitnimmt und …“ Ralf beendet den Satz nicht, aber ich denke: „... und fährt wie ein Irrer?“ Ja, ganz ungefährlich ist das Ganze wohl doch nicht. Definitiv schneller, als es erlaubt gewesen wäre, sind wir in Ribnitz-Damgarten angekommen, wo Ralf mich rauslässt. Zum Abschied ruft er mir noch hinterher: „Immer schön vorsichtig sein!“. Ich entgegne: „Ja, Sie auch!“, aber an seinem verdutzten Blick merke ich, dass er nicht verstanden hat, dass ich auf seinen Fahrstil anspiele.

Laufen statt fahren

Ich esse ein Stück Schokolade. Zur Beruhigung. Ribnitz-Damgarten mit den bunten Häusern, dem Hafen und dem Meer fühlt sich an wie Urlaub. Aber lange kann ich nicht bleiben. Erst mal muss ich wieder zur Landstraße kommen, und das bedeutet ein ganzes Stück zu Fuß gehen. Obwohl es „per Anhalter fahren“ heißt, verbringt man oft mehr Zeit mit laufen. Wo ich mich hinstelle, entscheide ich nach drei Kriterien: es sollten viele Autos vorbeikommen, die nicht nur zum nächsten Supermarkt fahren, ich muss von der Straße aus gut sichtbar sein, und es muss eine Möglichkeit geben, wo Autos anhalten können.

Nach vier Kilometern Fußmarsch finde ich so eine Stelle. Erst fahren viele Autos an mir vorbei, und mit jedem einzelnen sinkt meine Zuversicht ein bisschen. Es gibt ja Menschen, die um die ganze Welt reisen, nur per Anhalter. Stephan Schlei, ein Deutscher, hielt mit einer Million Kilometern zeitweise den Rekord. Das ist 150-mal um die Erde. Es gibt Tramprennen und manch einer fährt ja sogar per Anhalter durch die Galaxis.

Und dann hält doch noch wer. Manfred, der kurz hinter Rostock wohnt und gerade von der Arbeit kommt. Er arbeitet für eine Supermarktkette. Weil er ein Hemd trägt und anscheinend mittags schon Feierabend macht, gehe ich davon aus, dass er dort nicht hinter der Kasse sitzt, sondern eine Führungsposition hat. Oder anders gesagt: Hauptberuflich Ausbeuter, denke ich und frage, was er genau macht. „Den besten Job der Welt“, antwortet Manfred. Ausbeuter aus Überzeugung? Diese Begeisterung für seinen Job überrascht mich. Ein profitorientierter, skrupelloser Geschäftsmann, und dann auch noch stolz darauf? „Ich bin Betriebsrat“ sagt Manfred, „ich werde quasi für die Beschwerdegespräche bezahlt, die man sonst beim Mittag oder nach der Arbeit führt. Ich hab quasi den ganzen Tag Mittag!“ Den ganzen Tag Mittag. Und mittags Feierabend? Klingt echt nicht schlecht. Ich werfe direkt alle meine Vorurteile gegenüber Leitungspersonen von Supermarktketten über Bord.

Die Fahrt gerät ins Stocken

Manfred fährt mich netterweise direkt ins Zentrum von Rostock und ich bin schneller als erhofft an einem großen Zwischenziel angekommen. In Rostock kenne ich jemanden, der Rostock kennt. Er zeigt mir die Stadt ein bisschen und will mich auch wieder zur Bundesstraße 105 bringen, von wo aus ich weiterwill. Ich bin froh, mal nicht selbst den Weg suchen zu müssen. Aber irgendwann kommt die Richtung mir doch nicht ganz richtig vor und ich schaue auf die Karte. Leider gibt es die B 105 auf beiden Seiten Rostocks, wir waren also genau in die entgegengesetzte Richtung unterwegs. Also Kehrtwende und wieder zurück. Aber geteiltes Leid ist halbes Leid. Geteilte Schokolade ist leider auch halbe Schokolade.

Und dann muss ich noch ein ganzes Stück weiterlaufen, direkt an einer vierspurigen Straße. Viel zu viele Schilder zeigen in Richtungen, in die ich nicht fahren will. Und mein kleines Pappschild wird zu oft übersehen. Also laufe ich noch weiter. Inzwischen habe ich Sonnenbrand, schmerzende Füße und Schultern und nicht mehr so große Motivation, weiterzumachen. Aber es gibt ja keine Alternative, also bleibe ich stehen, halte mein Schild raus und setze ein gezwungenes Lächeln auf. Und dann hält Matthias.

Zwielichtige Männer

Matthias, der mich einfach „Mädel“ nennt und den ich im Gegenzug Mats nennen darf, ist Heavy-Metal-Fan, Autofan und Hansa-Fan. Ich bin nichts davon. Nachdem wir festgestellt haben, dass wir wenige gemeinsame Gesprächsthemen haben, und uns dann fünf Minuten lang peinlich anschweigen, fragt er: „Wieso fährst du denn nicht mit dem Zug mit dem Neun-Euro-Ticket?“ Das frage ich mich langsam auch. Ich sage: „Ich hab Siderodromophobie, das bedeutet Angst vor Zügen.“ Sollte ein Witz sein. Mats versteht nur Bahnhof. Ich will nicht, dass er mich für verrückt erklärt und direkt rauswirft, also lenke ich schnell ab und frage, wo er hinfährt. „Nach Kröpelin.“ Mithilfe meiner Straßenkarte übersetze ich den unbekannten Dorfnamen in die Länge der Strecke: Noch nicht wirklich nah an Schwerin, aber auch keine so lange Fahrt mehr mit Mats, also ein guter Kompromiss.

Nach zehn Minuten Fahrt entlässt Mats mich mit den Worten: „Gute Fahrt, Mädel. Steig nicht bei zwielichtigen Männern ein!“ Ich steige bei dem zwielichtigen Mann aus und stehe wieder an der Straße. Ich halte mein Schild raus, aber alle Autos biegen direkt vor mir ab nach Kröpelin. Also beschließe ich, ans andere Ende der Kleinstadt zu laufen. Als ich an einem alten Ehepaar vorbeikomme, das auf einer Bank sitzt, fragen die beiden: „Na, was machst du denn hier, hast du dich verlaufen?“ Ich sage, dass ich nach Schwerin will und per Anhalter fahre. Die Frau fragt skeptisch: „Per Anhalter? Aber es gibt doch gerade sowieso dieses Neun-Euro-Ticket.“

Als ich endlich wieder an der Landstraße bin, sehe ich eine Bushaltestelle. Es fahren nicht viele Autos, und ich denke: Ich könnte ja auch den Bus nehmen und mit dem Neun-Euro-Ticket fahren. Aber der letzte Bus ist hier vor drei Stunden gefahren. Also doch wieder an der Straße stehen. Nach zehn Minuten und 17 Autos, die nicht angehalten haben, beiße ich in meine Frustschokolade, streiche Schwerin auf meinem Schild durch und schreibe stattdessen Wismar drauf. Manchmal muss man eben Abstriche machen. Und von Wismar aus könnte ich auch mit dem Zug nach Schwerin.

Bahnbrechende Erkenntnisse

Es ist doch schon ganz schön spät, und es kommen immer weniger Autos vorbei. Das nächste, das kommt, fährt an mir vorbei, ich schaue hinterher, lasse den Arm schon frustriert sinken, da bremst es ab. Erleichtert renne ich hin und die Fahrerin hält mir schon die Tür auf. Nadia ist definitiv die ungewöhnlichste Chauffeurin meiner Reise. Sie ist Mitte dreißig, hat bunte Tattoos auf den Armen, trägt Sonnenbrille und roten Lippenstift und erzählt mir mit unverkennbar österreichischem Akzent, dass sie in einem Kloster lebt und arbeitet. Im Auto baumelt ein Rosenkranz vom Rückspiegel, auf dem Armaturenbrett steht eine Buddhastatue, auf ihrem Handy klebt ein Regenbogensticker.

Nadia fragt, was ich denn bisher schon so erlebt habe auf der Straße. „Wenn ich eins gelernt habe, dann das: Ich hätte auch mit dem Neun-Euro-Ticket fahren können.“ Nadia lacht und schlägt vor, mich zum nächsten Bahnhof zu fahren. Das klingt für mich wie aufgeben, aber andererseits soll ich laut Nadia auf meine Intuition hören, und die sagt mir, ich solle mit dem Zug fahren.

Nadia fährt mich zum Bahnhof von Bad Kleinen. Bis Schwerin sind es noch zehn Kilometer, eigentlich leicht per Anhalter machbar. Bis es wirklich dunkel wird, habe ich auch noch eine Stunde Zeit, und Zugfahren fühlt sich wie schummeln an. Aber meine Frustschokolade ist schon ganz aufgegessen und wenn ich heute noch einmal das Wort Neun-Euro-Ticket höre, dann tick ich aus.

Wenn ich mich jetzt nicht entscheide, ist der Zug abgefahren.

Der Zug fährt ab. Ich sitze drin. Ich bin erleichtert. Der Schaffner fragt gut gelaunt: „Haben Sie ein Neun-Euro-Ticket für mich?“ Ich entgegne: „Haben Sie ein Stück Schokolade für mich?“

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 10 von KATAPULT MV.

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Autor:innen

Praktikantin bei KATAPULT MV

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