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Corona-Demos

Distanzierung von Neonazis durch Versammlungsrecht erschwert

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Die Angelegenheit ist landespolitisch von Brisanz. Im Dezember, als die Protestwelle ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, hatten Politiker:innen der demokratischen Fraktionen im Landtag die Demonstrant:innen aufgefordert, sich von Extremist:innen in ihren Reihen zu distanzieren.

„Schauen Sie auch nach rechts und links, mit wem Sie gehen!“, forderte etwa Innenminister Christian Pegel (SPD). „Das ist nicht ein Sprechen gegen den Protest, aber ein klares Plädieren für eine Distanzierung zu denen, die das jetzt lediglich nutzen wollen, um erneut Destabilisierung zu betreiben, die den Staat in Gänze ablehnen.“

Am Montag teilte das Ministerium KATAPULT MV mit, den Vorgang genauestens aufarbeiten zu wollen. Diese Untersuchung ist jetzt abgeschlossen. „In der von Ihnen beschriebenen Situation ist in Zusammenarbeit mit dem Polizeipräsidium Rostock keine fehlerhafte Anwendung des Versammlungsrechts erkennbar“, erklärte eine Pressesprecherin am Mittwoch.

Die Versammlungsfreiheit garantiere und schütze grundsätzlich auch die Teilnahme von Personen an Versammlungen, durch die andere Meinungen als diejenigen des Anmelders zum Ausdruck gebracht werden. „Versammlungsteilnehmer können ausgeschlossen werden, wenn durch diese eine gröbliche Störung der Ordnung verursacht wird“, so die Ministeriumssprecherin. Dass eine Person wegen ihrer widerstreitenden Meinung oder Gesinnung unerwünscht sei, erfülle die Voraussetzung für einen Ausschluss nicht.

Die Versammlungsleitung könne allerdings die Versammlungsteilnehmer darüber aufklären, dass extremistische Personen an der Versammlung teilnehmen. Darüber hinaus könnte sich die Versammlungsleitung wahrnehmbar von den Extremist:innen distanzieren. Das Ministerium nennt exemplarisch das unmissverständliche Abwenden von diesen Personen und das Zurückweisen ihrer Positionen.

„Die Voraussetzungen eines Ausschlusses wegen gröblicher Störung der Ordnung, der hier wohl in Frage stand, sind nach dem geltenden Recht tatsächlich nicht ganz niedrigschwellig“, sagt die Rechtswissenschaftlerin Isabel Lischewski. „Eine gröbliche Störung würde nach dem aktuell wohl vorherrschenden Verständnis voraussetzen, dass das Verhalten der Person den Bestand der Versammlung gefährdet. Gerade Versammlungen im öffentlichen Raum müssen sich eben auch einiges gefallen lassen.“

Geht die mutmaßliche Störung von einer größeren Gruppe unerwünschter Personen aus, die entsprechend offensiv auftreten, könne diese Schwelle im Einzelfall auch durch die „bloße Teilnahme“ erreicht werden, meint die Juristin. „Dann wird unter Umständen das gesamte Erscheinungsbild der Versammlung gestört und die durch das Versammlungsgrundrecht gerade geschützte Form der kollektiven und öffentlichen Meinungsäußerung kann beeinträchtigt sein, insbesondere, wenn nach außen hin der Fokus vollständig von den eigentlichen Themen der Versammlung hin zu den ‚Störer:innen‘ verschoben wird. Das würde unter Umständen den funktionalen Bestand der Versammlung durchaus gefährden.“

Lischewski betont aber auch, dass dies schwierige Grenzfragen seien. Gerade bei großen und heterogenen Demonstrationen würden Anhänger:innen verschiedenster Interessen mitlaufen. Nicht alle Inhalte würden von allen aktiv befürwortet. „Und wie vom Innenministerium zu Recht festgestellt, gibt es durchaus auch andere Möglichkeiten, sich als Versammlung wirksam abzugrenzen“, findet Lischewski.

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Fußnoten

  1. Dies geschah unter anderem während der Landtagssitzung am 17. Dezember 2022. Die Debatte kann im Plenarprotokoll 8/6 des Landtags MV ab Seite 48 nachgelesen werden.
  2. Auskunft vom 16.2.2022.
  3. Isabel Lischewski ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Völkerrecht, Feminist Legal Theory, Zugang zum Recht sowie Interdisziplinäre und empirische Rechtsforschung.

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