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Wahlrechtsreform

Vier Abgeordnete aus MV wären draußen

Der Bundestag hat heute die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition verabschiedet. Kritik an dem Vorhaben äußerten CSU und Linke, vereinzelt aber auch Politiker:innen der SPD. Hätten bei der letzten Wahl bereits die nun beschlossenen Regeln gegolten, dann säßen vier Abgeordnete aus MV nun nicht im Parlament.

Mit einer Mehrheit von 400 Abgeordneten hat der Bundestag heute die Reform des Wahlrechts beschlossen. Schon zu Wochenbeginn hatten sich SPD, Grüne und FDP auf Eckdaten geeinigt. Ab der nächsten Legislaturperiode wird das Parlament von zuletzt 763 auf 630 Sitze schrumpfen, sogenannte Überhang- und Ausgleichsmandate werden abgeschafft. In der Praxis bedeutet das: Der größte Teil der direkt gewählten Kandidat:innen wird weiterhin in den Bundestag einziehen. Doch kann es künftig Wahlkreise geben, die nicht durch ein Direktmandat vertreten sind. Bislang erhielten die Gewinner:innen der Wahlkreise unabhängig vom Zweitstimmenergebnis ihrer Partei einen Sitz im Parlament. Das kann sich infolge der Reform ändern. Berechnet man die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl nach dem neuen Wahlrecht, büßen vor allem CSU und Linke Mandate ein. Jetzt drohen beide Parteien mit einer Verfassungsklage.

Mehr dazu: Wenn sich CSU und Linke auf einmal einig sind

Auch Abgeordnete aus Mecklenburg-Vorpommern könnten von der Wahlrechtsreform betroffen sein. Da durch die Verkleinerung auch der SPD weniger Sitze zustehen, wären deren Direktkandidat:innen Anna Kassautzki und Erik von Malottki nicht ins Parlament eingezogen. Im Vergleich zu anderen SPD-Kandidat:innen waren ihre Erststimmen-Ergebnisse knapper. Auch die Listenkandidat:innen Dietmar Bartsch und Ina Latendorf von der Linkspartei hätten keinen Sitz im Bundestag bekommen. Nach neuem Wahlrecht und den letzten Wahlergebnissen würden alle Mandate der Linken wegfallen, denn die bisher geltende sogenannte Grundmandatsklausel gilt nicht mehr. Dank ihr zogen auch Parteien in den Bundestag ein, deren Ergebnisse unter der Fünf-Prozent-Hürde lagen, sofern sie mindestens drei Wahlkreise gewinnen konnten.

Ein Wahlkreis nur von CDU und AfD vertreten

Bisher wurde in Deutschland per personalisierter Verhältniswahl entschieden, wer in den Bundestag einzog. Mit der Erststimme wurden Kandidat:innen in den Wahlkreisen direkt gewählt. Ab 2025 soll dies anders sein: Dann bestimmt allein die Zweitstimme, wie viele Sitze einer Landespartei zustehen. Nur wenn die Partei der Direktkandidat:innen der Wahlkreise in dem Bundesland stark genug abschneidet, bekommen jene einen Sitz im Parlament. Die Direktmandate je Bundesland sollen also vom Zweitstimmenergebnis gedeckelt werden. Laut Berechnungen von Zeit Online wäre etwa Erik von Malottki (SPD) nach der letzten Wahl nicht in den Bundestag gekommen. Vier andere Kandidat:innen der SPD konnten in anderen Wahlkreisen Meck-Vorps ein stärkeres Erststimmenergebnis auf sich vereinen. Sein Wahlkreis Mecklenburgische Seenplatte I-Vorpommern Greifswald II wäre in Berlin lediglich durch CDU und AfD repräsentiert worden. Von Malottki kritisierte die Reform in der Vergangenheit. Auch die SPD-Abgeordnete Anna Kassautzki hätte es nicht ins Parlament geschafft. Sie hält die Reform vor allem gegenüber den Wähler:innen für schwer vermittelbar. Auf Anfragen von KATAPULT MV reagierten beide nicht.

Zur heutigen Abstimmung äußerte sich hingegen MVs Innenminister Christian Pegel (SPD). Auch er befürchte erhebliche Nachteile für die Wahlkreise im Land: „Wird die Reform so umgesetzt, führt das dazu, dass mancherorts Direktkandidaten, die in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen bekommen haben, trotzdem nicht in den Bundestag einziehen.“ Das könne man keinem Wähler erklären.

Landesspezifische Perspektive bleibt gewahrt

Schon seit 1990 wird um eine Veränderung des Wahlrechts gerungen. Seitdem hat sich der Bundestag immer weiter vergrößert. So seien Überhangs- und Ausgleichsmandate in Kauf genommen worden, um Direktmandate unangetastet zu lassen und Proportionalität herzustellen, erklärt Jochen Müller, Professor für politische Soziologie an der Universität Greifswald. „Die Ampelparteien zeigen mit dem Reformvorschlag, dass die Unantastbarkeit der Direktmandate aus ihrer Sicht Grenzen hat.“ Der Politikwissenschaftler findet das aufgrund der Kritik gegenüber der Vergrößerung nachvollziehbar. Zudem seien die Unterschiede zwischen dem Verhalten von Direkt- und Listenkandidaten gering: „Ein Abgeordneter, der aus MV kommt und über die Liste gewählt wird, hat auch ohne direkte Wahl eine landesspezifische Perspektive“, erklärt Müller. Da gebe es auf Bundesebene also künftig keinen Unterschied.

Ist die Reform eine Gefahr für die Demokratie?

Immer wieder äußerten Politiker:innen von CSU und Linker in den letzten Tagen die Befürchtung, die Wahlrechtsreform sei ein Angriff auf die Demokratie. Auch Erik von Malottki hatte bereits nach Bekanntgabe des ersten Reformentwurfs eine Schwächung befürchtet, besonders in Ostdeutschland. Die Politikverdrossenheit in Vorpommern und das Gefühl, abgehängt zu werden, seien sowieso schon groß. Wenn dann kein direkt gewählter Kandidat aus dem Wahlkreis in den Bundestag käme, könnte sich das Wählengehen für viele gar nicht mehr lohnen.

Auch unter Politikwissenschaftler:innen gehen die Meinungen auseinander. Während manche eine Verkleinerung des Bundestags befürworten, bezeichnen andere die Reform als undemokratisch. Jochen Müller sieht in der Wahlrechtsreform dagegen keine Gefahr für die Demokratie. Kritiker:innen und Reformer:innen würden verschiedene Wünsche an ein Wahlsystem unterschiedlich gewichten: „Die Frage ist, was als größere Gefahr wahrgenommen wird: ein übergroßer Bundestag mit 736 Abgeordneten oder mehr, oder verwaiste Wahlkreise?“ Die Größe eines Parlaments sei entscheidend, wenn es um interne Arbeitsabläufe gehe, etwa die Arbeit in den Ausschüssen. „Wir dürfen auch nicht vergessen, dass ein übergroßer Bundestag und der damit verbundene öffentliche Druck Ausgangspunkt der Reformbestrebungen waren“, so Müller.

Nach dem Beschluss könnte auch für den Landtag Mecklenburg-Vorpommern über ein neues Wahlrecht diskutiert werden. Der Bund der Steuerzahl empfiehlt, auch hier eine Obergrenze für die Abgeordnetenzahl zu debattieren. 

Quellen

  1. Zeit Online (Hg.): Bundestag beschließt umstrittene Wahlrechtsreform, auf: zeit.de (17.3.2023).
  2. Endt, Christian; Jacobsen, Lenz; Schach, David: Die Linke wäre raus, die CSU hätte zittern müssen, auf: zeit.de (13.3.2023).
  3. Tagesschau (Hg.): Regierungsmehrheit für Wahlrechtsreform steht, auf: tagesschau.de (14.3.2023).
  4. Wefing, Heinrich: Wie viel zählt künftig ein Direktmandat?, auf: zeit.de (15.3.2023).
  5. @JocMuel: Beitrag vom 29.9.2022, 9:54 Uhr, auf: twitter.com.
  6. Jacobsen, Lenz: „Die Reform fühlt sich an, als würde man uns in den Rücken fallen“, auf: zeit.de (17.1.2023).
  7. Neelsen, Wiebke: Geplante Wahlrechtsreform: Was sagen Abgeordnete aus dem Norden?, auf: ndr.de (18.1.2023).
  8. Ministerium für Inneres, Bau und Digitalisierung MV (Hg.): Christian Pegel: „Geplante Wahlreform trifft besonders Mecklenburg-Vorpommern“, auf: regierung-mv.de (17.3.2023).
  9. Behnke, Joachim: Wahlrechtsreform: Ist der gordische Knoten endlich geplatzt?, S. 805 (2022).
  10. Telefonat mit Jochen Müller am 16.3.2023.
  11. Effern, Heiner: Sieger auf Abruf, auf: sueddeutsche.de (19.1.2023).
  12. Jacobsen, Lenz: „Die Reform fühlt sich an, als würde man uns in den Rücken fallen“, auf: zeit.de (17.1.2023).
  13. DPA: Wissenschaftler hält Wahlrechtsreform für unbegründet, auf: ostseewelle.de (16.3.2023).
  14. Bund der Steuerzahler Mecklenburg-Vorpommern e.V.: Landtag nicht weiter anwachsen lassen – Abgeordnetenzahl begrenzen (14.3.2023).

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