Wir sitzen uns in einem hellen Konferenzraum unweit des Doberaner Platzes in der Rostocker Kröpeliner-Tor-Vorstadt gegenüber. Ein schwerer, metallbeschlagener Holztisch trennt uns. Darauf liegt ein Blatt Papier. Verina Speckin macht sich Notizen, obwohl das Gespräch eigentlich andersherum verabredet ist und sie nur zu antworten braucht. Die 60-Jährige ist in Bremen und Hamburg aufgewachsen, hat familiäre Wurzeln in Schwerin und arbeitete als Strafverteidigerin – unter anderem 2017 im anwaltlichen Notdienst beim G20-Gipfel in Hamburg und fünf Jahre später beim G7-Gipfel in Garmisch-Partenkirchen. Außerdem ist sie Präsidentin des Anwaltsgerichtshofes Mecklenburg-Vorpommern, der Gerichtsbarkeit für Anwälte im Land. Für das Gespräch einigen wir uns auf die informelle Anrede.
KATAPULT MV: Warum bist du Rechtsanwältin und Strafverteidigerin geworden?
Verina Speckin: Ich wollte immer die „Rächerin der Witwen und Waisen“ sein. Außerdem wollte ich nie unter einem Chef arbeiten, sondern meinen eigenen „Laden“ mit meinem Namen an der Tür haben.
Noch während meines Studiums habe ich den Jugendgerichtstag besucht. Das ist eine alle drei Jahre stattfindende Tagung zum Jugendrecht. Alle Institutionen, die Jugendlichen helfen wollen, unbeschadet durch diese Lebensphase zu kommen, nehmen daran teil. Da kommen Menschen zusammen, die sich praktisch und wissenschaftlich mit Jugenddelinquenz und Jugendkriminalrecht beschäftigen. Ausgerichtet werden die Jugendgerichtstage von der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe (DVJJ). Heute bin ich selbst im DVJJ-Vorstand der Landesgruppe MV und leite dieses Jahr auf dem Jugendgerichtstag in Berlin den Arbeitskreis Jugendforensik.
Rechtsanwältin bin ich auch geworden, weil der Freiheitsentzug durch Gefängnisstrafen der schärfste Eingriff in die Freiheitsrechte darstellt. Unsere anwaltliche Berufsordnung verpflichtet uns, die Bürgerinnen und Bürger vor staatlichen Übergriffen zu schützen und dafür zu sorgen, dass niemand vor einem Strafgericht allein bleibt. Als Strafverteidigerin kenne ich die juristischen Regeln und Abläufe, spreche die gleiche Sprache wie Richter und Staatsanwaltschaft. Wir gehören sozusagen der gleichen Bubble an. Ich erwarte auch einen respektvollen Umgang mit meinen Mandanten und ärgere mich immer über die abgehobene Art, die manche Richter und Anwälte an den Tag legen.
Wann bist du als Strafverteidigerin erfolgreich?
In einer Hauptverhandlung kann viel geschehen. Für mich als Strafverteidigerin ist es ein gutes Gefühl, wenn eine Taktik aufgeht. Erfolgreich bin ich, wenn mein Mandant mit dem Ergebnis zufrieden ist. Das kann ein Freispruch sein, aber auch eine Verurteilung. Bei Letzterer ist es ein Erfolg, wenn der Mandant das Urteil akzeptiert, weil er erkennt, dass es die Folge seiner eigenen zuvor getroffenen Entscheidung ist.
Und was, wenn ein Mandant nicht mit dem Urteil zufrieden ist?
Wenn der Mandant mit dem Urteil nicht zufrieden ist, gehen wir in Berufung. Aber es gibt keine Garantie, dass das Urteil danach erfreulicher ausfällt. Nach deutschem Recht gibt es variable Strafrahmen statt eines festgelegten Strafenkatalogs. Da geht es nicht allein um die aktuell verhandelte Tat, sondern auch um die Umstände. Wer zum ersten Mal vor Gericht steht, wird anders behandelt als eine Person, die bereits 25 Vorstrafen im Lebenslauf hat. Da bestimmt auch die Vorgeschichte das Strafmaß.
Wie kommt eine Strafverteidigerin zu ihren Fällen?
Vor Gericht gilt zunächst die freie Wahl eines Verteidigers. Wer klug ist, kommt mit der Vorladung der Polizei zu mir. Also noch ganz am Anfang des Verfahrens. Als Strafverteidigerin prüfe ich den Kenntnisstand der Polizei und kann daraufhin eine Strategie zur Verteidigung entwickeln. Es kann sein, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellt, weil die Indizien für eine Anklage nicht reichen. Dann gibt es auch keinen Eintrag ins Bundeszentralregister, was besonders für Personen wichtig ist, die ein Führungszeugnis brauchen, um ihren Beruf ausüben zu können. Nicht so gut ist es, einfach abzuwarten, denn mit der Anklageschrift hat sich die Staatsanwaltschaft bereits eine Meinung gebildet.
Etwas anders ist es bei einer Pflichtverteidigung, bei der die Staatskasse in Vorleistung geht. Anspruch auf eine Pflichtverteidigung haben Personen, die sich in Untersuchungshaft oder in forensischer Sicherungshaft befinden, sowie alle Personen, denen ein Verbrechen vorgeworfen wird. Das Mindeststrafmaß liegt hier bei einem Jahr Freiheitsentzug. Bei einem Strafmaß von unter einem Jahr handelt es sich um ein Vergehen. Da besteht in der Regel kein Anspruch auf eine Pflichtverteidigung.
Wie verteidigst du deine Mandanten?
Als Strafverteidigerin muss ich vor Gericht wahrheitsgemäße Angaben machen. Da ist es manchmal besser, wenn ich nicht alles weiß. Beschuldigte neigen dazu, ihre Geschichte erzählen zu wollen, warum und wie etwas passiert ist. Das will ich zu Beginn gar nicht hören, weil es mich beeinflusst. Stattdessen lese ich die Ermittlungsakte und Vernehmungsprotokolle mit den Aussagen aller Beteiligten und stelle dabei vielleicht sogar fest, dass grottenschlecht ermittelt wurde. Wenn ich aber schon eine Geschichte im Kopf habe, dann interpretiere ich die in die Protokolle hinein.
Meine Aufgabe ist es, meine Mandanten durch das Verfahren zu führen und dafür zu sorgen, dass sie vernünftig und würdig behandelt werden. Meine Aufgabe ist es nicht, Entscheidungen zu treffen. Stattdessen kann ich Sand ins Getriebe streuen.
Kannst du ein Beispiel für „grottenschlechte“ Ermittlungen nennen?
Ich habe mal Fußballfans vor Gericht vertreten, die polizeibekannt waren. Die ermittelnden Polizisten haben die Personen nach Spielende vor Ort eingesammelt, weil sie sie kannten und sie zur fraglichen Zeit am fraglichen Ort waren. In den Ermittlungsakten stellte sich dann heraus, dass Zeugen schon vor Ort bei der Gegenüberstellung klar formuliert hatten, dass diese Beschuldigten nichts mit der angezeigten Tat zu tun hatten. Das Verfahren musste daraufhin fallengelassen werden. Da blieb nur ein Freispruch und die Beamten bekamen noch eine Ansage vom Richter.
Auch wenn ich die Kultur der Fußballfans nicht immer verstehe, stelle ich doch fest, dass die Polizei im Kontext von Fußballspielen immer wieder Taktiken erprobt, die sie später bei Demonstrationen einsetzt. So gesehen scheinen Fußballspiele ein Experimentierfeld für Einsatzkräfte zu sein, ihren Handlungsspielraum ständig zu erweitern.
Mit welchen Delikten hast du immer wieder zu tun?
Körperverletzungen und Diebstähle sind die häufigsten Vorwürfe. Das reicht einerseits vom Faustschlag bis zum Einsatz von Waffen und andererseits bis zu Raubdelikten.
Lax ausgedrückt ist Strafrecht etwas für die wirtschaftlich Schwachen und gering Gebildeten. Diese Menschen kommen leichter mit dem Gesetz in Konflikt. Ich vertrete eher einen jugendlichen Schulabbrecher mit einer jungen Mutter und wechselnden sozialen Vätern als Akademikerkinder. Das Verhältnis liegt ungefähr bei neun zu eins. Es sind auch eher Jungen als Mädchen, die vor Gericht stehen, obwohl sich das auch ändert. Gerade im Kontext einer Suchtproblematik ziehen Mädchen nach.
Wo sind deine Grenzen als Strafverteidigerin?
Ich wäre keine gute Verteidigerin für Menschenhändler, Zuhälter und Faschisten. Oder anders: für alle, die Verbrechen zum Beruf gemacht haben. Da wäre ich weniger unbefangen oder politisch auf einer anderen Wellenlänge. Als Strafverteidigerin bin ich den Interessen meiner Mandanten verpflichtet. Diese Rolle könnte ich dann nicht ausfüllen.
Wie gehst du emotional mit deinem Beruf und deinen Fällen um? Kannst du abschalten?
Es ist wichtig, keine Bilder im Kopf zu erzeugen. Gerade wenn es um Gewalt gegen Schutzbedürftige und Schwächere geht. Wenn dann erst einmal ein Film im Kopf läuft, fällt es schwerer, die professionelle Distanz zu wahren.
Grundsätzlich gilt jedoch, dass ich keine Sympathien für Taten meiner Mandanten haben muss. Meine Aufgabe ist es, herausfinden, ob die Vorwürfe berechtigt sind.
Wie schätzt du als Strafverteidigerin unser Rechtssystem ein?
Es gibt die merkwürdige Einstellung, dass die Bestrafung immer härter ausfallen müsse, je mehr Vorstrafen eine Person hat. Als ob ein härteres Strafmaß etwas bewirken würde. Manchmal verkauft auch die Politik Verschärfungen im Strafrecht als Anreiz für gesellschaftliche Veränderungen. Das irritiert mich oft, denn die Allermeisten schauen nicht ins Strafgesetzbuch und entscheiden dann, eine Tat nicht zu begehen, weil das Strafmaß angehoben wurde. Das passiert nicht. Im Gegenteil: Es glauben immer alle, dass sie nicht erwischt werden. Das hängt oft auch damit zusammen, dass sie die Folgen ihrer Handlungen schlecht abschätzen können und sich daran orientieren, was sie in ihrem persönlichen Umfeld erlernt haben.
Tatsächlich geht es in unserem Rechtssystem aber nicht nur um die Tat, sondern um den Menschen. Auch nach einer Verurteilung. Mit Unterstützung von Psychologen sollen Strafgefangene zum Beispiel Strategien lernen, ihr Verhalten zu verändern. Aber oft reichen weder Personal noch Zeit und es gibt Frustration und hohe Krankheitsquoten unter den JVA-Angestellten.
Wir wissen offenbar nichts Besseres als Freiheitsentzug hinter Mauern, weil wir uns als Gesellschaft sicher fühlen wollen. Verglichen mit anderen Staaten haben wir allerdings ein vernünftiges Rechtssystem. Es ist von allen schlechten noch das Beste. Ich könnte meine Arbeit nicht machen, wenn ich glauben würde, dass unser Rechtssystem vollständig versagt.
Das Wichtigste ist dennoch Prävention. Wir brauchen ein Bildungssystem, das niemanden durchs Raster fallen lässt. Dazu gehören zum Beispiel kleine Klassen. Aber es braucht auch außerschulische Angebote, um Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, sich auszuprobieren und auszuleben.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 24 von KATAPULT MV.
Quellen
- Die Straffälligkeit von Jugendlichen. Sie kann vielfältige Erscheinungsformen aufweisen und reicht von jugendtypischen, episoden- und bagatellhaften Verfehlungen bis zu schwerwiegenden, lang andauernden und intensiven Gesetzesverstößen.↩
- Systematische Untersuchungen, die kriminelle Handlungen von jugendlichen Straftäter:innen identifizieren, analysieren oder rekonstruieren.↩