Corona-Proteste

Warum wollen Sie sich mit „Querdenker:innen“ treffen, Herr Witt?

Dass viele Organisator:innen der Corona-Proteste in Meck-Vorp nicht mehr auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, ist offensichtlich. Ein Blick in ihre öffentlichen Telegram-Kanäle genügt. In einer dieser Gruppen wurde jüngst sogar über die Ermordung der Ministerpräsidentin fantasiert. Dessen ungeachtet hat Neubrandenburgs Oberbürgermeister Silvio Witt (parteilos) die Veranstalter:innen der Demos in seiner Stadt zum Gespräch ins Rathaus eingeladen.

Die politische Auseinandersetzung um Impfpflicht und Hygienemaßnahmen wird auch in Neubrandenburg auf der Straße geführt. Vergangene Woche beteiligten sich nach Polizeiangaben 2.400 Menschen an einem abendlichen Zug durch die Vier-Tore-Stadt. In dieser Woche sollen es 1.800 Teilnehmer:innen gewesen sein. Die meisten von ihnen stammen – wie bei der Mehrzahl aller Demos in Meck-Vorp – aus dem bürgerlichen Lager. Dem harten Kern um die Veranstalter:innen geht es jedoch um weit mehr als das Thema Corona. Diesen Schluss lassen zumindest Beiträge in einem öffentlichen Telegram-Chat zu. In der „Autokorso Neubrandenburg Austauschgruppe“ wird die Thematik höchst einseitig erörtert. Das Verbreiten von Verschwörungsfantasien ist an der Tagesordnung und wird von den Administratoren nicht unterbunden. Eine klare Abgrenzung zu extremistischen Positionen ist weder im Netz noch auf der Straße festzustellen.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz warnt inzwischen vor der Bewegung: Legitime Proteste und Demonstrationen gegen die Corona-Politik würden immer wieder, und in jüngerer Zeit zunehmend, instrumentalisiert und Eskalationen provoziert. Aber auch Anmelder und Organisatoren von Demonstrationen – in erster Linie zu nennen seien hier Protagonisten der „Querdenken“-Bewegung – zeigen zum Teil deutlich, dass ihre Agenda über die reine Mobilisierung von Protesten gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen hinausgehe. Die Rede ist von Verbindungen zu Reichsbürgern und Rechtsextremisten, die in Kauf genommen oder gezielt gesucht würden. Aktivist:innen würden behördliche Anordnungen propagieren und das staatliche Gewaltmonopol missachten. „Ein solches Vorgehen ist insgesamt geeignet und zielt darauf ab, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und seine Repräsentanten nachhaltig zu erschüttern.“

Das Landeskriminalamt ermittelt seit Kurzem wegen einer Todesdrohung gegen Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD). Sie war im Kanal der Rostocker Initiative „Querdenken 381“ aufgetaucht. Unter einem Foto der Politikerin steht geschrieben: „Sie wird abgeholt, entweder mit dem Streifenwagen, mit dem Krankenwagen in Jacke oder mit dem Leichenwagen, egal wie sie abgeholt wird.“ Dass die Einschätzung der Verfassungsschützer auch auf die Strukturen in Meck-Vorp zutrifft, beweisen nicht nur zahlreiche Beiträge in diversen Telegram-Gruppen. Vergangenen Montag beteiligten sich mit Christian Worch und Alexander Deptolla zwei überregional bekannte Neonazis an den Corona-Protesten in Rostock. „Erkennbar ist, dass sich auch Extremisten an den Protestveranstaltungen beteiligen und versuchen, diese im Sinne ihrer rechtsextremistischen Agitation zu instrumentalisieren“, bestätigte eine Sprecherin des Innenministeriums auf Nachfrage.

Silvio Witt lädt zum Gespräch ein

Dass sich ein ranghoher Kommunalpolitiker trotz der staatsfeindlichen Äußerungen mit Gegner:innen der Maßnahmen treffen möchte, verwundert nur auf den ersten Blick. In Neubrandenburg wird am 16. Januar ein neuer Oberbürgermeister gewählt. Silvio Witt will sich gegen Herausforderer Gunar Mühle, der von der Linkspartei nominiert wurde, durchsetzen.

Wenn die Corona-Gegner:innen, so verschieden ihre politischen Ansichten auch sein mögen, eines eint, dann ist es die scharfe Abgrenzung zu allem, was links ist. Für Wahlkämpfer Witt sind rund 2.000 Demonstrant:innen auch 2.000 potenzielle Wählerstimmen. Es scheint kein Zufall zu sein, dass das Treffen mit den Organisator:innen des Protests erst am 11. Januar stattfinden soll. So könnte der Amtsinhaber seinen Gesprächspartner:innen zum Beispiel einige vage Zugeständnisse und Versprechungen machen, deren Realisierung erst nach seiner Wiederwahl möglich wäre.

Silvio Witt rechtfertigte sein Gesprächsangebot gegenüber KATAPULT MV am Montag folgendermaßen:

„In der vorletzten Woche des Jahres 2021 erhielten sowohl alle Fraktionen der Stadtvertretung Neubrandenburg als auch ich die ‚Einladung‘, an den Spaziergängen am 22. und 27. Dezember 2021 teilzunehmen. Dies habe ich abgelehnt. Gerade weil ich mich mit den Organisatoren nicht gemein machen möchte. Daher habe ich meinerseits die Einladung an die Organisatoren ausgesprochen, mir die konkreten Anliegen zu benennen. Ähnlich verfuhr ich auch in der Flüchtlingssituation 2015/2016 und den damit einhergehenden Protesten. Das Gespräch findet am 11. Januar 2022 um 15 Uhr am Standort der Stadtverwaltung An der Hochstraße 1 in Neubrandenburg statt. Der Leiter des Ordnungsamtes wird ebenfalls zugegen sein.

Als Oberbürgermeister stehe ich grundsätzlich jeder Bürgerin und jedem Bürger als Ansprechpartner zur Verfügung. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 GG sieht das Bundesverfassungsgericht für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung als ‚schlechthin konstituierend‘ an. Die Meinungsfreiheit umfasst das Recht eines jeden Staatsbürgers auf freie politische Betätigung. Angesichts dieser großen Bedeutung der Meinungsfreiheit halte ich es für angemessen, mir Meinungen von städtischen Bürgern auch dann anzuhören, wenn ich sie selbst gegebenenfalls nicht teile. Dies eröffnet mir die Möglichkeit, meine eigene Meinung – auch mit Nachdruck – darzustellen und zu vertreten. Dies habe ich am Tag der Einladung getan. Am selben Tag habe ich den Impfaufruf der Handwerkskammer unterstützt und mich klar zum Impfen als Weg aus der Pandemie positioniert.“

Gerne hätten wir an dieser Stelle ein Statement von OB-Herausforderer Mühle zu der Frage veröffentlicht, ob sich ein Neubrandenburger Oberbürgermeister mit „Querdenkern“ treffen sollte. Herr Mühle ließ unsere Anfrage via Instagram bis Mittwoch (Stand: 15.45 Uhr) allerdings unbeantwortet.

Quellen

  1. Auskunft des Ministeriums für Inneres, Bau und Digitalisierung Mecklenburg-Vorpommern gegenüber KATAPULT MV.
  2. Prahle, Tim u. a.: Tausende demonstrieren bei Corona-Demos an der Seenplatte, auf: nordkurier.de (3.1.2022).
  3. Auskunft des Ministeriums für Inneres, Bau und Digitalisierung Mecklenburg-Vorpommern gegenüber KATAPULT MV.
  4. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.): Neuer Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“, auf: verfassungsschutz.de (29.4.2021).
  5. ebd.
  6. Screenshot liegt KATAPULT MV vor.
  7. E-Mail vom 3. Januar 2021.

Autor:in