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Krieg in der Ukraine

„Was mache ich hier eigentlich?“

Die ersten drei Kriegswochen hat Claudia Schmid im Südwesten der Ukraine verbracht. Sie hat Flüchtlingstransporte mitorganisiert, Hilfsgüter verladen und Menschen zugehört, deren Häuser bombardiert werden. Seit Anfang vergangener Woche ist sie zurück auf der Kooperative Hof Ulenkrug, bei Stubbendorf zwischen Gnoien und Dargun. Im Interview hat sie KATAPULT MV von ihren Erfahrungen berichtet.

KATAPULT MV: Frau Schmid, Hunderttausende Menschen verlassen die Ukraine, Sie haben die Grenze in der Gegenrichtung passiert. Warum?

Claudia Schmid: Ich lebe in einer landwirtschaftlichen Kooperative, die zum Netzwerk Longo maï gehört. Wie auch zwei Höfe in Zeleny Hay, in den Ausläufern der Karpaten, im Südwesten der Ukraine. Die Menschen dort in der Ukraine, das sind Freund:innen und Begleiter:innen. Mit einer von ihnen habe ich zum Beispiel schon Weihnachtsmärkte in der Schweiz organisiert. Der drohende Krieg war schon seit Wochen Thema in den Nachrichten über unseren gemeinsamen Mailverteiler. Und noch am ersten Kriegstag gab es eine Videokonferenz mit unseren Partner:innen und Freunden in Zeleny Hay. Wir haben gefragt, was wir tun können, und die Leute dort hatten ganz klar kommuniziert, dass sie unsere Hilfe brauchen, dass sie sich freuen würden, wenn wir kämen. Es war dann nur noch die Frage, wer von uns fährt. Ich arbeite hauptsächlich im Obstbau, da ist im Frühling zwar viel zu tun, aber Bäume sind geduldig. Ich hatte das Gefühl, ich kann fahren. Aber an der Grenze habe ich mich dann schon gefragt: „Was mache ich hier eigentlich?“

Weil Sie gegen die Hauptverkehrsrichtung gefahren sind?

Ja. Unsere Seite der Straße war komplett leer, die Gegenfahrbahn voller Autos und Menschen. Und wir mussten die Polizist:innen an den verschiedenen Kreuzungen auch erst mal überzeugen, dass wir wirklich die Straße Richtung Ukraine nehmen wollen. Meine Unsicherheit kam auch daher, dass ich glücklicherweise keine Erfahrung mit Krieg habe. Bei der Einreise in ein Land, in dem Krieg herrscht, ist mir dann bewusst geworden, dass ich keine Ahnung habe, was mich erwartet.

Was haben Sie in Zeleny Hay gemacht?

In der ersten Woche haben wir viel zusammen geweint. Wir haben uns gefragt, wie es sein kann, dass jetzt Krieg in Europa ist, ein Angriffskrieg, wo ein Land ein anderes überfällt. Sind wir wirklich im 21. Jahrhundert oder mit der Zeitmaschine zurückgereist? Ich hatte eigentlich die Vorstellung, dass ich Menschen, die gehen wollten, helfen würde, ins Ausland zu gehen. Aber dann stellte sich heraus, dass dort kaum einer gehen wollte.

Warum nicht?

Viele Menschen in der Ukraine wollen lieber nicht über die Grenze, sondern hoffen, an einem Ort außerhalb der Kriegsschauplätze das Ende des Krieges abwarten zu können. Unsere Höfe liegen in Transkarpatien, diesseits der Karpaten. Das ist ganz im Südwesten, sehr dicht an den Grenzen zu Ungarn und Rumänien. Die Gegend gilt als sicher. Deshalb kamen schon in den ersten Tagen viele Menschen an. Und wir waren direkt eingebunden in die Arbeit, die Ankommenden mit Nahrung und Unterkunft zu versorgen. Schnell wurde im Gasthaus des Dorfes zweimal am Tag für alle gekocht. Wir haben auch Menschen aus Kyjiw und dem Osten abgeholt und in Sicherheit gebracht.

Wer ist „wir“?

Auf den beiden Höfen waren wir rund fünfzig, ein zusammengewürfelter Haufen von Menschen aus der Ukraine, Rumänien, Deutschland, Frankreich, Dänemark. Rund um die Höfe hat sich sehr schnell ein Hilfsnetzwerk gebildet. Durch Longo maï kommen unglaublich viele Spenden; für bisher rund 200.000 Euro wurde im Ausland Material gekauft. Über unsere Kooperative in Rumänien wurden die Sachen dann hierhergebracht: medizinische Ausrüstung, Decken, Schlafsäcke, Medikamente, Kleinbusse und sogar Krankenwagen. Mit den Fahrzeugen transportieren wir die Sachen in die Kriegsgebiete im Osten. Und auf dem Rückweg sind die Autos voll mit Menschen, die wir in Sicherheit bringen. Oder sie bleiben dort und werden Initiativen zur Verfügung gestellt, die dort vor Ort die Versorgung von Menschen koordinieren.

Gingen all diese Aktionen von Ihren Partnerhöfen aus?

Nicht nur, denn durch die Projekte, die wir hier mit unserem Netzwerk Longo maï aufgebaut haben, sind wir eng mit allen möglichen Akteur:innen in der Region vernetzt. Zum Beispiel haben wir eine Molkerei aufgebaut, bei der Kleinbauern ihre Milch abgeben können, ein Gästehaus und viele kulturelle Projekte. Die Kontakte, die dabei über die Jahre entstanden sind, funktionierten auch in dieser Extremsituation sehr gut. Die Initiative für alle diese Projekt ging von den Ukrainer:innen aus. Wir Westeuropäer:innen haben mitgemacht und unterstützt, ich habe zum Beispiel die Kasse betreut.

Sie haben mit den geflüchteten Menschen auch direkt zusammengelebt.

Ja, und das ist natürlich sehr bewegend. Mit Leuten im Ausnahmezustand zusammenzuleben, sie zum Frühstück, Mittag und Abendessen zu sehen, auch zwischendurch, mitzubekommen, wie es ihnen geht, die Sorgen, die sie sich machen … Das sind Menschen, deren Häuser zerbombt werden, die um Freund:innen und Familie fürchten. Alle haben Angst, manche haben selbst Bombardierungen erlebt, manche kennen Menschen, die getötet wurden. Die Gefühle sind schwer. Die Beziehungen, die entstehen, gehen sehr tief. Durch sie habe ich kapiert, was Krieg bedeutet.

Ausladen einer Hilfslieferung im ukrainischen Zeleny Hay, organisiert von Partnerhöfen. (Foto: Mathias Weidmann)

Ist es dort sicher?

Erst mal ja. Die Kampfhandlungen sind weit weg. Ab und zu hört man von angeblichen russischen „Spionen“, aber bisher ist es ruhig. Aber die Unsicherheit ist groß, für viele stellt sich jeden Tag neu die Frage, ob man geht oder bleibt. Für Paare und Familien ist besonders belastend, dass man sich an der Grenze trennen müsste, darum bleiben viele auch erst mal zusammen im Inland. Aber jede Nachricht, die man von den Bombardierungen und Kampfhandlungen hört, kann potenziell die eigene Entscheidung neu beeinflussen. Deshalb war die Stimmung die ganze Zeit sehr angespannt. Wir haben uns bemüht, dass die Menschen trotzdem die Zeit so gut wie möglich verbringen konnten.

Stand von Anfang an fest, wie lange Sie bleiben würden?

Nein, aber es stand fest, dass ich irgendwann abgelöst werden würde. Zurück nach Deutschland zu gehen, war schwer, gerade weil ich so eine intensive Zeit mit den Menschen verbracht habe. Aber auch nötig. Ich habe ja noch ein Leben, mein Zuhause ist nicht zerbombt worden. Aber ich denke, dass mich dieses Thema weiter begleiten wird. Ich habe gerade erst angefangen, das Erlebte zu verarbeiten.

Was beschäftigt Sie besonders?

Ich denke viel über die Logik des Krieges und den Umgang damit nach: Die Ukraine wird angegriffen und es ist für alle selbstverständlich, dass sie verteidigt wird. Männer stehen Männern gegenüber und schießen sich über den Haufen. Frauen werden wieder zur Beute. Ich habe keine Lösung, aber etwas in mir mag nicht akzeptieren, dass das der Weg sein soll, dass Kriege auf dem Schlachtfeld entschieden werden müssen, dass wir gezwungen sein sollen, jetzt aufzurüsten. Ich frage mich, wie diesem Grauen ein schnelles Ende bereitet werden kann.

Was denken die Menschen in der Westukraine?

Für die ist ganz klar, dass sie kämpfen müssen. Das ist auch verständlich in der Situation und ich kann das auch nicht verurteilen. Aber wenn dann ein extremer Nationalismus entsteht, Hass auf alle Russen, dann fühle ich mich damit trotzdem nicht wohl, finde das nicht richtig. Was mich in dieser aktuellen Situation auch beschäftigt, ist der sehr unterschiedliche Umgang mit Menschen aus dem Krieg. Krieg ist überall schlimm – in Mali oder in der Ukraine. Das Grauen ist Grauen. Wir machen aber den Unterschied zwischen der Herkunft des Grauens. Die einen verdienen mehr Willkommen als die anderen. Das finde ich schwer zu verstehen.

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