Hochsaison in Meck-Vorp. Nach pandemiebedingter Pause ging es dieses Jahr wieder so richtig los mit Kulturveranstaltungen. Die Leute im Norden seien hungrig, ergab eine jüngste Umfrage des NDR. Äußerst beliebt sind Musikfestivals. Für den Sommer 2023 sind in Mecklenburg-Vorpommern mehr als 30 solcher Konzertveranstaltungen angesetzt. Große und kleine, laute und leise. Für jede:n Genreliebhaber:in ist etwas dabei.
Klassik in Bröllin (Vorpommern-Greifswald), Hip-Hop in Bad Doberan (Landkreis Rostock), Hardstyle in Neustadt-Glewe (Ludwigslust-Parchim), Rock und Pop in Neustrelitz und Techno in Lärz (beide Mecklenburgische Seenplatte). Ein vielfältiges Angebot an Musikstilen also. Aber wie sieht es bei den gebuchten Acts aus? Wie viele Frauen werden engagiert? Sind auch People of Colour vertreten? Wie ist der Anteil an Künstler:innen aus dem Bundesland? Es ist Zeit, MVs Festivals unter diesen Gesichtspunkten genauer unter die Lupe zu nehmen.
Es regnet Männer
Insgesamt 21 der in diesem Jahr hier stattfindenden Musikfestivals haben wir uns angeschaut – hinsichtlich Geschlechterverteilung (weiblich, männlich oder divers), nichtweißen sowie einheimischen Künstler:innen. Wir haben Festivals im Zeitraum von Mai bis September dieses Jahres ausgewählt und das Line-up Act für Act analysiert. Einige Festivals haben im Vorfeld kein oder nur Teile ihres Line-ups veröffentlicht.
Erste und nicht ganz so überraschende Erkenntnis: Musikerinnen sind auf allen Festivals unterrepräsentiert. Diesem Problem müssen sich die Festivalbetreibenden langsam stellen. Sie entscheiden so mit darüber, welche Vorbilder und Motivator:innen gerade junge Menschen auf den Bühnen sehen, die potenziell auch einmal eine Karriere im Kulturbereich anstreben.
Zu den Zahlen: Von den 745 von uns untersuchten Musiker:innen waren 503 Männer, 187 Frauen und 41 gemischte Konstellationen. Positive Beispiele hinsichtlich weiblicher Acts sind das Immergut in Neustrelitz, das Musik und Stille in Schönberg (Nordwestmecklenburg) mit einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis, dicht gefolgt vom bisher veröffentlichten Line-up der Fusion in Lärz. Das Detect Classic in Bröllin mit einem Frauenanteil von 37 Prozent und das Freiland in Broock mit 35 Prozent sind als weitere Positivbeispiele zu nennen.
Schlecht schneidet hingegen das Airbeat One in Neustadt-Glewe mit nur acht Prozent weiblicher Acts ab. Noch weniger Frauen sind nur auf dem Roxsa in Bad Sülze mit einer weiblichen Stimme in einer Kollaboration vertreten. Das Orange SUN in Grebs-Niendorf bildet das Schlusslicht – hier findet sich kein einziger Frauenact im Line-up. Anerkennung und Präsenz sind von enormer Bedeutung. Nicht nur für Künstlerinnen, sondern auch für nonbinäre Acts. Menschen, die nicht in das zweigeteilte Geschlechtersystem eingeordnet werden, machen über alle untersuchten Festivals hinweg nur ein Prozent der angekündigten Musiker:innen aus. Das Booking ist hier mehr als ausbaufähig.
Die fehlende Gleichberechtigung zeigt sich nicht nur bei der Anzahl gebuchter Acts, sondern auch bei der Bezahlung bundesweit: Im Durchschnitt verdienen Berufsmusikerinnen monatlich 700 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen. Lediglich 53 Prozent der Frauen geben an, dass sie Hauptverdienerinnen des Haushalts sind. Bei den Männern sind es ganze 82 Prozent. Um dem Gender-Pay-Gap vorzubeugen, könnten alternative Gagenmodelle eingeführt werden: Wie wäre es mit Standardsätzen, die nach abgeleisteter Zeit berechnet werden? Ein solcher Vorschlag bleibt vorerst ein Gedanke, er funktioniert in der freien Wirtschaft nicht. Denn es nehmen noch weitere Kriterien erheblichen Einfluss auf die Bezahlung, wie etwa der Bekanntheitsgrad.
Viele weiße Menschen
Wir sind hier immer noch im Osten Deutschlands. Das heißt, dass wenige Menschen mit Migrationshintergrund auf den Straßen zu sehen sind: Sie machen in MV einen Anteil von acht Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Das spiegelt sich auch auf den Festivals wider. Gerade einmal fünf Prozent der untersuchten Line-ups sind People of Colour (PoC) – das sind Menschen, die sich selbst so bezeichnen und Rassismuserfahrungen gemacht haben. Der Begriff gilt als emanzipatorisch und „positioniert sich (…) gegen diskriminierende Fremdbezeichnungen durch die weiße Mehrheitsgesellschaft“.
Viele PoC-Musiker:innen treten beim Transit auf Burg Klempenow auf (Anteil: 40 Prozent) und auch bei der Fusion sind People of Colour mit 29 Prozent vertreten. Andere Veranstaltungen liegen bei den Zahlen unter 16 Prozent. So sind das Detect Classic in Bröllin mit 14 Prozent und das 3000Grad in der Feldberger Seenlandschaft mit neun Prozent PoC-Acts besetzt und schneiden im Vergleich zu den anderen Festivals noch vergleichsweise gut ab.
Aus Meck-Vorp für Meck-Vorp
Meck-Vorp bietet die besten Bedingungen für große Veranstaltungen: viel Platz, wenig Niederschlag, und das Urlaubsfeeling kommt mit direkter Meernähe auch nicht zu kurz. Die Musikszene im Land konzentriert sich eher auf die bevölkerungsreichen Städte Rostock, Schwerin und Greifswald, aber sie existiert: Aktive Musiker:innen, die mit ihrem Genre und ihrer Professionalität durchaus in die Line-ups auch der großen Festivals passen würden. Tatsächlich sind sie dort aber eher selten zu finden.
Die Realität für diesen Sommer in Zahlen: Auffällig ist, dass vor allem im elektronischen Bereich heimische Acts gebucht werden. So ist das Line-up des Freiland zu 29 Prozent und das von kleineren Festivals wie Fette Ente im Krokoteich in Bergen auf Rügen zu 83 Prozent mit Acts aus dem Land gespickt. Das Airbeat One, aber auch das Pangea in Ribnitz-Damgarten holen hingegen Künstler:innen aus der ganzen Welt nach MV. Auf diese Weise kann das Bundesland auch international glänzen. Zu den Bestrebungen gehört wahrscheinlich auch, Publikum nicht nur aus Deutschland, sondern aus ganz Europa anzulocken. Künstler:innen aus dem Bundesland bleiben mit nur einem ersichtlichen Vertreter bei diesen Großevents jedoch die Ausnahme. Kein großer Gewinn für die Musikschaffenden vor Ort.
Standorte am Rand
Einige der ausgewählten Festivals finden nahe der Landesgrenze statt. So kommt der Veranstaltungsort Anreisenden aus anderen Bundesländern gelegen. Aus den Großstädten dauert es oft nicht mal eine Stunde mit dem Auto oder dem Zug.
Aus Berlin lassen sich beispielsweise Immergut, Fusion und 3000Grad schnell erreichen. Aus Hamburg gelangen die Besucher:innen auf kurzem Weg zur Airbeat One oder zum Musik und Stille. Der Eindruck entsteht, dass diese Events nahe an Großstädten angesiedelt sind, um möglichst viele Menschen durch die geringe Entfernung zu locken.
Nachhall
Insgesamt sind die Ergebnisse ernüchternd. Nicht einmal die Hälfte aller Acts ist weiblich, äußerst wenige PoC-Musiker:innen sind vertreten. Möchte Meck-Vorp als progressive und moderne Festivallandschaft gesehen werden, muss an diesen Stellen nachgebessert werden. Darüber hinaus wäre es vor allem von den größeren Veranstalter:innen wünschenswert, wenn die einheimische Szene in den Line-ups aufgenommen, somit gesehen und gehört würde. Unabhängig davon lohnt es sich zwischen Seenplatte, Ostsee und mecklenburgischem Elbetal, Musikfestivals zu besuchen – ganz große eMVehlung.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 21 von KATAPULT MV.
Quellen
- Tagesschau (Hg.): #NDRfragt: Wie viel Kultur leisten Sie sich?, auf: tagesschau.de (9.5.2023).↩
- Die Geschlechtszuordnung ist nach phänotypischen Merkmalen, aber auch nach Pronomen vorgenommen worden. Bei einem Kollektiv, einer Band oder einer anderweitigen Gruppierung war die Frontperson ausschlaggebend für die Geschlechterzuordnung. Diese Person ist in den meisten Fällen das „Gesicht“ der gesamten Musikformation. Bei einem Duo oder einem Trio wurden alle Mitglieder mit ihrem Geschlecht in die Zählung aufgenommen. Deshalb beträgt die Summe von Frauen, Männern und diversen Personen mehr als die Summe der Gesamtzahl aller Acts. Konnte kein Geschlecht ausgemacht werden, wurde es nicht aufgenommen.↩
- Stand 15.6.2023.↩
- Das Verhältnis ist immer zu beachten: Bei einem kleinen Line-up kann schneller ein ausgeglichener Geschlechteranteil erzielt werden. Das ist aber nicht als Ausrede für Festivals mit großem Line-up zu verstehen.↩
- Deutsche Welle (Hg.): Musikfestivals: Mehr Frauen auf die Bühne!, auf: dw.com (6.6.2022).↩
- Deutsches Musikinformationszentrum (Hg.): Professionelles Musizieren. Ergebnis- und Methodenbericht, S. 29 (2023).↩
- Gekonnt bewerben (Hg.): Wie viel verdienen Sänger pro Auftritt? Erfahre es hier!, auf: gekonntbewerben.de.↩
- Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (Hg.): Bevölkerung mit Migrationshintergrund nach Bundesländern 2022, S. 1, auf: sozialpolitik-aktuell.de.↩
- Amadeu-Antonio-Stiftung (Hg.): Antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit. Ein Glossar, S. 15, auf: amadeu-antonio-stiftung.de.↩
- Deutscher Wetterdienst (Hg.): Zeitreihen und Trends, auf: dwd.de.↩