„Europa ist für mich der Beweis, dass man auch nach den brutalsten Kriegen Frieden wieder lernen kann. Und gerade auch die Hoffnung, dass wir die vielen Herausforderungen – Klimakrise, Digitalisierung, Aggression Russlands – gemeinsam angehen und meistern werden“, sagt Hannah Neumann, MV-Abgeordnete für die Grünen im EU-Parlament.
Es ist so unscheinbar wie elementar. Die EU garantiert in ihren Grenzen Gespräche statt Gefechte. Sie setzt auf Gemeinsames. Einerseits. Andererseits steht sie für eine Politik, in der Abgeordnete aus 27 Ländern Kompromisse finden, mit denen am Ende niemand richtig zufrieden ist. Die Fangquotenregelung auf der Ostsee ist ein Beispiel. Der heimischen Küstenfischerei ist sie zu restriktiv, Meeres- und Umweltschützerinnen geht sie nicht weit genug. Ähnliches gilt für Bestimmungen in der Landwirtschaft.
Europa in der Nachbarschaft
Brüssel ist nicht Boizenburg, auch nicht Boltenhagen oder Bützow. Brüssel ist weit weg. So wird die EU nicht zu Unrecht von vielen der rund 500 Millionen EU-Bürgerinnen wahrgenommen. „Das Parlament sieht nur acht Wochen im Jahr vor, in denen die Abgeordneten in ihrem Wahlkreis sind“, sagt Niklas Nienaß, der ebenfalls mit einem grünen Mandat im EU-Parlament sitzt. Da sei es schwer, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und Europa näherzubringen. Dennoch: Viele EU-Projekte wirken auf regionaler und lokaler Ebene. Gerade für ländliche Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern bieten sie enormes Potenzial.
Natürlich geht es um Geld. Die EU fördert Vorhaben in allen Lebensbereichen, mit Steuergeldern aus den Mitgliedstaaten. Deutschland zahlt statistisch gesehen 186 Euro pro Jahr und Einwohnerin an die EU. Mecklenburg-Vorpommern bekommt jedoch 365 Euro pro Jahr und Einwohnerin von der EU zugewiesen. So seien seit der Wiedervereinigung bereits 25 Milliarden Euro aus Brüssel nach MV geflossen, erklärte Europaministerin Bettina Martin (SPD). Das Geld steht für Projekte in den Bereichen Infrastruktur, Bildung oder kultureller Austausch zur Verfügung, weiß Nienaß. Dabei gibt das EU-Parlament allgemeine Ziele und Schwerpunkte vor. Was letztlich gefördert wird, legen die Landesregierungen fest.
Wirtschaft, Soziales, Agrar – EU-Förderung ist überall
Alle größeren Projekte in MVs Kommunen werden mit EU-Mitteln kofinanziert. Da ist zum einen der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE). Mit ihm sollen Arbeitsplätze geschaffen sowie Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftswachstum und Lebensqualität entwickelt und verbessert werden. In der aktuellen Förderperiode 2021-2027 stehen MV rund 924,6 Millionen Euro aus dem EFRE zur Verfügung.
Damit wurden etwa Rad- und Wasserwanderwege ausgebaut, Straßenbeleuchtung modernisiert, historische Gebäude saniert und Einzelunternehmen im ländlichen Raum unterstützt. Auch der Neubau der Beruflichen Schule Technik in Schwerin erfolgte nur, weil er mit knapp 90 Prozent aus dem EFRE gefördert wurde.
„Die Mittel werden schwerpunktmäßig für Investitionen in Bildung, Forschung und Innovation sowie zur Erreichung der nationalen und europäischen Energie- und Klimaziele eingesetzt“, erklärt Stefan Bruhn, Sprecher des Landeswirtschaftsministeriums. Der europäische Green Deal bildet dabei eine strategische Grundlage. So sind in der aktuellen Förderperiode erstmals auch Projekte zum Schutz von Mooren sowie die Aufforstung von klimaresistenten Wäldern vorgesehen.
Ein weiterer, für MV wichtiger Fonds ist der Europäische Sozialfonds (ESF/erweitert zum ESF Plus), mit dem Beschäftigungs- und Bildungschancen verbessert werden sollen. In der aktuellen Förderperiode kann MV rund 334 Millionen Euro abrufen. Damit sollen Fachkräfte gesichert, Frauen im Arbeitsmarkt gefördert und der Strukturwandel gestaltet werden, heißt es. Außerdem sollen Bildungsbenachteiligung abgebaut, Armut verringert, soziale Inklusion gefördert und Demokratie gestärkt werden.
Aus diesem Fonds wurden unter anderem das Welcome Service Center Nordwestmecklenburg in Grevesmühlen, ein landesweites Mentoringprogramm für Frauen in der Wirtschaft mit Sitz in Ludwigslust und die Penkuner Koordinationsstelle zur Verbesserung des grenzüberschreitenden Personennahverkehrs gefördert.
Unterstützung für die Landwirtschaft und den ländlichen Raum finanziert die EU mit dem Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER). Aus dem EGFL fließen Direktzahlungen an Landwirtinnen, aus dem ELER werden Förderprogramme für nachhaltige und umweltschonende Bewirtschaftung unterstützt. Allein dafür erhält MV von 2014 bis 2027 mehr als 1,8 Milliarden Euro. Die Renaturierung von Flüssen und Mooren, Fischaufstiegsanlagen, Hochwasserschutz oder auch Kita-Neubauten werden aus dem ELER kofinanziert.
Zentrale Lage stärker nutzen
Doch die EU verteilt nicht nur Geld. „Von der Nähe zu Polen und Kooperationen im Ostseeraum profitieren auch in MV viele exportorientierte Unternehmen“, sagt die Europaabgeordnete Neumann. Die etwas abgelegene Lage im Nordosten Deutschlands täusche darüber hinweg, wie zentral das Bundesland in Europa liege. Dieses große Potenzial des gemeinsamen Binnenmarktes habe die Landesregierung bisher viel zu wenig genutzt, kritisiert sie.
Der mit dem europäischen Green Deal verbundene grüne Umbau der Wirtschaft könne ebenfalls viel Dynamik in MV erzeugen. „Wir haben hier große Flächen für Wind- und Sonnenenergie, und auch Wasserstoffprojekte werden die wirtschaftliche Entwicklung im Land vorantreiben“, so Neumann. MV könne eine grüne Industrieregion werden und von der anstehenden Transformation und den damit verbundenen EU-Fördergeldern massiv profitieren. Erneuerbare Energien seien jedoch nur dann sinnvoll, wenn sie lokal produziert und verbraucht würden. Globale Gasimporte, wie sie mit dem LNG-Ausbau vor Rügen umgesetzt werden, überzeugen die EU-Abgeordnete im Sinn der Energiewende nicht.
Fraktionsarbeit in der EU
Ähnlich wie im Bundestag setzt sich auch das EU-Parlament aus Fraktionen zusammen. Neumann und Nienaß gehören mit insgesamt 72 Abgeordneten aus 18 Mitgliedstaaten der Fraktion der Grünen/EFA an. „Natürlich bringt jeder dieser Abgeordneten einen eigenen persönlichen Blickwinkel aus seinem Land und seiner Region mit“, so Nienaß.
Darin liegt ein Teil des europäischen Dilemmas. „In Brüssel sagt man oft, dass der erste Kompromiss in der eigenen Fraktion beginnt“, berichtet Svenja Hahn (FDP), EU-Abgeordnete für Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Jede Kommune, jede Region und jedes Land hat die Interessen der Menschen vor Ort im Blick. Gleiches gilt für unterschiedliche Branchen. In MV sind es vor allem Landwirtschaft, Fischerei und Tourismus, deren Interessen auf europäischer Ebene verhandelt werden. „Wir versuchen, in der EU nachhaltige Lösungen zu finden, die für alle möglichst gut funktionieren“, sagt Neumann.
Dabei sei der europaweite Austausch zwischen den Regionen besonders wertvoll, um voneinander zu lernen, urteilt Helmut Scholz (Linke), der für Brandenburg und MV im EU-Parlament sitzt. Dies ermögliche es, Lösungen für ähnliche Herausforderungen zu entwickeln. Die Problemlagen der Küstenfischerei in MV unterschieden sich kaum von denen in den Küstengebieten Portugals, sagt der Parlamentarier. Auch bei der Wende hin zu nachhaltiger und bezahlbarer Energie hätten viele Regionen ähnliche Voraussetzungen und Herausforderungen. Grundsätzlich sollten Themen wie die Bewältigung der Klimaerwärmung, die Förderung neuer Technologien, Umstellungen auf Kreislaufwirtschaft oder der Erhalt der Artenvielfalt gemeinschaftlich angegangen werden.
„Unsere Heimat ist Mecklenburg, Rostock, Rügen oder Vorpommern – aber gleichzeitig auch Europa“, meint Scholz. Alles hänge mit allem zusammen und darum sei es notwendig, Entscheidungen zu treffen, die in der gesamten EU als fair und sinnvoll empfunden würden.
Gegenseitiges Verständnis für die Bedürfnisse der jeweils anderen sei dabei wichtig, auch für die Arbeit von Politikerinnen. „Wir sind nicht dazu da, um Partikularinteressen durchzusetzen“, beschreibt Hannah Neumann ihre Rolle. Stattdessen spüre sie als Abgeordnete eine Gesamtverantwortung und wolle den besten Weg für alle aushandeln.
Dieser europäische Weg steht für mehr als Fördermittel. Er steht für eine Verständigung zu gemeinschaftlichen Fragen und einem fairen, geschlechtergerechten, demokratischen Miteinander. Brüssel ist noch immer weit weg. Doch ein Stück Brüssel steckt auch in Boizenburg, Boltenhagen und Bützow. Vom 6. bis zum 9. Juni wird das EU-Parlament direkt gewählt. 373 Millionen EU-Bürgerinnen sind aufgerufen, ihre Stimmen abzugeben und 720 Abgeordnetensitze zu verteilen. In MV findet die Europawahl zusammen mit den Kommunalwahlen am 9. Juni statt.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 31 von KATAPULT MV.
Quellen
- Autor nutzt generisches Femininum.↩
- E-Mail von Niklas Nienaß vom 16.4.2024.↩
- NDR (Hg.): Die EU – Welche Bedeutung hat sie für Mecklenburg-Vorpommern?, Min. 1:39, auf: ndr.de (14.4.2024).↩
- Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland (Hg.): Europa vor Ort in Mecklenburg-Vorpommern, auf: europa.eu.↩
- Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten MV (Hg.): Europäische Fördermittel in Mecklenburg-Vorpommern, auf: foerdermittel.europa-mv.de.↩
- Ziel des Green Deals ist eine EU-weite Senkung der Netto-Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990. Bis 2050 will die EU klimaneutral sein.↩
- E-Mail von Stefan Bruhn vom 16.4.2024.↩
- E-Mail von Svenja Hahn vom 18.4.2024.↩
- E-Mail von Helmut Scholz vom 18.4.2024.↩