Psychosoziale Zentren in MV

„Wir erleben einen Wahnsinns-Zulauf“

In MV haben 2023 so viele Menschen Asyl beantragt wie seit 2016 nicht mehr. Das geht aus aktuellen Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hervor. Entsprechend großen Zulauf und teils lange Wartezeiten für Termine gibt es in den Psychosozialen Zentren (PSZ) im Land. Sie bieten Geflüchteten Beratung, psychotherapeutische Begleitung und teilweise auch Sprachkurse an. Wegen geringer finanzieller Unterstützung sind in den PSZ des Landes aktuell nur 18 feste Mitarbeitende tätig – dabei leben mehr als 50.000 Geflüchtete im Land, die potenziell Unterstützung benötigen.
Aktuell im Deutschkurs v.l.n.r.: Ibrahim Tsatiev (Russland), Hasna Sghaier (Tunesien), Hassan Altiziny (Lehrer, stehend), Aras Bakari (Syrien), Kusayi Jwaed (Syrien), Saylor Kamara (Sierra Leone), Shaliko Gumaschwili (Georgien)

Im Deutsch-Anfänger-Kurs am Psychosozialen Zentrum Greifswald herrscht eine fröhliche und zugleich konzentrierte Stimmung. Acht Teilnehmende aus Sierra Leone, Syrien, Tunesien, Russland und Georgien lernen gerade in Gesprächen miteinander, sich auf Deutsch über ihren Namen, ihre Herkunft, ihren Wohnort und ihre Familien auszutauschen. 

Am Kurs nimmt auch Ibrahim Tsatiev teil. Der junge Mann ist Tschetschene und aus Russland vor der drohenden Mobilisierung für den Angriffskrieg auf die Ukraine geflohen. Tsatievs Asylverfahren läuft noch. Auf einen Platz in einem staatlich anerkannten Integrationskurs müsste er voraussichtlich lange warten, denn es gibt laut dem PSZ zu wenig Plätze in diesen Kursen. So hat er Glück, dass er in den kleinen Deutsch-Starter-Kurs am PSZ gerutscht ist, den die Diakonie MV finanziert. Ibrahim Tsatiev ist hoch motiviert. Er würde gern mit anderen auf der Straße sprechen können, sagt er, und möchte eine Ausbildung machen. Über seinen Lehrer sagt er: „Hassan ist der Beste!“ 

Der Lehrer Hassan Altiziny ist selbst 2014 aus Syrien gekommen und hat in Greifswald Deutsch als Zweitsprache studiert. Er sagt: „Den Kurs anzubieten liegt mir wirklich am Herzen.“ Selbst kleine Erfolge, wie einen selbstverfassten Text in der neuen Sprache vor der Klasse vorzutragen, lässt er mit Applaus feiern. Die Menschen seien traumatisiert und isoliert, erklärt er. In den Unterkünften für Geflüchtete hätten viele besonders am Anfang wenig Kontakt untereinander – auch wegen der Sprachbarrieren. Besonders die ersten Monate verbringen viele mit Warten – ohne Deutschkurs, Arbeitserlaubnis und in Unklarheit, ob sie einen Schutzstatus erhalten werden. Im Sprachkurs am PSZ, sagt Altiziny, können wenigstens ein paar Geflüchtete wieder mit anderen in Kontakt kommen.

Mehr als 3.000 Geflüchtete pro PSZ-Mitarbeitende:n in MV

„Und sie können Selbstwirksamkeit erleben“, ergänzt die Leiterin am Greifswalder PSZ Sandra Hickstein. Ihr zufolge erlebt das Zentrum aktuell einen „Wahnsinns-Zulauf“. Von Oktober 2023 bis jetzt hätten sie und ihre sechs Kolleg:innen rund 170 Migrant:innen beraten – von Fragen zum Arztbesuch über Kindergeldbezug bis hin zu Traumatherapie. So viele Beratungen hätte das PSZ sonst eher in einem ganzen Jahr erwartet. Auch die Koordinatorin von MVs zweitgrößtem Psychosozialen Zentrums in Rostock, Juliane Uhlenbrock, berichtet im Gespräch mit KATAPULT MV von einer hohen Nachfrage. So müssten Migrant:innen in Rostock bis zu einem Erstgespräch aktuell zwischen anderthalb und knapp drei Monaten warten. 

6.154 Menschen haben 2023 laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Erstantrag auf Asyl in MV gestellt. Laut dem Innenministerium im Land waren das so viele innerhalb eines Jahres wie seit 2016 nicht mehr. Der Landkreis Vorpommern-Greifswald, in dem das Greifswalder PSZ arbeitet, hat besonders seit Herbst 2023 einen deutlichen Anstieg registriert.In ganz MV hat sich die Zahl der Asylsuchenden in laufenden Verfahren laut dem Innenministerium in 2023 um gut 2.000 auf 8.940 Personen erhöht. Außerdem lebten laut dem Ministerium Ende 2023 weitere 22.851 Personen in MV, deren Asylverfahren bereits abgeschlossen sind, sowie weitere etwa 25.000 ukrainische Kriegsflüchtlinge. Um den insgesamt mehr als 56.000 Schutzsuchenden in MV bei Bedarf mit Beratung zur Seite zu stehen, arbeiten die Psychosozialen Zentren in Greifswald und Rostock auf Hochtouren. Allerdings passt sich ihre Hauptfinanzierung durch den Europäischen Asyl- und Migrationsfonds an den gestiegenen Bedarf kurzfristig nicht an. Geld für weiteres Personal sowie Miete und Nebenkosten für zusätzliche Beratungsräume müssten sich die PSZs woanders suchen – zum Beispiel bei der Diakonie, bei Amnesty International, bei der UNO-Flüchtlingshilfe oder beim Land MV. Immerhin sind derzeit zwei weitere Zentren im Aufbau: in Schwerin und Neubrandenburg. Dennoch stehen mehr als 56.000 potentiell beratungsbedürftigen Migrant:innen aktuell MV-weit nur 18 feste PSZ-Mitarbeitende zur Verfügung.

Quellen

  1. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.): Aktuelle Zahlen Dezember 2023, auf: bamf.de (31.1.2024).
  2. dpa Mecklenburg-Vorpommern (Hg.): Asylzahlen in MV auf höchstem Stand seit Jahren, auf www.zeit.de (12.1.2024).
  3. E-Mail vom Landkreis Vorpommern-Greifswald vom 26.01.2024.
  4. E-Mail vom Innenministerium MV vom 5.2.2024.

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