Rostock – die gespaltene Stadt
Zwischen Plattenbau und Ostseeküste
Von Victoria Flägel
Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Reich und Arm wohnen in MVs Städten immer seltener Tür an Tür. Laut einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) von 2019 sind Schwerin, Rostock und Greifswald die am stärksten sozial gespaltenen Städte in Deutschland. Nirgendwo sonst ballen sich verschiedene Einkommensklassen so sehr in unterschiedlichen Stadtteilen. Die Sozialforschung nennt das Segregation. „Segregieren“ bedeutet trennen, abspalten, absondern und meint die Entmischung von Städten.
In der Studie berechneten Forschende, wie viel Prozent der Empfänger:innen von Leistungen nach SGB II, heute also zum Beispiel Bürgergeld, in den größten deutschen Städten umziehen müssten, damit alle Einkommensschichten gleichmäßig in der jeweiligen Stadt verteilt leben würden. Das Ergebnis: In MVs Metropölchen Schwerin, Rostock und Greifswald betrug der sogenannte Segregationsindex über 42 Prozent. Will heißen: Über 42 Prozent der Bürgergeldempfänger:innen müssten in einen wohlhabenderen Stadtteil ziehen, um ein soziales Gleichgewicht herzustellen.
Lichtenhagen, Groß Klein, Lütten Klein, Evershagen und Schmarl im Nordwesten, Dierkow und Toitenwinkel im Nordosten – das sind die Plattenbauviertel an der Rostocker Peripherie. Sie sind berüchtigt und gelten mitunter als Problembezirke, Brennpunktviertel, Armutsghettos. Und auch die Daten zeigen: In diesen Stadtteilen leben mehr Menschen mit Bürgergeldbezug und geringem Einkommen. Die Mieten hingegen sind günstig. Die Plattenbauviertel stehen im Gegensatz zur adretten Altstadt, der studentischen Kröpeliner-Tor-Vorstadt (KTV) und Rostocks maritimer Tochter an der Ostsee, Warnemünde.
Ursachen in der Stadtgeschichte
Dass mit Schwerin, Rostock und Greifswald drei Städte aus MV deutschlandweit die höchsten Werte an sozialer Segregation aufweisen, ist kein Zufall. Laut der Vorgängerstudie des WZB von 2018 sind überdurchschnittlich viele Städte im Osten sozial gespalten. Und hier vor allem Städte mit innenstadtfernen Plattenbaugebieten. In Rostock wurde die Innenstadt im Zweiten Weltkrieg zur Hälfte zerstört, in anderen Städten Ostdeutschlands nahezu vollständig. Während die zu 95 Prozent zerstörten Innenstädte von beispielsweise Chemnitz und Dresden mit Plattenbauten aufgefüllt wurden, entstanden die Plattenbauviertel in Rostock eher am Stadtrand.
Nach der Wende wurden die einst begehrten Vorzeige-Satellitenstädte immer unbeliebter. Wer es sich leisten konnte, zog in Einfamilienhäuser in Vororte, später in sanierte Altbauwohnungen in den einst maroden Vierteln Stadtmitte und KTV. Heute gehören sie zu den teuersten Wohnlagen Rostocks. Im Gegensatz dazu blieb der freiwerdende Wohnraum in den „Platten“ am Stadtrand günstig. Zurück blieben vor allem einkommensarme Menschen.
Ungleiche Verteilung von Lebenschancen
Soziale Entmischung hat negative Folgen für eine Stadtgesellschaft. Diese „Ghettoisierung“ kann zu sozialen Konflikten und zur Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen beitragen. Wer die Probleme der Nachbar:innen mit wenig Geld nicht erlebt, kann deren alltägliche Probleme und Kämpfe besser ausblenden. Doch damit Chancengleichheit in der Gesellschaft herrscht, müssten sich Arme und Reiche miteinander vermischen. Durch Kontakt unterschiedlicher Milieus – mit verschiedenen Lebenswirklichkeiten – zueinander könnte ein Austausch entstehen. Nur so wird ein sozialer Aufstieg überhaupt erst möglich und Chancengleichheit entsteht.
Kinder trifft die soziale Segregation besonders stark. Sie beeinträchtigt Gesundheit, Bildung und damit Zukunfts- und Lebenschancen von finanziell armen Kindern. „Das Kennenlernen von anderen Lebensentwürfen sowie soziales Lernen im Alltag wird unter solchen ‚Ghetto-Bedingungen‘ nahezu unmöglich“, heißt es in einer Stellungnahme der Landesarmutskonferenz MV zur Studie von 2018. Laut dieser wuchs die Kindersegregation zwischen 2005 und 2014 sogar schneller als die allgemeine soziale Segregation. In Städten wie Rostock, Schwerin und Neubrandenburg seien soziale Brennpunkte entstanden, in denen über die Hälfte der Kinder arm ist. „Aus dem Zusammenspiel von hoher Armutsquote von Kindern und hoher sozialer Segregation von Kindern entstehen Quartiere, in denen sich sozial benachteiligte Kinder in einem Ausmaß ballen, wie wir es eigentlich nur aus den USA kennen.“
Gespaltene Stadt, gespaltene Gesellschaft?
Vor allem Reiche neigen dazu, sich abzugrenzen und dafür hohe Mieten in Kauf zu nehmen. Sie profitieren von einer Nachbarschaft mit hoher Bildung, sozialem Kapital und Kontakten. Für Arme hingegen hat es Nachteile, mit anderen Armen zusammenzuleben. Ihnen fehlen die Kontakte zu Menschen aus höheren Einkommensklassen.
Wissenschaftler:innen fürchten, dass die Ungleichheit zu gesellschaftlicher Entfremdung und politischer Radikalisierung führt. Auch wenn die Folgen der räumlichen Spaltung noch unzureichend untersucht sind, vermuten die Autor:innen der Studie, dass die Segregation eine politische Polarisierung und damit einhergehend den Wahlerfolg der AfD begünstigen könnte. Fakt ist: In den benachteiligten Vierteln sinkt die Partizipation. Ihre Bewohner:innen gehen seltener wählen und treten kaum für ihre Rechte ein. Das führt dazu, dass einkommensschwache Menschen in politische Entscheidungen weniger einbezogen werden.
Politische und städtebauliche Maßnahmen
Eine Segregation vom Rostocker Ausmaß aufzulösen ist eine langwierige Aufgabe. Einerseits müssen in den Plattenbauvierteln kulturelle, soziale und sportliche Angebote, Freizeitmöglichkeiten und Jobs geschaffen werden. Pläne für eine Eis- und Schwimmhalle im Nordwesten der Stadt gehen in diese Richtung. So würde nicht nur ein Anlass zu einem Ausflug in die Plattenbausiedlungen geboten, das Viertel könnte dadurch so attraktiv werden, dass auch Haushalte mit höheren Einkommen hinziehen wollen.
Gleichzeitig müsste in den wohlhabenderen Stadtteilen, in denen Arme typischerweise nicht leben, bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden, den sich auch Menschen mit wenig Einkommen leisten können. Sozialer Wohnungsbau in weniger privilegierten Vierteln hingegen führt nicht zu einer sozialen Durchmischung der Stadtgesellschaft. Im Gegenteil: Es kann die Segregation sogar verstärken, wenn Sozialwohnungen neben bereits vorhandene gesetzt werden.
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Autor:innen
Geboren in Rostock.
Aufgewachsen in Rostock.
Studierte in Rostock. Und Kiel.