KATAPULT MV: Es gibt seit vergangener Woche einen Krieg, nachdem Russland die Ukraine angegriffen hat. Wie bewerten Sie das?
Reinhard Lüken (VSM): Die harte Konfrontation mit einer nicht mehr für möglich gehaltenen neuen Realität wird Deutschland verändern, verändern müssen. Trotz aller unmissverständlichen Anzeichen hat sich Deutschland viel zu lange an eine Business-as-usual-Haltung geklammert – wir auch. Noch im Januar haben wir für die Teilnahme an einer Delegationsreise nach Russland geworben, woran natürlich wohl auf längere Sicht nicht mehr zu denken ist.
Ich glaube, so zynisch das klingen mag, Tote und Verletzte, Opfer eines Angriffskriegs an der EU-Außengrenze, sind auch ein brutaler Weckruf, der in Berlin aber angekommen ist. Die Debatten um den Verteidigungshaushalt werden jetzt anders geführt. Das wird auch für den Marineschiffbau wichtig sein.
Was sind dafür die Gründe?
Wir haben weiterhin dringende Bedarfe, die deutsche Marineflotte zu verstärken und zu modernisieren. Kurz vor Ende der letzten Legislaturperiode wurden noch mal große Auftragsvolumen im Haushaltsausschuss genehmigt, aber auch die decken noch nicht alle Anforderungen. Die deutsche Politik war hier über Jahrzehnte von Zurückhaltung geprägt, um das mal vorsichtig auszudrücken.
Aber es geht nicht nur um Geld, sondern auch um die absolut ausufernde Bürokratie in den Beschaffungsprozessen. Das kann sich nur ein Land leisten, das sich einen Krieg in Europa nicht mehr vorstellen konnte oder wollte. Fakt ist, wir haben heute die historisch kleinste Flotte seit dem Zweiten Weltkrieg. Welche Auswirkungen sich für den zivilen Schiffbau ergeben, kann man noch nicht sagen. Russische Kunden sind vor allem im Bereich der Großjachten ein wichtiger Markt.
Wie war bisher die Zusammenarbeit mit russischen Investoren?
Die Erfahrungen mit russischen Investoren bei Werften in MV waren durchwachsen, wobei insbesondere Witali Jussufow kein Vorwurf zu machen ist. Dass sein Geschäftsmodell damals nicht aufgegangen ist, lag nicht an ihm, und er hat auch keinen Scherbenhaufen hinterlassen. Dennoch kann man sich ein erneutes Engagement zurzeit kaum vorstellen.
Die aktuelle Krise der MV-Werften hat seinen Grund in der Krise um den Bau von Kreuzfahrtschiffen. Gibt es für diese Schiffe eine Zukunft?
Der Kreuzfahrtmarkt wird zurückkommen. Davon sind eigentlich alle Akteure überzeugt, denn das Produkt Kreuzfahrt ist attraktiv, wie die hohen Buchungszahlen zeigen. Aber pandemiebedingt haben die Reedereien sehr viel Geld verloren. Allein die drei großen haben in 18 Monaten Pandemie rund 30 Milliarden Euro Verlust gemacht, denn Schiffe kosten auch, wenn sie nicht fahren. Bevor nun neue Schiffe bestellt werden können, müssen die Verluste erst verdaut werden. Zumal ja in den nächsten Jahren aus dem bestehenden Bauprogramm noch zahlreiche neue Schiffe zulaufen. Das bedeutet, in den nächsten Jahren sind hier keine Bestellungen in nennenswertem Umfang zu erwarten.
Wie steht es um die Zukunft des Schiffbaus in Deutschland und Europa?
Der Schiffbau und die maritime Industrie insgesamt haben in den letzten Monaten viel öffentliche Aufmerksamkeit bekommen und ich bin überzeugt, dass den Menschen klar geworden ist, dass die Standortbedingungen verbessert werden müssen. Wir haben es bei China mit einem globalen Konkurrenten zu tun, der 200 Milliarden Euro Subventionen in diese Industrie gesteckt hat. Gegen solch einen Wettbewerber kann kein Privatunternehmer konkurrieren und deshalb ist es Aufgabe der Politik, für faire Bedingungen im Wettbewerb zu sorgen.
Was sind die Perspektiven im Schiffbau?
Eigentlich sollten wir uns vor Arbeit kaum retten können. Die gesamte globale Schiffsflotte müssen wir erneuern! Fast alle Seeschiffe fahren heute mit Schweröl und jedem ist klar, von der flüssigen Kohle müssen wir weg. Wollen wir in Europa unserem Klimaschutzziel, 55 Prozent weniger Treibhausgasemissionen bis 2030, auch für die Schifffahrt möglichst nahe kommen, dann gibt es für alle in der Schiffbauindustrie Arbeit satt.
Und weltweit?
Wir brauchen diese Anstrengungen auch weltweit. Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO) will bisher bis 2050 die Emissionen um 50 Prozent senken. Das ist viel zu langsam. Weltweit fahren ungefähr 100.000 Seeschiffe, 20.000 davon in Europa. Europa hat eine riesige Küstenlinie und enormen Transportbedarf. Diesen großen Binnenmarkt müssen wir auch mit europäischem Schiffbau versorgen. In asiatischen Ländern kaufen die Reeder im eigenen Land und Werften werden subventioniert. In Europa bekommen Reeder Steuervergünstigungen und kaufen auf den Weltmärkten. Wir brauchen europäische Förderinstrumente, die sich entlang der Wertschöpfungskette orientieren. Und das muss dann auch den Schiffbau in Europa beinhalten.
Wären MVs Werften für die Erneuerung von Schiffsantriebstechniken denkbar?
In der Seeschifffahrt ist es nicht allein eine Frage des Antriebs, sondern eine Frage des Gesamtsystems. Nicht nur die Produktion von Energie, sondern auch des Verbrauchs. Die Energiekosten sind schon heute der größte Einzelposten im Schiffsbetrieb, obwohl als billigster aller denkbaren Energieträger eben Schweröl zum Einsatz kommt. Wenn künftig saubere, CO2-neutrale Kraftstoffe genutzt werden, steigen die Energiekosten der Schifffahrt um ein Vielfaches. Dann werden Effizienzfragen entscheidend sein, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein. Wir haben dafür schon eine ganze Reihe technischer Lösungen. Aber die müssen viel stärker auch in Fahrt kommen. Darin liegt auch für die Werften in MV ein Riesenpotenzial.
Welche Chance haben wir in MV, alternative Arbeitsplätze in der maritimen Industrie zu schaffen?
Für die Schiffbauindustrie gibt es wirklich reichlich Arbeit. Neben der Flottenerneuerung entstehen gerade völlig neue Marktsegmente, wie beispielsweise der CO2-Transport per Schiff. Denn wir werden CO2 einlagern müssen. Da wird es eine Logistik geben, die wir aufbauen müssen. Das Gleiche gilt für „grünen Wasserstoff“ und darauf aufbauende Kraftstoffderivate. Denn wir werden die enorme Nachfrage nicht durch eigene Produktion decken können und werden große Mengen importieren. Und bei den jetzigen Ausbauplänen der Bundesregierung für erneuerbare Offshore-Energie schafft das natürlich auch einen Markt mit sehr viel Dynamik. Das betrifft unter anderem Umspannplattformen, die in MV damals von Nordic (Yards; Anm. d. Red.) gebaut wurden und im Markt einen sehr guten Ruf haben. Wir brauchen dazu Transport- und Errichterschiffe und die gesamte Logistik für die Instandsetzung der Windparks. Ambitionierter Klimaschutz braucht gesellschaftlichen Konsens und das wird nur klappen, wenn dadurch auch gute Arbeitsplätze entstehen.
Wie steht es denn eigentlich mit dem Recycling oder der Verschrottung von Schiffen?
Das ist eine komplexe Thematik. Allein die Genehmigung solcher Betriebe ist unter den gegenwärtigen Bedingungen des deutschen Umweltrechts extrem schwierig. Die hätten dann auch mit einem Schiffbaubetrieb nicht mehr viel zu tun. Zum einen wegen der Kostenstruktur und zum anderen, weil dann die gesamte nachgelagerte Wertschöpfung in den Zulieferbetrieben entfällt. Bei einer Autofabrik käme ja auch keiner auf die Idee, dort demnächst Autos zu verschrotten. Bessere Aussichten sehe ich allerdings für den Rückbau von Offshorestrukturen sowohl für Öl und Gas als auch für die Windenergie. Denn dort sind entsprechende Rücklagen gesetzlich vorgeschrieben.
Quellen
- Der Verband für Schiffbau und Meerestechnik (VSM) ist die politische und wirtschaftliche Interessenvertretung der deutschen maritimen Industrie. Gegründet 1884, vertritt er nach eigenen Angaben direkt und indirekt rund 700 Industriebetriebe, Gewerbetreibende und Organisationen.↩
- Witali Jussufow war Eigner und Geschäftsführer der Nordic Yards Warnemünde und verkaufte 2016 die drei Werften in Stralsund, Warnemünde und Wismar an den asiatischen Genting-Konzern.↩
- Verschiedene Kraftstoffarten, die auf Wasserstoff basieren, etwa für Autos und Flugzeuge.↩