Flüchtlingskrise

Nicht mehr im Fokus

Mehr als ein halbes Jahr stecken Migrant:innen zwischen Belarus und Polen fest. Während sich Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen aus der Grenzregion zurückziehen mussten, engagieren sich bis heute Aktivist:innen vor Ort, um die Menschen zu versorgen. In MV helfen dabei knapp 20 Menschen, indem sie weiter Spenden sammeln und Aktionen organisieren, um das Problem im öffentlichen Bewusstsein zu halten.

Von der Bundespolizei gab es in letzter Zeit nicht mehr allzu viele Meldungen über aufgegriffene Migrant:innen, die über die belarusische Grenze und Polen nach MV gekommen sind. Nach Angaben von MVs Innenministerium wurden seit Jahresbeginn an der Grenze zwischen Polen und Mecklenburg- Vorpommern keine Asylsuchenden mehr aufgegriffen. Gründe sind laut Ulrike Seemann-Katz vom Flüchtlingsrat MV zum einen die Jahreszeit und Unterkünfte direkt an der Grenze auf belarusischem Gebiet, in denen die rund 800 Menschen untergebracht worden sind. Zum anderen – und dies ist das Entscheidende –, weil Polen offiziell keine Asylsuchenden mehr ins Land lässt. Wie viele Flüchtlinge sich derzeit im Grenzgebiet noch aufhalten, ist schwer zu beziffern. Viele halten sich in den Wäldern auf. Aber interessiert das noch jemanden?

Im Fokus ist das Problem an der Grenze schon länger nicht mehr. Aber nach wie vor akut. Rund 20 Menschen aus MV versuchen deshalb weiterhin, aktiv zu helfen. Mit Geld- und Sachspenden. Sie kommen aus Parchim, Rostock, Greifswald und dem östlichen Vorpommern. Zusammengetragen werden die Spenden vor allem in Greifswald und von dort an polnische Kontaktpersonen weitergegeben, die regelmäßig an die polnisch-belarusische Grenze fahren. Zuletzt erreichte ein VW-Bus aus Rostock mit weiteren Sachspenden das Gebiet. In den letzten sechs Wochen kamen zudem insgesamt rund 10.000 Euro zusammen. Einer der Organisatoren ist Michael Steiger. Dass noch immer so viel an Spenden zusammenkommt, motiviere ihn. Das Problem sei doch noch nicht ganz vergessen. Vor allem ist er dankbar, dass die Leute zu ihm und seinen Mitstreiter:innen Vertrauen haben. Er selbst kenne auch nicht alle Hauptverantwortlichen der Organisation „firefund“, die das gesamte Netzwerk koordiniert. Die Strukturen reichen über das Bundesland hinaus, teilweise wohnen die Kontaktpersonen in Hamburg. Aber mit dieser Organisationsstruktur könne man weitaus schneller und unkomplizierter etwas bewegen als woanders, merkt Steiger an. So werden kurzerhand Fahrer organisiert, die die Geflüchteten durch Polen fahren. Ungefähr zwei Tage brauche man, um bis nach Deutschland zu kommen, erzählt Steiger. Besondere Schwierigkeiten bereite aber nach wie vor die Corona-Situation. Deshalb ist er auch noch nicht selbst an die polnisch-belarusische Grenze gefahren. Aber er will weiter von Greifswald aus helfen.

Aktionen für mehr Aufmerksamkeit

Die Gruppe aus MV hat untereinander regelmäßig Kontakt, um sich beispielsweise neue Aktionen zu überlegen, wie man die Krisensituation knapp 900 Kilometer entfernt auch hier präsent halten kann. So unterstützten die Aktivist:innen im Dezember die Aktion #GrünesLichtFürAufnahme des Aktionsbündnisses Seebrücke. Dabei wurde unter anderem auch der deutsch-polnische Grenzübergang Linken und die Staatskanzlei in Schwerin grün angestrahlt, um von den politisch Verantwortlichen konkretes Handeln zu fordern. Landesweit waren auch Organisationen und Privatleute dazu aufgerufen, ein grünes Licht ins Fenster zu stellen. Genauso hatten es im Herbst einige Anwohner:innen an der polnisch-belarusischen Grenze getan, um den Flüchtlingen zu zeigen, dass ihnen dort geholfen wird: mit Essen, Trinken und Strom, um die Handys aufzuladen. 

Die Helfer:innen-Gruppe aus MV hat zuletzt noch ein Infoblatt entwickelt, das sie den polnischen Kontaktpersonen für die aufgegriffenen Geflüchteten mitgibt. Darin enthalten sind Infos zur Reise durch Polen und was sie beachten sollten, und wohin sie sich im Asylbewerbungsverfahren in Deutschland wenden müssen.

Problematik ist weit weg

Dass der Fokus derzeit für viele auf anderen Problemen liegt, die viel näher sind, versteht Michael Steiger vollkommen. Nur dürfe man dennoch nicht die Menschen an der polnisch-belarusischen Grenze vergessen. Das Gleiche erzählt auch Ulrike Wanitschke vom Psychosozialen Dienst in Rostock. Mit dem Projekt wollen sie und ihre Kolleg:innen die psychologische und soziale Versorgung der hier aufgenommenen Migrant:innen in den Unterkünften sicherstellen. Viele Menschen aus dem Krisengebiet zwischen Belarus und Polen waren es bisher nicht, erzählt sie. Einzelfälle. Die geflüchteten Menschen aus anderen Ländern aber hätten ähnliche Erfahrungen gemacht und litten unter Traumata, die behandelt werden müssen. Im vergangenen Jahr haben sie rund 400 Menschen betreut. Die Sozialarbeiterin beobachtet auch, dass Migrant:innen, die nach MV kommen, immer kränker und erschöpfter ankommen, viel mehr Torturen hinter sich gehabt hätten. Da brauche es viel Zeit, Geduld und psychologische Arbeit, neues Vertrauen von den Menschen zu bekommen. Flüchtlinge würden immer mehr zur Ware werden, sagt Wanitschke, wie in diesem Fall zu einem Druckmittel des belarusischen Diktators Lukaschenko gegen die Europäische Union. Und die EU sichere ihre Grenzen nach der großen Flüchtlingswelle 2015 noch stärker ab. Das sei ein Kniefall vor dem Rassismus und ein Nährboden für Fremdenfeindlichkeit.

„Lokale Medien haben ein falsches Bild gezeichnet“

Hierzulande habe aber auch die mediale Berichterstattung dazu beigetragen, einen Rechtsruck eher zu verstärken als zu verhindern. Besonders ärgerte sich Wanitschke über die Berichte des Nordkuriers über die ersten Migrant:innen, die im Sommer und Herbst von Polen über die Grenze nach MV kamen. „Da wurde viel Stimmung gemacht“, sagt sie. Unter anderem gab es Berichte über den Müll, der von den Geflüchteten im Wald liegen gelassen wurde. „Als wäre das das große Problem.“ Auch der Fokus auf der Bundespolizei und die Betonung der illegalen Einreise habe ein kriminalisiertes Bild der Menschen gezeichnet. Das verhindere für einige Menschen, die unmittelbar an der Grenze zu Polen leben, sich offen gegenüber Fremden zu zeigen und mit den Migrant:innen in Kontakt zu treten. Als problematisch sieht sie auch, dass die Erstaufnahmeeinrichtungen wie Nostorf-Horst nach wie vor zu weit abgeschnitten von der Außenwelt seien. Ein Zusammenkommen mit Einheimischen ist nahezu unmöglich. Da müsse sich etwas ändern. 

„Man sollte lauter sein“ 

Auch im Falle der humanitären Krise an der Grenze zwischen Belarus und Polen sei das nötig, sagt Ulrike Wanitschke. Da die Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt werde, sollten auch die politischen Akteure lauter werden. Polen bekomme schon viel zu lange keine Konsequenzen für seine Abschottungspolitik zu spüren, außer ein paar Mahnungen. Auch Michael Steiger hatte gehofft, dass die Situation von der Politik bereits im Dezember geklärt werden würde. Ob nun Landes- oder Bundesregierung: Man hätte mehr bewegen können, sagen beide. Zum Beispiel hätte man die erfassten Migrant:innen, die noch in der Grenzregion zwischen Polen und Belarus sind, durchaus auf die Bundesländer verteilen können. So hätte man Lukaschenko zumindest ein Druckmittel genommen. Michael Steigers Hoffnung liegt jetzt auf dem angekündigten neuen Einwanderungsgesetz des Bundes. Vielleicht mache das ja manches einfacher.

Bis dahin wird er zusammen mit den anderen Helfer:innen in MV weitere Aktionen planen, um die Migrant:innen im Krisengebiet zu unterstützen und die Thematik immer wieder auch hierzulande in den Fokus zu rücken. 

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 4 von KATAPULT MV.  

Quellen

  1. Seit Juni 2021 versuchen Migrant:innen, über die belarusische Grenze in die EU zu kommen und Asyl zu beantragen, unter anderem nach Polen. Das Land nimmt jedoch keine Geflüchteten mehr auf, schiebt sie mit sogenannten „Pushbacks“ zurück in Richtung Belarus. Aber auch dieses Land erlaubt ihnen keinen Grenzübertritt mehr. Pushbacks wurde im Januar zum Unwort des Jahres 2021 gekürt.
  2. Stand: 21. Januar 2022

Autor:in

  • Bild von KATAPULT MV Redaktionsleiterin Martje Rust

    Redaktionsleitung

    Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach MV.