Fuck Racism, Save Lives“, steht weiß auf rot an der Brücke der „Sea Punk I“. Das Schiff ist 27 Meter lang, sechs Meter breit und liegt seit einigen Wochen im Greifswalder Museumshafen. Am Heck wird gerade geschweißt: Wo vorher eine Öffnung in der Schanz, der Bordwand, benötigt wurde, um Fisch anzulanden, muss jetzt ein neues Stück Stahl eingesetzt werden, damit das Schiff rundum dicht ist. Seit Anfang März wird aus einem ehemaligen Fischkutter ein Rettungsschiff, mit dem Gerson Reschke, 37 Jahre alt, sein Bruder Benjamin (33) und insgesamt 27 Vereinsmitglieder Menschen auf dem Mittelmeer retten wollen.
Die Sea Punk wäre dann eines von ungefähr zwölf europäischen Schiffen, etwa die Hälfte davon aus Deutschland, die privat eine Aufgabe übernehmen, die eigentlich eine staatliche beziehungsweise die der Europäischen Union ist: gewährleisten, dass niemand bei dem Versuch, die europäischen Grenzen zu überqueren, sein Leben verliert. Seit 2014 sind mindestens 23.000 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer gestorben, die (vermutlich hohe) Dunkelziffer nicht miteinberechnet. Die letzte Rettungsmission der EU wurde 2019 beendet.
Die Geschichte der Sea Punk I ist mittlerweile über drei Jahre alt und auch eine Familiengeschichte: Im Sommer 2019 fuhren Gerson Reschke und seine Brüder Benjamin und Raphael für einen jährlichen Wochenendurlaub mit ihrem Vater im Wohnmobil nach Münster. Seit Wochen wurde in den Medien über die „Sea Watch 3“ und ihre Kapitänin Carola Rackete berichtet, die mit 53 Menschen an Bord wochenlang vor der italienischen Küste auf die Zuweisung eines sicheren Hafens gewartet und schließlich auf eigene Faust auf Lampedusa angelegt hatte. Dafür drohten ihr mehrere Jahre Haft.
Raphael, der sich mittlerweile anderen Projekten zugewandt hat, arbeitete zu der Zeit als Schiffsmechaniker bei der Wasserschutzpolizei und war auf der Suche nach einem eigenen Schiff, nach einer beruflichen Alternative. „Eigentlich wollte er sich selbständig machen, Jachten durch den Nord-Ostsee-Kanal schleppen“, sagt Gerson. An diesem Wochenende zeigte Raphael seinen Brüdern ein Schiff, das er bei Ebay-Kleinanzeigen entdeckt hatte.
Am Anfang: eine Schnapsidee
Das aber habe nicht wie ein Schlepp-, sondern eher wie ein Rettungsschiff ausgesehen, erzählt Gerson Reschke. „Eine typische Schnapsidee. Es war spät und wir waren sicher alle nicht mehr ganz nüchtern.“ So begann die erste Überholung der Sea Punks. Die Brüder fragten eine der Rettungsorganisationen nach Rat und kauften das ehemalige Schiff der Bundesmarine. Zusammen mit der Organisation „Mission Lifeline“ bauten sie das Schiff, die „Rise Above“, wie es getauft wurde, auf. Sie fährt seit Herbst 2021. Allerdings ohne die Sea Punks – mit der Mission Lifeline habe es so große Differenzen gegeben, dass die der Meinung waren, keiner von ihnen sei fähig genug, um an der ersten Mission des Schiffes teilzunehmen.
Im vergangenen Jahr entschied sich der Verein daher, eigene Projekte zu starten. „Mission Lifeline und wir passten nicht zusammen, inhaltlich und menschlich“, sagt Gerson Reschke. Er wohnt in Darmstadt, kommt ursprünglich aus Bad Kreuznach, hat zwei Kinder und arbeitet als Filmemacher, überwiegend in der Werbung. „Wenn ich zwei Tage in der Woche in meinem Brotjob arbeite, reicht das Geld zum Leben aus“, sagt er. Nur sein Bruder Benjamin hat eine halbe Stelle als Projektkoordinator beim Verein, alle anderen arbeiten wie Gerson ehrenamtlich. Nach Greifswald sei die Sea Punk eher zufällig gekommen. Hier habe es einfach kurzfristig mit einem Liegeplatz geklappt, an dem sie die nötigen Arbeiten ausführen können, sagt er. Für die Sea Punks ist Greifswald aber nur ein kurzer Stopp: Ende Juni wollen sie losfahren, ins Mittelmeer.
Unterstützung von Bela B. und El Hotzo
Nach der zwiespältigen Erfahrung mit der Mission Lifeline hat der Verein Ende 2021 einen Spendenaufruf über die Plattform Betterplace gestartet. „Wenn wir weniger Geld bekommen hätten, dann wäre es eben ein kleineres Segelschiff für Beobachtungsmissionen geworden“, sagt Gerson Reschke. Aber auch weil Prominente wie Bela B. oder der Influencer El Hotzo die Sea Punks unterstützten, kamen fast 200.000 Euro zusammen. So viel, dass es für ein eigenes Rettungsschiff reichte. Benjamin Reschke spielt in einer Punkband und hat viele Verbindungen in die Musikszene. Gerson Reschke dreht Filme und ist gut vernetzt in der Kulturszene. Die Brüder glauben, dass ihnen das eine „eigene“ Zielgruppe ermögliche, die bereit sei, ein Projekt wie die Sea Punks zu unterstützen, auch weil sie sich lifestylemäßig von ihnen angezogen fühlten.
„Punk sein“, das bedeute für sie laut sein, sich einmischen, Wut ausdrücken, aber auch Sachen einfach selber machen und in die Hand nehmen. „Und das finden eben viele cool und unterstützen das gerne“, erklärt Gerson Reschke. Er sagt, dass er viel Verantwortung spüre. „Einerseits natürlich die Verantwortung, wirklich Leben zu retten. Andererseits auch Verantwortung gegenüber denen, die uns ihr Geld gegeben haben. Das wollen wir jetzt nicht verkacken.“
Während an Deck Sachen hin- und geräumt werden, bereitet ein Koch unten das Mittagessen für alle zu, schmiert Brote und schneidet Gemüse auf. Die Sea Punk I ist kein großes Schiff, die Mannschaftsräume sind eng, in die Messe, den Aufenthalts- und Speiseraum der Besatzung, passen gerade mal ein Dutzend Menschen. Geräumig ist nur die Brücke, das Herz des Schiffes, wo gerade die Deckenverkleidung abgenommen ist. Noch guckt die gelbe Steinwolle zur Isolierung heraus. An den Wänden hängen Funk- und Radargeräte, ein GPS, hier befinden sich das Steuerrad und das Bedienpult für den Schiffsmotor.
Alles andere als ein Spaziergang
Auf dem Achterdeck, wo jetzt die Schanz zugeschweißt wird, sollen später die „Gäste“, wie Gerson Reschke sagt, die Geretteten untergebracht werden. Hier wird es auch einen Container geben, wo Menschen, die medizinische Hilfe brauchen, versorgt werden können. Wie viele Leute kann die Sea Punk I aufnehmen? „Das ist nicht die Frage“, sagt Gerson Reschke, „die Frage ist, wie viele wir aufnehmen müssen.“ Im besten Fall seien das nur 40, es könnten aber auch dreimal so viele werden. 120 Menschen dicht gedrängt auf dem Achterdeck, dazu vielleicht hohe Wellen, schlechtes Wetter – an einem Frühlingstag bei Vogelgezwitscher im Greifswalder Stadthafen ist das nur schwer vorstellbar.
Überhaupt bleibt das Gefühl, dass die Aufgabe, die auf Schiff und Besatzung wartet, trotz aller Vorbereitung in Greifswald noch eine Armeslänge Sicherheitsabstand und einige Hundert Seemeilen entfernt bleibt. Der ehrenamtliche Einsatz der Seenotrettungsschiffe auf dem Mittelmeer ist alles andere als ein Spaziergang. Besonders problematisch war die Situation für die Hilfsorganisationen, als Matteo Salvini von Juni 2018 bis September 2019 Innenminister von Italien war und Rettungsschiffen das Einlaufen in italienische Häfen untersagte. „Das hat sich zwar geändert“, sagt Oliver Kulikowski, Sprecher der Organisation Sea Watch, der größten und vielleicht professionellsten Nichtregierungsorganisation, die zurzeit im Mittelmeer Seenotrettung betreibt, „aber die Schikanen haben sich eigentlich nur verlagert. Nun ist es so, dass andauernd Schiffe wegen Belanglosigkeiten festgesetzt werden.“ Immer wieder gebe es neue rechtliche Hindernisse, die den Besatzungen das Leben schwermachen, Anforderungen an Ausrüstung des Schiffe und Ausbildung der Crews, die sich in den vergangenen Jahren regelmäßig änderten. Aber auch wenn alle Vorschriften erfüllt seien, lägen Rettungsschiffe immer mal wieder unfreiwillig im Hafen. „Wir wurden schon mal festgesetzt, weil wir angeblich zu viele Rettungswesten an Bord hatten“, erzählt er. Zusätzliche Schiffe wie die Sea Punk I würden also dringend benötigt. „Trotzdem kann alles, was wir machen, immer nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein“, sagt er. „Es bleibt eben eine staatliche Aufgabe.“
Ende Juni geht es los
Unter welcher Flagge die Sea Punk I fahren wird, steht noch nicht fest – gerade hat Gerson Reschke deshalb mit dem Ship Manager telefoniert, der organisatorische und technische Dinge für den Verein übernimmt. Auf der Sea Punk I sollen wie auf den anderen NGO-Schiffen professionelle Seeleute und Mediziner:innen mitfahren, unterstützt von Laien. Schiffstaufe ist am 21. Mai, Ende Juni geht es los. Die Fahrt nach Südspanien, in den Hafen Burriana, wo ein Teil der europäischen NGO-Flotte liegt, dauert etwa zwei Wochen.
Die Sea Punk I soll dann für bis zu dreiwöchige Einsätze auslaufen und vor den libyschen Hoheitsgewässern nach Flüchtlingsbooten in Seenot suchen und in Absprache mit den Leitstellen zur Seenotrettung auch Schiffbrüchige an Bord nehmen. Weil die Hilfsorganisationen nicht auf Seenotrufe warten, sondern sich selbständig auf die Suche nach Schiffbrüchigen machen, wird ihnen vorgeworfen, mit den libyschen Schleusern zusammenzuarbeiten und die Migration über das Mittelmeer zu befeuern. Sie werde dadurch attraktiver, weil die Menschen davon ausgehen könnten, gerettet zu werden. „In meinen Augen ist das Unsinn“, sagt Gerson Reschke. „Ich sehe es so, dass die EU nicht nur ihrer Aufgabe der Seenotrettung nicht nachkommt, sondern auch noch durch die Unterstützung der sogenannten libyschen Küstenwache ein brutales System aufrechterhält, das die Lage der Migranten aussichtslos macht.“
Tatsächlich bezahlt die Europäische Union die als korrupt und gewalttätig geltende libysche Küstenwache dafür, Bootsflüchtlinge abzufangen und nach Libyen zurückzubringen. Auch die Zustände in den libyschen Flüchtlingslagern mit aufgegriffenen Flüchtlingen aus ganz Afrika werden als katastrophal und menschenunwürdig beschrieben.
Gerson Reschke sagt, dass sich die Crews nach jedem Einsatz abwechseln würden, um die psychische Belastung auf mehrere Schultern zu verteilen. Denn das Leben auf engstem Raum auf See, das Warten auf Seenotfälle und die Begegnung mit Menschen in emotionalen Extremsituationen ist anstrengend. Retten wollen heiße auch, Konflikte aushalten zu müssen, keinen Rückzugsraum zu haben und kann auch bedeuten, zu spät zu kommen, Sterbenden zu begegnen, Leichen sichten zu müssen. „Wir haben drei Psychologinnen in unserem Freundeskreis, die mit uns Trainings veranstalten, die uns Möglichkeiten aufzeigen, wie wir in schwierigen und belastenden Situationen erst mal so lange funktionieren können, bis Zeit dafür ist, diese Erlebnisse zu verarbeiten“, sagt Gerson Reschke.
Warum stecken die Brüder so viel Zeit und Geld in ihr Projekt? Wenn Gerson Reschke wollte, könnte er mehr als doppelt so viel Geld als Werbefilmer verdienen, müsste nicht durch ganz Deutschland reisen, um in Greifswald auf einem engen Schiff zu leben, und hätte sich nicht viele Nächte bei unzähligen Videokonferenzen um die Ohren schlagen müssen. Er sagt, dass es durchaus nicht nur moralische Gründe dafür gebe. „Es hat schon auch was mit Abenteuerlust zu tun. Und es war ja nun mal so, dass die Idee schon mal da war“, sagt er. „Wir mussten nur noch ‚ja‘ sagen. Und es nicht zu machen, das hätte eben auch bedeutet, aktiv ‚nein‘ zu sagen.“ Er findet, dass jede, jeder, das machen solle, was möglich sei. „Andere spenden vielleicht, machen politische Arbeit, machen auf Projekte wie unseres aufmerksam. Das ist auch wichtig. Für mich ist eben dies hier möglich.“ Beim ersten Einsatz der Sea Punk I im Mittelmeer will Gerson Reschke selbst dabei sein.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 7.
Quellen
- Missing Migrants Project (Hg.): Migration within the mediterranean, auf: missingmigrants.iom.int (21.4.2022).↩
- Der Tagesspiegel (Hg.): „Die Rettung von Menschenleben bleibt ein Muss“, auf: tagesspiegel.de (31.3.2019).↩
- Meiler, Oliver: Kapitänin droht nach Festnahme mehrjährige Haft, auf: sueddeutsche.de (29.6.2019).↩
- Braun, Michael: Hauptsache blockieren, auf: zeit.de (10.7.2018).↩
- Rohwedder, Wulff: Lebensretter oder Schlepperkomplizen?, auf: tagesschau.de (11.7.2019).↩
- Heinlein, Stefan: „Die Lage für die Flüchtlinge ist entsetzlich“, auf: deutschlandfunk.de (16.9.2019).↩