Filmfest im Rostocker Stadthafen

„Berühr mich“ – ein Meisterwerk der Empathie und Authentizität

Intim, authentisch und zutiefst bewegend: so lässt sich das Dokudrama „Berühr mich“ wohl am besten beschreiben. Ein Film, der sich dem Thema Sexarbeit widmet – allerdings aus einem anderen Blickwinkel, als man es vielleicht gewohnt ist.

Wenn die Leute hören, ich biete Sex für Geld, dann bin ich ne Hure. Und wenn die hören, ich mache das für Behinderte, dann bin ich plötzlich ne Heilige – und das ist Quatsch!

So die Worte von Thomas. Thomas ist Sexualbegleiter, der einmal pro Woche die Protagonistin dieses Kurzfilms besuchen kommt. Sie heißt Christine, mag Schalke, Dirty Dancing (besonders Patrick Swayze) – und sie sitzt im Rollstuhl. Schön ist, dass Berühr mich diese Informationen auch in genau dieser Reihenfolge herausgibt. Zuerst ihre Interessen, vermittelt durch Bilder ihrer Wohnung, die schon fast wie Stillleben wirken, dann erst der Zusatz „Rollstuhl“.

Doch die allererste Einstellung, die noch vor der Einblendung des Filmtitels zu sehen ist, zeigt, wie jemand die nackte Christine zeichnet. Und das ist das eigentliche Thema des Films: Christines sexuelle Bedürfnisse. Denn natürlich wollen auch behinderte Menschen Aufmerksamkeit, Liebe und Zärtlichkeit erfahren – und genau das gibt Thomas Christine.

Mit diesem ruhigen, einfühlsamen Dokudrama hat Regisseur Hendrik Ströhle einen unheimlich intimen, wunderschönen Film geschaffen – und lenkt gleichzeitig den Blick auf ein Thema, das zwar eigentlich extrem relevant sein sollte, gesellschaftlich allerdings bisher weitestgehend ignoriert wird. 

In Deutschland hat jeder Mensch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Entfaltung. Es steht zwar nicht genau so im Grundgesetz, doch in Absatz 1 von Artikel 2 heißt es: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“, und auch aus dem berühmten ersten Artikel, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lässt sich ein Recht auf den freien Ausdruck der eigenen Sexualität ableiten. Das heißt aber noch lange nicht, dass der Staat damit automatisch verpflichtet ist, die Erfüllung dieses Rechts für alle zugänglich zu machen. So werden Sexualbegleiter:innen wie Thomas in Deutschland nicht von der Krankenkasse oder anderen Institutionen bezahlt. Stattdessen müssen die Klient:innen die Kosten selber tragen. Und diese sind durchaus nicht gering: Der Preis für eine Stunde Sexualbegleitung bewegt sich ungefähr zwischen 120 und 200 Euro.

Dazu kommen Hindernisse, denen Menschen in betreuten Wohneinrichtungen unterliegen. So gibt es oftmals keine privaten Rückzugsorte, die sich abschließen lassen. Bewohner:innen von Heimen und Pflegeeinrichtungen haben kaum die Möglichkeit, einander ohne Aufsichtsperson zu begegnen und intim zu werden.

Das Thema Intimität ist ein gutes Stichwort: Man würde ja meinen, eine Kamera im Raum würde das Entstehen von intimen, authentischen Momenten erschweren. Aber in Berühr mich gelingt dies trotzdem: Die Regie beweist ein starkes Gespür für Situation und Menschen. Da gibt es Momente, in denen die Einstellung so lange gehalten wird, dass Christines ganzer Gesichtsausdruck sich auf einmal verändert und sie plötzlich eine ganz andere Seite und Gefühlslage zeigt. So geht in einer unheimlich berührenden Szene Christines Lachen plötzlich in Weinen über.

Nur durch solche Momente wird die eigentliche Mehrdeutigkeit dieses Kurzfilms klar. Es liest sich zwar wie eine positive Erfolgsgeschichte, doch unterschwellig ist doch immer Christines Traurigkeit darüber zu spüren, dass sie mit Thomas nur eine begrenzte Zeit verbringen kann und er eben nicht mit zu ihr kommt an Feiertagen wie Weihnachten, also: dass er kein vollwertiger Partner ist. Und so wunderschön ihr Glück auch sein mag, so fragil ist es gleichzeitig. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, was passiert, falls Thomas plötzlich wegzieht, in Rente geht oder Ähnliches.

Berühr Mich ist ein Dokudrama des 22-jährigen Ludwigsburgers Hendrik Ströhle. Sein Film erregte bereits einige Aufmerksamkeit und wurde unter anderem auf die Shortlist der britischen BAFTA Student Film Awards gesetzt. Vollkommen zu Recht: Mit seinen 27 Minuten kratzt der Kurzfilm an der Maximallänge für nominierte Filme, die das FiSH-Festival bei 30 Minuten setzt. Allerdings geht diese knappe halbe Stunde vorbei wie im Flug.

Berühr mich ist schon allein wegen seines Themas interessant. Es werden Einblicke in eine Welt gewährt, zu der die meisten Zuschauenden vermutlich kaum einen Zugang haben. Doch auch die Gesamtkomposition überzeugt: Interviewausschnitte mit Christine und Thomas wechseln sich ab mit authentischen Eindrücken aus Christines Alltag und schließlich dem Treffen der beiden. Mit Christine verfügt der Film über eine unheimlich sympathische Protagonistin, die man gern noch länger begleiten würde.

Und so wird schnell klar, wie geschickt der Filmtitel gewählt ist: Die Aussage „Berühr mich“ lässt sich einerseits beziehen auf Christine, die sowohl körperlich als auch emotional von Thomas berührt wird. Doch auch das Publikum wird diesen Film vermutlich nicht ansehen können, ohne zumindest ein wenig bewegt zu werden von dem Geschehen auf der Leinwand.

Daher ist dieser Film absolut empfehlenswert. Eine kleine Warnung sollte allerdings ausgesprochen werden: Es gibt einige doch recht explizite Szenen, also sollte man ihn sich vielleicht eher mit Freund:innen ansehen als mit Eltern oder Großeltern.

Diese Rezension entstand im Rahmen der unabhängigen filmab!-Redaktion zum FiSH-Filmfest im Stadthafen Rostock vom 28. April bis 1. Mai 2022 in Kooperation mit KATAPULT MV. Hier stellen sich die jungen Redakteur:innen vor: Das ist die filmab!-Redaktion 2022. 

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