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Rechte Gewalt

13 Tote

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Die Schicksale einzelner Todesopfer sind im Buch „Kein Vergessen – Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945“ von Thomas Billstein nachzulesen. Die Amadeu-Antonio-Stiftung pflegt ebenfalls eine Datenbank mit den Fallbeschreibungen. Die Karte entstand aus dem Abgleich dieser Quellen sowie einer Rechercheliste von Zeit Online und dem Tagesspiegel.

Die Übersichtskarte der Todesopfer in ganz Deutschland wurde für KNICKER #12 erstellt. Damit die Karte weite Verbreitung findet, stellt sie die KNICKER-Redaktion zum freien Download zur Verfügung. KNICKER #12 „Rechte Gewalt“ mit weiteren Karten und Hintergrundinformationen zu Ideologien, Strukturen und Gewalttaten gibt es hier.


Für Mecklenburg-Vorpommern werden 13 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 erfasst.

von der Amadeu Antonio Stiftung:

Dragomir Christinel (15.03.1992)
Der Rumäne Dragomir Christinel wird am 15. März 1992 in einem Asylbewerberheim in Saal bei Rostock bei einem Angriff einer 25-köpfigen Gruppe deutscher Jugendlicher zu Tode geprügelt. Der 18-jährige Asylbewerber stirbt an Hirnblutungen. Der Überfall auf das Heim war ein Racheakt für eine Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Rumänen am Vorabend. Im Juni 1992 verurteilt das Bezirksgericht Rostock einen 18-Jährigen wegen Körperverletzung mit Todesfolge und schweren Landfriedensbruchs zu einer Jugendstrafe von zweieinhalb Jahren. Zwei weitere Angreifer erhalten Bewährungsstrafen.

Boris Morawek (11.07.1996)
Am Abend des 11. Juli 1996 wird der 26-jährige Boris Morawek auf dem Thälmannplatz in Wolgast von zwei betrunkenen 19- und 22-jährigen Skinheads mit Springerstiefeln und Faustschlägen malträtiert. Zeugen rufen die Polizei. Gegenüber zwei uniformierten Beamten rechtfertigt der 22-jährige Haupttäter Andreas J. die fortgesetzten Fußtritte gegen den Kopf von Boris Morawek. Dieser habe ein dreijähriges Mädchen missbraucht, der „Kinderschänder“ habe keine Rechte mehr. Die Beamten verhindern nicht, dass die Skinheads weiter auf den am Boden liegenden Mann eintreten. Erst als Bereitschaftspolizei eintrifft, werden Andreas J. und sein Mittäter festgenommen. Boris Morawek stirbt zwei Tage später an seinen schweren Kopfverletzungen. Das Landgericht Stralsund verurteilt den einschlägig vorbestraften Andreas J. im Januar 1998 wegen Totschlags zu achteinhalb Jahren Haft, sein Mittäter erhält eine Jugendstrafe von fünf Jahren. Einen rechtsextremen Hintergrund sieht das Gericht nicht. Seine Gesinnung kann Andreas J. auch in der Haft ausleben: Mit der Skinheadband „Staatssturm“ nimmt er rechte Songs auf, die Gesinnungsgenossen im Internet präsentieren.

Horst Gens (22.04.1997)
Vier junge Männer entführen am 22. April 1997 in Sassnitz den Arbeitslosen Horst Gens. Der 50-Jährige wird geschlagen und in einen Straßengraben geworfen. Die Täter kommen später nochmals vorbei und erschlagen G. mit einem 30 Kilogramm schweren Stein. Der Staatsanwaltschaft Stralsund berichten die 18 bis 29 Jahre alten Täter, sie wollten „Asis klatschen“. Das Landgericht Stralsund verurteilt die Schläger wegen Mordes zu Jugendstrafen zwischen sechs und zehn Jahren.

Klaus-Dieter Gerecke (24.06.2000)
Der Obdachlose Klaus-Dieter Gerecke wird in der Nacht zum 24. Juni 2000 in Greifswald erschlagen. Als Tatverdächtige nimmt die Polizei einen 20-jährigen Mann und zwei 18 Jahre alte Frauen fest. Sie sollen von dem Obdachlosen Bier und Geld verlangt haben. Die drei Tatverdächtigen werden der rechten Szene zugeordnet. Im Dezember 2000 verurteilt sie das Landgericht Stralsund zu langjährigen Freiheitsstrafen, erkennt aber kein rechtsextremes Motiv. Im Januar 2010 sagt der zuständige Polizeisprecher Axel Falkenberg dazu, das Gericht habe zwar pauschal „niedrige Beweggründe“ festgestellt, „von der Motivlage her ging es aber eindeutig gegen Obdachlose“.

Jürgen Seifert (09.07.2000)
Am 9. Juli 2000 überfallen fünf Rechtsextremisten in einem Abrisshaus in Wismar den Obdachlosen Jürgen Seifert. Der 52-Jährige wird mit Schlägen und Tritten so schwer misshandelt, dass er kurze Zeit später seinen Verletzungen erliegt. Laut Polizei handelt es sich bei den geständigen Tätern um Rechtsextremisten. Dennoch kann die Tötung des Obdachlosen nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Schwerin nicht als rechtsextreme Tat gewertet werden. Von einschlägigen Tätowierungen dürfe nicht auf die Gesinnung geschlossen werden, so die Richter. Der 21-jährige Haupttäter wird wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Norbert Plath (24.07.2000)
Der 51 Jahre alte Obdachlose Norbert Plath wird am 27. Juli 2000 in Ahlbeck von vier jungen Rechtsextremisten zu Tode geprügelt. In den Vernehmungen bei der Polizei nennen die Täter ihr Motiv: „Hass auf Obdachlose.“ Einer sagt, „Asoziale und Landstreicher gehören nicht ins schöne Ahlbeck“.

Eckhard Rütz (25.11.2000)Am frühen Morgen des 25. November 2000 wird der Obdachlose Eckhardt Rütz in Greifswald vor der Mensa der Universität von drei Skinheads mit Baumstützpfählen zusammengeschlagen. Die Täter traktieren das Opfer auch mit Tritten. Der 42-jährige Rütz stirbt am nächsten Tag an seinen schweren Kopfverletzungen. Bei ihrer Vernehmung sagen die Schläger, weil „so einer wie Rütz dem deutschen Steuerzahler auf der Tasche liegt“, habe man dem Obdachlosen eine Lektion erteilen wollen. Ein 16-jähriger Angreifer war laut Staatsanwaltschaft bis kurz vor der Tat Mitglied der NPD. Im Juni 2001 verurteilt das Landgericht Stralsund die 16-Jährigen Maik J. und Marcel L. wegen Mordes zu Jugendstrafen von siebeneinhalb und sieben Jahren. Der 21-jährige Maik M. erhält zehn Jahre Haft.

Fred Blank (25./26.03.2001)
In den frühen Morgenstunden des 26. März 2001 stirbt der 51-jährige Fred Blank in Grimmen an Gehirnblutungen. Der alkoholkranke Frührentner war in seiner Wohnung von zwei jungen Männern der rechten Szene mit Stuhlbeinen, Faustschlägen und Tritten traktiert worden, weil er sich weigerte, den ihm flüchtig bekannten Angreifern Geld zu geben. Die Staatsanwaltschaft Stralsund geht davon aus, dass die jungen Männer im Alter von 17 und 21 Jahren auf „Sauftour“ waren und sich dafür mehr Geld beschaffen wollten. Fred Blank sei ein „leichtes Opfer“ gewesen. Einen rechten Hintergrund schließen Polizei und Staatsanwaltschaft aus. Der ältere der beiden Angreifer ist wegen Körperverletzung und Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vorbestraft. Die Staatsanwaltschaft sieht aber kein „ideologisches Fundament“. Im November 2001 verurteilt das Landgericht Stralsund die beiden Männer, die vor Fred Blank noch einen weiteren Mann angegriffen hatten, der sich aber wehren konnte, wegen versuchter Erpressung und Totschlags zu Haftstrafen zwischen vier und sieben Jahren.

Mohammed Belhadj (22.04.2001)
In der Nacht zum 22. April 2001 wird nahe Jarmen der 31-jährige algerische Asylbewerber Mohammed Belhadj erschlagen. Als Täter werden vier Männer aus Greifswald im Alter zwischen 18 und 22 Jahren ermittelt. Einer nimmt sich in der Untersuchungshaft das Leben. Im Prozess am Landgericht Neubrandenburg behaupten die unter anderem wegen Gewaltdelikten vorbestraften Angeklagten, sie hätten Belhadj auf Haschisch angesprochen, dann sei es während der Autofahrt zum Streit gekommen, weil er den Weg zum Wohnheim nicht mehr sicher sagen konnte und die Angeklagten sich um den in Aussicht gestellte Haschisch-Deal betrogen fühlten. Daher begannen sie den 31-Jährigen schon im Auto unter anderem als „Penner“ zu beschimpfen und zu schlagen. An einem Kiessee bei Zarrenthin zerrten sie ihr Opfer aus dem Wagen, traten und schlugen auf den am Boden Liegenden ein und zerrten ihn schließlich zum Ufer des Kiessees. Dort zwangen sie ihn, im Wasser zu knien, dann warf der 18-jährige Haupttäter dem Opfer einen Stein ins Gesicht. Belhadj fiel dadurch in den See, wo er ertrank. Als einer der Schläger auf dem Nachhauseweg fürchtet, Belhadj sei tot, sagt ein Kumpan: „Mach dich doch nicht fertig. Es war doch nur ein scheiß Ausländer.“ Im März 2002 verurteilt das Landgericht Neubrandenburg die drei Angeklagten wegen Mordes zu Jugendstrafen zwischen fünfeinhalb und neun Jahren. Der 18-jährige Haupttäter sei in „menschenverachtender Weise“ mit seinem Opfer umgegangen, stellt das Gericht fest. Einen ausländerfeindlichen Hintergrund erwähnen die Richter nicht.

Klaus Dieter Lehmann (15.05.2002)
Der Behinderte Klaus Dieter Lehmann (19) wird am 15. Mai 2002 in Neubrandenburg von zwei Skinheads gequält. Lehmann stirbt an den Folgen gezielter Stiefeltritte ins Gesicht. „Es sah so aus, als wäre mit dem Kopf Fußball gespielt worden“, sagt die Staatsanwaltschaft. Das Landgericht Neubrandenburg verurteilt einen Täter wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu sechs Jahren und neun Monaten. Der zweite Skinhead, der auch einen Jugendlichen mit einem Schuss aus einer Schreckschusspistole verletzt hat, erhält wegen gefährlicher Körperverletzung dreieinhalb Jahre. Laut Gericht war Lehmanns Behinderung kein Anlass für die Tat, das Opfer habe „normal“ gewirkt.

Mehmet Turgut (25.02.2004)
Mehmet Turgut wird am 25. Februar 2004 kurz nach 10 Uhr morgens in einem Dönerimbiss in Rostock-Dierhagen mit drei „fast aufgesetzten Schüssen“ in Hals, Nacken und Kopf von der rechtsterroristischen Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) ermordet. Der 25-jährige älteste Sohn einer kurdischen Familie, der erst seit Kurzem in dem Imbiss als Aushilfe arbeitet und sich nach der Ablehnung seines Asylantrags ohne gültigen Aufenthaltstitel in Deutschland aufhält, wird regelrecht „hingerichtet“, wie die Ermittler feststellen. Jahrelang verdächtigen sie Turguts Arbeitgeber und seine Familie in der Türkei der Tatbeteiligung. Für Mehmet Turgut, den alle „Memo“ nannten, sei Deutschland „das Land der Hoffnung“ gewesen, sagen seine jüngeren Brüder. Im Februar 2012 greifen zwei Dutzend mit Schlagstöcken bewaffnete Neonazis eine Gedenkveranstaltung für Mehmet Turgut an. Am Tatort erinnern seit 2014 zwei Betonbänke mit türkisch-deutschen Inschriften an den 25-Jährigen.

Andreas F. (01.01.2007)
Aufgrund von Meinungsverschiedenheit unter Neonazis von mehreren verprügelt und erstochen.

Karl-Heinz L. (30.09.2012)
In seinem Haus in Butzow stirbt am 30. September 2012 der 59-jährige Karl-Heinz L. Der 28-jährige Täter stammt aus der rechtsextremen Szene in der Region Anklam, seine Freundin ist die Tochter des Opfers. L. steht unter dem Verdacht, seine Tochter sexuell missbraucht zu haben, weshalb der Täter ihm einen „Denkzettel“ verpassen will. Erst schlägt und tritt er ihn mit bleiverstärkten Handschuhen und Stahlkappenschuhen zusammen. Dann ersticht er ihn schließlich mit einem Brotmesser. Seine rechtsextreme Gesinnung und der in der Szene verbreitete Hass auf Sexualstraftäter („Todesstrafe für Kinderschänder“) werden vom Gericht als wesentliche Tatmotive festgestellt.

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