Sinti:zze und Rom:nja in MV
Auf ewig vorverurteilt?
Von Louise Blöß und Martje Rust
Lesedauer: ca. 14 Minuten
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Das Dorf Weitin bei Neubrandenburg war einst ein Wohnort für viele Sinti:zze-Familien. Hier trafen sie sich über Jahrzehnte, um vor allem auf dem Pferdemarkt in Neubrandenburg Handel zu treiben. Im Nationalsozialismus wurde Weitin zu einem Zwangslager umfunktioniert. Dort pferchten die Nazis Familien aus dem ganzen Land zusammen, bevor sie sie zu einem Großteil ins Vernichtungslager Auschwitz brachten. „Allein im Zug vom 4. März 1943 verschleppten die NS-Behörden 210 Mecklenburger Sinti:zze und Rom:nja über Neustrelitz nach Auschwitz“, schreibt das Forschungsprojekt Geschichtswerkstatt zeitlupe aus Neubrandenburg. Nach heutigem Forschungsstand waren die Hälfte dieser Sinti:zze und Rom:nja Kinder unter 14 Jahren.
Der Treffpunkt, das spätere Lager in Weitin, geriet nach Ende des Zweiten Weltkriegs nahezu in Vergessenheit. Erst 2012/13 rückte es vor allem durch ein Schulprojekt der Europaschule Rövershagen (Landkreis Rostock) wieder in den Fokus. Ebenso wie zahlreiche andere Geschichten verfolgter Sinti:zze und Rom:nja aus dem heutigen Bundesland MV. Schüler:innen und Lehrkräfte sammelten Informationen aus verschiedenen Archiven sowie vorangegangenen Forschungsarbeiten und entwickelten daraus eine Wanderausstellung mit lokalen Biografien und einer Broschüre. Ihr Engagement wurde 2014 mit dem Jugendpreis der Annalise-Wagner-Stiftung ausgezeichnet. Der Auftakt für weitere Bestrebungen, möglichst viele Schicksale der nahezu unbekannten Bevölkerungsgruppe zu dokumentieren.
Mit dem Projekt Geschichtswerkstatt zeitlupe führt der Verein RAA – Demokratie und Bildung Mecklenburg-Vorpommern diese Spurensuche und die Aufarbeitung insbesondere für Jugendliche und pädagogische Fachkräfte weiter fort. Unterstützt werden die Mitarbeitenden von der Landeszentrale für politische Bildung, lokalen Initiativen und Vereinen sowie der Historikerin Natalja Jeske.
Eine Mitarbeiterin der Geschichtswerkstatt ist Constanze Jaiser. Die Historikerin mit speziellem Fokus auf biografische Forschung ist seit mehr als 20 Jahren in Gedenkstätten tätig, arbeitete zuletzt für die Holocaust-Gedenkstätte in Berlin und seit 2016 für die Geschichtswerkstatt in MV. KATAPULT MV sprach mit Jaiser vor dem Hintergrund des Biografienbandes Sinti und Roma in Mecklenburg und Vorpommern, der in diesem Jahr erschien, dem Jahrestag von Rostock-Lichtenhagen im August und aktueller Fälle von Antiziganismus in MV.
KATAPULT MV: Wie viele Sinti:zze und Rom:nja lebten früher in MV?
Constanze Jaiser: Unsere Namensdatenbank umfasst bisher etwa 500 Namen. Es sind weitgehend Sinti. Das bedeutet nicht, dass sie alle fest in Mecklenburg-Vorpommern gelebt haben. Aber sie haben starke Bezüge hier, wie ihren Geburtsort, oder sie haben über längere Zeit hier gelebt. 500 sind auf den ersten Blick nicht so viel. Andererseits: in einem dünn besiedelten Land schon.
Wie geht die Aufarbeitung voran?
Wir beschäftigen uns intensiv seit etwa 2019 damit. Seitdem durchsuchen wir von der RAA-Geschichtswerkstatt Archive auf Namen. Das war zum Teil sehr schwierig wegen Corona – die Archive waren nicht gänzlich zugänglich. Aber es ging einiges zum Glück auch online.
Sind Sie schnell fündig geworden?
Ich war fast erschrocken, wie schnell ich so viele Namen gefunden hatte. Und ich dachte, das kann doch nicht sein, dass bisher einfach so wenig aufgearbeitet ist.
Zu Weitin allein gab es kaum Informationen. Ich wollte zum Beispiel einfach selbst wissen, ob es nun – wie in einigen Quellen zu lesen – ein von den Nazis errichtetes Lager war oder es das schon vorher gab. Das Ergebnis: Das gab es schon lange. Es war ein Treffpunktlager, wo die Familien, strategisch sehr klug gewählt, sowohl zum Pferdemarkt in Neubrandenburg als auch mit ihren mobilen Berufen in die Dörfer fahren konnten. Daraus wurde dann mit dem sogenannten Festsetzungserlass von [SS-Chef Heinrich; Anm. d. Redaktion] Himmler ein Zwangslager.
Warum hat es so lange gedauert, bis eine Aufarbeitung ernsthaft angeschoben wurde?
Das kam mit dem Herannahen des 30. Jubiläums von Rostock-Lichtenhagen. Es wissen einige Leute mittlerweile, dass Antiziganismus da eine große Rolle gespielt hat. Und wir wollten das historische Datum nicht einfach so verstreichen lassen, ohne etwas deutlicher zu werden.
Lichtenhagen – ein Zeichen des Antiziganismus
Das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen, das sich im August zum 31. Mal jährte, hat die Ausgrenzung, Diskriminierung und gewalttätige Bedrohung von Sinti:zze und Rom:nja in MV einmal mehr verdeutlicht. Allerdings fast 50 Jahre nach dem Völkermord in der NS-Zeit. Der Rassismus der Neunzigerjahre gegen sie, so schreibt es das Dokumentationszentrum Lichtenhagen im Gedächtnis, sei „Kernbestandteil der Gewaltdynamik“ gewesen. Dazu beigetragen hätten unter anderem „rassistische Äußerungen“ aus der Politik und eine „stereotype Berichterstattung“. Die Historikerin Stefanie Oster, die am Dokumentationszentrum forscht, identifiziert die Wahrnehmung der Menschen in der Öffentlichkeit als Täter-Opfer-Umkehr. Nicht die damals katastrophale Versorgungssituation vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylsuchende (Zast) stand im Fokus der Kritik, sondern die Überlebensstrategie der Ankommenden.
Wie kam es dazu, dass sich beim Pogrom von Rostock-Lichtenhagen der Hass so sehr an den Sinti:zze und Rom:nja entzündet hatte?
Diese Stereotype, die noch immer existierten, sind sehr schnell sehr heftig aufgeflammt. Der äußere Anlass war, dass das Sonnenblumenhaus (hier war die Zast untergebracht; Anm. d. Redaktion) bereits aus allen Nähten platzte. In dieser Situation kamen die rumänischen Menschen noch hinzu, die in der Not auf der Wiese vor dem Haus campten. Und das war ja schon für manche das Stereotyp schlechthin – „die wilden Unzivilisierten“. Durch mehrere Faktoren wurde es dann weiter aufgeheizt. Die Stadt, die Polizei und auch die Medien haben es im Grunde laufen lassen. Hinzu kamen rechte Kräfte. Aber was genau das Fass schlussendlich zum Überlaufen brachte, kann ich gar nicht sagen. Das ist mir bei solchen Ereignissen immer ein Rätsel – warum sollen die Menschen, die angegriffen werden, jetzt eigentlich anders sein als die anderen?
Die nie endenden Vorurteile
Sinti:zze und Rom:nja sind mit bis zu zwölf Millionen Menschen europaweit die größte Minderheit. Und obwohl sie seit über 600 Jahren in Deutschland leben, werden sie auch in MV nach wie vor häufig eher als Täter:innen denn als Opfer von Straftaten gesehen.
Betroffene von Rassismus hätten daher kaum Vertrauen in die Polizei, sondern vielmehr Angst vor Nachteilen für sie selbst oder Angehörige, sagt Silas Kropf, Vorsitzender der bundesweiten Meldestelle für Antiziganismus (Mia). Somit erstatten sie selten Anzeige. „Zudem verhindert fehlendes Wissen über das Ausmaß von Antiziganismus in der Gesellschaft oft, dass Polizeibehörden Ermittlungen bei antiziganistisch motivierten Straftaten aufnehmen.“
Sinti:zze und Rom:nja werden auch heute noch ausgegrenzt und sind mit gesellschaftlicher Ablehnung konfrontiert. Haben sich die zugrunde liegenden Stereotypen über die Zeit verändert?
Nein. Zum Beispiel der Bilderhaushalt ist noch sehr stereotyp und wird immer wieder reproduziert. Schon seit den 1990er-Jahren gibt es den: viele Kinder, sehr bunt, sehr arm, verdreckt, Zigaretten im Mund, obwohl ein Kind auf dem Arm gehalten wird. Als NS-Forscherin glaube ich, dass die Nazis es in einer furchtbar teuflischen Weise geschafft haben, das Stereotyp von Asozialität, das ja immer auch Angst in der Bevölkerung macht – Angst um sozialen Abstieg –, mit rassistischer Ideologie zu kombinieren.
Wir sind alle leider noch immer von diesem Bilderhaushalt betroffen. Warum dieser so fest in den Köpfen ist, ist wahrscheinlich eine ähnliche Frage wie die, warum es Rassismus gibt.
Vorurteile kamen mit EU-Beitritten und Ukrainekrieg neu auf
Viele Rom:nja flohen aus Rumänien und den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens in den 90er-Jahren nach Deutschland. Unter anderem deshalb, weil sie dort Diskriminierung, Benachteiligung und großer sozialer Not ausgesetzt waren. Als Rumänien und Bulgarien 2007 der EU beitraten, wurde in der Öffentlichkeit hierzulande die Debatte um einen sogenannten „Sozialtourismus“, also die Einwanderung ins deutsche Sozialsystem, laut. Gerade Sinti:zze und Rom:nja müssen sich bis heute diesem Generalverdacht stellen.
Aufgrund der Einstufung ihrer Herkunftsstaaten wie etwa des Kosovo oder des heutigen Nordmazedoniens als „sicher“ haben sie weder Anspruch auf Asyl noch ein Bleiberecht und damit keine soziale Unterstützung, wie eine Krankenversicherung.
Noch immer werden Sinti:zze und Rom:nja stark mit dem Betteln auf der Straße in Verbindung gebracht. Wie sehen Sie das?
Ich selbst war noch in Berlin, als Menschen aus den EU-Ländern Rumänien und Bulgarien dann endlich kommen durften. Und da waren sehr viele Frauen mit ihren Kindern, die gebettelt haben. Als Feministin habe ich immer gedacht, das wird von Männern organisiert. Da war ich sehr zwiegespalten.
Aber als ich die Dokumentation Bettler in der Walachei gesehen habe, da gab es für mich einen Lerneffekt. Die Journalistin hatte eine junge Romni gefunden und wurde in deren Dorf nach Rumänien eingeladen. Da konnte ich erstmals so richtig nachvollziehen, was die Menschen dazu bringt. Wenn man sich anschaut, wo sie zum Teil herkommen – dort sind die Lebensbedingungen schlicht menschenunwürdig. Dort gibt es ganz viel Armut. Und dort gibt es auch viele Analphabeten. Das können wir uns kaum vorstellen.
Und wer bin ich eigentlich in diesem privilegierten Land, dass ich meine, ich könnte darüber urteilen. Sie haben hier einfach eine Chance, so viel Geld zu erbetteln, dass sie in diesem armen Dorf ein Stück weit ihre Familie ernähren können.
Keine Landesstelle für Antidiskriminierung
2022 wurden deutschlandweit 145 antiziganistisch motivierte Straftaten erfasst – ein Anstieg um 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (109). In MV erfasste der Kriminalpolizeiliche Meldedienst in den letzten fünf Jahren insgesamt sieben Straftaten, die als „antiziganistisch“ eingestuft wurden. Dabei handelte es sich um sechs Volksverhetzungen und eine Beleidigung.
MV ist aktuell das einzige Bundesland ohne landesweite Antidiskriminierungsstelle. Somit auch keine, die sich um Antiziganismus kümmert. Allerdings existieren vier nichtstaatliche. Das Innenministerium hält sich mit einer Erklärung zurück und verweist zur Begründung lediglich auf die niedrige Zahl an Vorfällen. Das Sozialministerium wiederum antwortete auf die Frage, warum es keine staatliche Meldestelle gebe, dass Antiziganismus ein wichtiges Thema sei und unter den Aufgabenbereich der Landesintegrationsbeauftragten Jana Michael falle. Das Ministerium fördere zudem Projekte zum Thema.
Eine eigene Fachstelle sei im Aufbau, erzählt Jaiser. Dafür habe sich die Integrationsbeauftragte starkgemacht. Angekoppelt soll sie künftig an die RAA sein. Aber bis es so weit ist, werde wohl noch etwas Zeit und Planung benötigt. Eine Broschüre zum Thema gibt es aber schon mal.
Es gibt derzeit keine landesweite staatliche Anlaufstelle. Wenden sich viele Betroffene an Sie?
Betroffene weniger, aber Initiativen und Vereine, die zum Beispiel mit den Gemeinschaftsunterkünften zu tun haben. Wir versuchen ein Netzwerk aufzubauen, mit dem Flüchtlingsrat, der Landesintegrationsbeauftragten und einzelnen, die offen sind, wie die Forscherinnen an der Hochschule Neubrandenburg, die dort einen Schwerpunkt etablieren konnten. Es fehlt von staatlicher Seite aber ein Aktionsplan für Sinti:zze und Romn:ja. Den gibt es selbst in Thüringen, wo auch sehr wenige von ihnen leben. In MV gibt es leider auch keinen Landesverband, der für sie Lobbyarbeit macht.
Antiziganismus besonders in der Schule
Dass Antiziganismus nichts „von gestern“ ist, belegen zahlreiche aktuelle Beispiele. Die im März gegründete Meldestelle Mia erfasst systematisch Vorfälle gegen Sinti:zze und Rom:nja. Laut Mitarbeiterin Yücel Meheroğlu habe es die in MV insbesondere seit der Ankunft von ukrainischen Geflüchteten gegeben. Dabei sei Antiziganismus in allen gesellschaftlichen Bereichen vertreten – auch in den Geflüchtetenunterkünften, der Verwaltung sowie im sozialarbeiterischen und ehrenamtlichen Helfer:innenkreis. Insbesondere aber in der Schule.
So wurden Sinti:zze- und Rom:nja-Kinder statt in einer Schule gemeinsam mit anderen Kindern separat in einer Sammelunterkunft unterrichtet. Die Behörden rechtfertigten die Trennung mit der Begründung, dass die Kinder nicht alphabetisiert seien.
Antiziganismus zeige sich aber auch direkt bei Lehrer:innen und Schüler:innen, vor allem durch Mobbing und beleidigende Beschimpfungen. Viele von ihnen nehmen aber die Diskriminierung kaum wahr. Durch das fehlende Bewusstsein verbreite sie sich jedoch nur weiter. Und: Antiziganismus steht in so gut wie keinem Lehrplan.
„Es gibt auch Fälle, wo Eltern von Mehrheitsukrainerinnen sich gegen die gemeinsame Beschulung ihrer Kinder mit Roma beschweren“, berichtet Meheroğlu. Das spiele vor allem der AfD und anderen rechtsgesinnten Gruppierungen in die Karten, die aktiv Stimmung gegen Geflüchtete machen. Alle von Mia erfassten Vorfälle, darunter auch die aus MV, wurden erstmals auf dem Jahreskongress am 19. September präsentiert.
Vor einem Jahr zum Beispiel erregte die Grundschule Nord am Reitbahnsee in Neubrandenburg Aufsehen, als sie ukrainische Kinder mit Rom:nja- und Sinti:zze-Hintergrund in abgesonderte Gruppen einteilte. Diese lernten nicht im Schulgebäude, sondern drei Kilometer abseits in einem Wohnblock. Begründet wurde der Schritt mit einer Verkürzung des Schulwegs. Warum alle anderen ukrainischen Kinder ohne diesen Herkunftshintergrund allerdings weiterhin in der Schule unterrichtet wurden, blieb offen. Kein Einzelfall: Auch in Ueckermünde, Bastorf, Wismar und Stralsund gab es ähnliche Vorfälle.
Wie reagieren Sie und die RAA dann?
Nach den Vorfällen in Neubrandenburg gab es viele Gespräche. Ein runder Tisch zur Schulpflicht dieser Kinder hat ebenfalls stattgefunden. An uns wurden unter anderem Aussagen herangetragen, dass die Kinder gar nicht in die Schulen gebracht werden sollten. Sie würden eh nicht still sitzen und umherwandern, was sie ja immer schon getan hätten. Weil es ja eh herumziehende Nomaden seien. Da gab es ganz viele Sachen und Aussagen, wo man sich fragt: Das kann doch eigentlich nicht wahr sein.
Dennoch ist die Schulpflicht wirklich ein riesiges Problem, weil Sinti:zze und Romn:ja leider, was Bildungsinstitutionen angeht, oft zurückhaltend sind. Es wird daran gearbeitet – etwa mit der neuen Fachstelle –, Angebote zu finden, wie man die Kommunikation miteinander voranbringen kann.
Verständnis durch Biografien
Um endlich den immerwährenden Kreis der Vorurteile auch in MV zu durchbrechen, wollen die RAA und die Landeszentrale für politische Bildung Aufklärungsprojekte vor allem für Jugendliche etablieren. Da es so gut wie keine Gedenkstätten im Land gibt, mussten andere Zugänge gefunden werden. Und so informiert das Projekt zeitlupe der RAA Jugendliche und Erwachsene über lokale Biografien.
In Zusammenarbeit mit der Künstlerin Anna-Friederike Pöschel hat die Jugendkunstschule Neubrandenburg eine Graphic Novel entwickelt, die die Geschichte zweier Sinti-Kinder aus Satow erzählt: Alexander und Franz Rose wuchsen dort auf, bis sie zusammen mit anderen Kindern zwischen 5 und 13 Jahren im März 1943 nach Auschwitz deportiert wurden.
Die Geschichte der Kinder ist auch im Buch Sinti und Roma in Mecklenburg und Vorpommern der Historikerin Natalja Jeske zu finden. Es entstand auf Grundlage der ersten biografischen Aufarbeitung des Schweriner Historikers Bernd Kasten.
Das Buch umfasst nur wenige der 500 bekannten Namen aus MV und fokussiert sich kaum auf Statistiken. Warum ist es dennoch wichtig?
Diese Publikation ist die erste im historischen Vorpommern und Mecklenburg. Und ich glaube, dass man zum ersten Mal Gesichter sieht. Auch wenn es leider viele polizeiliche Fotos sind, zu denen sie damals gezwungen wurden.
Es ist immer wieder unser Gefühl: Die Leute wissen einfach nichts darüber und wir müssen regional die Herzen erwärmen. Man weiß von einem „Zigeunerlager“ in Auschwitz. Aber das ist so weit weg. Aber wenn man erzählt, dass eine Neubrandenburgerin dort überlebte, jedoch ihre halbe Familie verlor und danach nicht in ihrer Heimatstadt bleiben konnte, weil sie nachts die Stimme ihrer Mutter hörte und das nicht aushielt, ist das was anderes. Sowas müssen die Leute wissen.
So bekommen die Zahlen auch Gesichter?
Ja. Und wir haben so auch viele Kontakte, die sprechen wollen. Die Enkelin eines Sinto aus MV hat bei der Buchpremiere erzählt, dass sie auf ihrer Arbeit alle lieben. Aber nur, weil niemand dort weiß, dass sie eine Sintizze ist. Und immer, wenn sie es mal vorher gesagt habe, sei sie nicht eingestellt worden – nicht mal für einen Klojob.
Es gibt auch einige Betroffene, die die Forschungen nicht gutheißen. Die sagen, „es sind unsere Toten“. Die gesamte Kultur ist hier manchmal noch verschlossen. Das muss man wissen und auch sensibel sein. Da gibt es sehr großes Misstrauen. Diesen Kritikern haben wir aber auch gesagt, dass die Mehrheitsgesellschaft etwas erfahren muss.
Für ihre Aufarbeitung, Bildungsangebote und das neue Buch hat die RAA im Sommer den Landesintegrationspreis erhalten.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 23 von KATAPULT MV.
Transparenzhinweis: In der ersten Veröffentlichung des Atrikels haben wir die Überschrift „Auf ewig "Zigeuner"?“ gewählt, um direkt auf die Problematik der noch heute viel genutzten Wortwahl aufmerksam zu machen. Für die Online-Ausspielung haben wir uns für eine andere Überschrift entschieden, um die diskriminierende Fremdbezeichnung nicht zu reproduzieren.
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Autor:innen
Redakteurin bei KATAPULT MV.
Redaktionsleitung bei KATAPULT MV.
Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach Meck-Vorp.