Am 6. November 2023 beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz der Länder zahlreiche Maßnahmen zur Begrenzung der Migration. Teil dieser Maßnahmen: die bundesweite Einführung einer Bezahlkarte für Asylsuchende. Also für Menschen, über deren Asylgesuch noch nicht entschieden wurde. Das entsprechende Verfahren dauert durchschnittlich 21 Monate. 14 Bundesländer entschieden sich damals, nach einem einheitlichen System für die Bezahlkarte zu suchen. Mecklenburg-Vorpommern und Bayern entschieden sich dagegen. Dort wollte man auf eigene Faust an einer besonders schnellen Umsetzung arbeiten. In Bayern wird die Karte bereits seit Mai schrittweise an Asylsuchende ausgegeben.
Warum braucht es eine Bezahlkarte?
Bisher bekommen Asylsuchende in Erstaufnahmeeinrichtungen Verpflegung, Unterbringung und Sachleistungen wie Hygieneartikel als Existenzsicherung. Da es rechtlich nicht möglich ist, Sozialleistungen nur in Form von Sachleistungen auszugeben, gibt es außerdem ein Taschengeld. Dessen Höhe unterscheidet sich je nach Lebenssituation, Alter und Familienstand und beträgt bei einer erwachsenen, alleinstehenden Person 148 Euro im Monat.
Dieses Taschengeld bekommen Asylsuchende monatlich bar ausgezahlt. An diesem Punkt kommt die Bezahlkarte ins Spiel. Sie soll den Gang zum Amt ersparen und die Verwaltung entlasten, indem das Geld jeden Monat auf die Karte übertragen wird. Wenn die Karte wie eine normale Bankkarte funktioniert, würde das mehr Freiheit für Geflüchtete bedeuten, so Ulrike Seemann-Katz vom Flüchtlingsrat MV. Denn Geflüchtete ohne Pass oder nur mit einer Aufenthaltserlaubnis können gar nicht oder nur in Ausnahmefällen in Deutschland ein Konto eröffnen. Seemann-Katz spricht sich deshalb für die Einführung einer solchen Karte aus.
Umsetzung mangelhaft
So eine diskriminierungsfreie Karte, die die Verwaltung entlastet, haben sich die Regierungsparteien SPD und Linke in MV zum Ziel gesetzt. Dazu schrieb das Innenministerium im Januar eine „auf die landeseigenen Bedürfnisse zugeschnittene Variante“ der Bezahlkarte aus. Diese Ausschreibung sorgte allerdings für Kritik. Denn mit einer normalen Bankkarte haben die dort geforderten Eigenschaften nichts zu tun.
Die Möglichkeiten zur Bargeldabhebung sollen begrenzt, bestimmte Händlergruppen ausgeschlossen und Überweisungen im In- und Ausland verhindert werden. „Meiner Meinung nach geht es nicht, dass man das Leistungsrecht für Sanktionen nutzt“, kritisiert Seemann-Katz. Mit diesen Gedanken steht sie nicht allein. Deutschlandweit üben Flüchtlingsräte Kritik an der Umsetzung der Bezahlkarte. In MV veröffentlichte der Dachverband der migrantischen Vereine Migranet-MV eine Stellungnahme. Darin heißt es: „[Eine] solche Maßnahme [würde] nicht nur die grundlegenden Rechte und die Würde der betroffenen Personen verletzen, sondern auch die soziale Integration und das Zusammenleben in unserer Gesellschaft beeinträchtigen.“
Kritisiert wird unter anderem, dass Menschen mit geringen finanziellen Mitteln, wie Asylsuchende, nicht nur in traditionellen Geschäften einkaufen. So wird Kinderspielzeug auf Flohmärkten erstanden, oder Kleidung bei Gebrauchtwarenbörsen im Internet. Ohne genügend Bargeld oder eine Möglichkeit zum Onlinebanking geht das nicht.
Das sehen auch Gerichte so. In Hamburg gibt es die Bezahlkarte seit Februar. Auch dort ist die Bargeldabhebung reguliert. Das Hamburger Sozialgericht entschied, dass eine schwangere Frau mehr Bargeld bekommen sollte, als sie mit der Bezahlkarte abheben konnte. Die Begrenzung durch das Amt gefährde das Existenzminimum, welches ihr gesetzlich unabhängig von ihrer Herkunft zustehe.
Soziale Parteien treffen unsoziale Entscheidungen
Noch ist die Bezahlkarte in MV nicht flächendeckend eingeführt. Laut hiesigem Innenministerium hielt man sich bei der Ausschreibung an deutschlandweit abgestimmte Kriterien. Die Karte solle insofern diskriminierungsfrei sein, dass sie ein neutrales Design erhält. Beispielsweise soll sie kein Bild der Person zeigen, der die Karte gehört. Die innenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Landtag, Martina Tegtmeier, begründet die Entscheidung für die Einführung mit den Belangen der Städte und Gemeinden: „Wir setzen [damit] vor allem eine Forderung vieler Kommunen im Land um“, teilt sie auf Nachfrage mit.
Steffi Pulz-Debler, Landtagsabgeordnete der Linken, sieht die Bundesregierung in der Verantwortung: „Die Einführung und Umsetzung der Bezahlkarte ist eng an Entscheidungen der Konferenz der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten sowie der Bundesebene gekoppelt, auf die wir (…) kaum Einfluss haben.“ Sie fordert stattdessen eine diskriminierungsfreie Bezahlkarte, wie sie der Flüchtlingsrat MV vorschlägt.
In einem offenen Brief vom 23. September fordern SPD-Mitglieder aus ganz Deutschland eine humanere Asylpolitik, die keine menschenfeindliche Narrative rechter Parteien übernimmt. Unterzeichnet hat ihn auch Martina Tegtmeier. Sie sieht in dieser Forderung allerdings keinen Widerspruch zur Einführung der Bezahlkarte, die Flüchtlingsräte als diskriminierend empfinden. Denn die Karte sei so explizit im Brief nicht erwähnt. Laut Innenministerium diene die Karte auch nicht dazu, Asylgesuche zu verhindern.
Kritik von der Opposition
Die Opposition zeigt sich unzufrieden mit den Plänen. Constanze Oehlrich, migrationspolitische Sprecherin der Landtagsfraktion der Grünen, sieht in der geplanten Bezahlkarte ein „repressives, integrationsfeindliches Instrument“. Geflüchteten den Zugang zu Bargeld zu verwehren, sei ihrer Meinung nach nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.
Die Kritik der CDU an der Bezahlkarte geht dagegen in eine andere Richtung. Laut ihrem Fraktionsvorsitzenden Daniel Peters würde eine zügige Einführung dabei helfen, Migration zu begrenzen. Durch die Verzögerungen bei der Einführung mache sich MV zur „Bargeldinsel“ innerhalb Deutschlands. Dem widerspricht Ulrike Seemann-Katz: Dadurch kämen nicht automatisch mehr Menschen nach MV. Denn Asylsuchende werden nach einem festen Schlüssel auf die Bundesländer verteilt und können dann nicht einfach umziehen.
CDU-Fraktionschef zweifelt an der Wissenschaft
In der Debatte um die Bezahlkarte fällt Peters immer wieder mit kontroversen Aussagen auf. Am 26. Januar beispielsweise behauptete er in einer Pressemitteilung: „Ein Grund dafür, dass viele Flüchtlinge Deutschland als Fluchtpunkt wählen, ist finanzieller Natur.“ Damit bezieht er sich auf eine Idee aus den 60er-Jahren: die Theorie der sogenannten Push- und Pull-Faktoren. Danach gebe es Umstände, die Menschen aus ihren Herkunftsländern „drücken“, und Umstände, die sie in andere Länder „ziehen“. Der Ansatz gilt allerdings als überholt.
Bei einer Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales bestätigte die Mehrheit der geladenen Wissenschaftler:innen, dass die Höhe der Sozialleistungen im Zielland nicht entscheidend für eine Migrationsbewegung sei. Auch die Annahme, dass die jeweiligen Sozialleistungen eine Rolle bei der Sekundärmigration – der Migration innerhalb Europas – spielen, ist Studien zufolge umstritten. Diesen Wissenschaftler:innen glaubt Daniel Peters offenbar nicht. Um seine Behauptungen zu stützen, verweist sein Sprecher auf Nachfrage auf Landräte, die Bundespolizei und die Mitarbeitenden der Sozialämter und Jobcenter. Zusätzlich spricht Peters den Wissenschaftler:innen ihre Objektivität ab, indem er in einer Pressemitteilung mutmaßt: „Studien, die das Gegenteil belegen sollen, werden oft von Leuten in Auftrag gegeben, die den deutschen Sozialstaat für ein Menschenrecht halten und Abschiebungen für Faschismus.“
Nach dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes indes muss für jeden Menschen in Deutschland ein würdiges Existenzminimum gesichert sein. Bei bestimmten Sozialleistungen handelt es sich demzufolge um ein Grundrecht.
Auch die Kritik des Flüchtlingsrates empfindet der CDU-Fraktionschef als vernachlässigbar. Dessen Argumente seien „an den Haaren herbeigezogen“. Für Ulrike Seemann-Katz zeigen solche Aussagen, dass es Peters an Respekt fehle. „Die Art und Weise, wie wir aktuell über Geflüchtete sprechen, verursacht eine ganz miese Stimmung in der Gesellschaft“, kritisiert sie. Die Flüchtlingsratsvorsitzende hoffe für die Zukunft, dass sich ganz generell etwas an der Debatte über Migrationspolitik ändere – hin zu mehr Wertschätzung.
Kommentar: Soziale Worte, nichts dahinter
Die Bezahlkarte in ihrer geplanten Form ist, meiner Meinung nach, reine Schikane von Asylsuchenden. Nicht umsonst wurde sie in einem Maßnahmenpaket verabschiedet, das die Begrenzung von Migration zum Ziel hat. Doch dieses Paket wurde nicht etwa von der AfD geschnürt, sondern von einer Partei, die „sozial“ im Namen trägt – nämlich der SPD. Getragen wird dieses diskriminierende Päckchen von den Landesregierungen und dem Bund. Also von SPD-Mitgliedern auf mehreren Ebenen.
Jetzt fordern SPD-Mitglieder deutschlandweit in einem offenen Brief eine humanere Migrationspolitik der Partei. Unter anderem haben vier SPD-Landtagsabgeordnete aus MV den Brief unterschrieben: Christian Winter, Michel-Friedrich Schiefler, Martina Tegtmeier und Anna-Konstanze Schröder. Die SPD ist hierzulande Regierungspartei und stellt die Ministerpräsidentin. Die Mitglieder der Landtagsfraktion haben die Entscheidung für die Bezahlkarte also mitgetragen. Soll der Brief eine Erinnerung an sie selbst und ihre Fraktion sein, in Zukunft keine Asylsuchenden mehr gesetzlich zu schikanieren? Wobei Einsicht ja der erste Weg zur Besserung wäre.
Daniel Peters, der sonst hauptsächlich durch Populismus auffällt und Wissenschaftler:innen nur glaubt, wenn sie seine Meinung unterstützen, hat erstaunlich wenig an der Bezahlkarte auszusetzen. Es geht ihm nur nicht schnell genug. Wenn ein Politiker wie Peters meinen Plänen in der Migrationspolitik im Groben zustimmen würde, würde ich mich in Grund und Boden schämen. Denn sozial ist an der Karte gar nichts. Rechte Politik bleibt rechte Politik, egal wer sie macht.
Quellen
- Die Bundesregierung (Hg.): Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 6. November 2023 in Berlin, auf: bundesregierung.de (6.11.2023).↩
- Tagesschau (Hg.): Neue Probleme für die Bezahlkarte, auf: tagesschau.de (16.7.2024).↩
- E-Mail von Hannes Henffler, Pressesprecher der SPD-Landtagsfraktion, vom 30.9.2024.↩
- Wilke, Felicitas: „An der Kasse bin ich jedes Mal gestresst“, auf: zeit.de (9.7.2024).↩
- Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (Hg.): Das Sachleistungsprinzip im Asylbewerberleistungsgesetz, auf: bundestag.de (4.9.2015).↩
- NDR (Hg.): Bezahlkarte für Asylbewerber in MV: Ausschreibung soll im Februar starten, auf: ndr.de (26.1.2024).↩
- Ministerium für Inneres, Bau und Digitalisierung (Hg.): Bezahlkarte für Asylbewerber: MV bringt Ausschreibung auf den Weg, auf: regierung-mv.de (25.1.2024).↩
- Landtag MV (Hg.): Kleine Anfrage des Abgeordneten René Domke, Fraktion der FDP: Bezahlkarte und Antwort der Landesregierung, auf: landtag-mv.de (25.10.2023).↩
- Pro Asyl (Hg.): Debatte über Arbeitspflicht, Abschiebungen und Bezahlkarten für Flüchtlinge stärkt rechte Diskurse, auf: proasyl.de (12.10.2023).↩
- Migranet-MV (Hg.): Resolution gegen die Einführung einer Bezahlkarte für Geflüchtete (24.2.2024).↩
- Gesellschaft für Freiheitsrechte (Hg.): FAQ zur Bezahlkarte, auf: freiheitsrechte.org (18.9.2024).↩
- NDR (Hg.): Mehr als 1.100 Bezahlkarten an Asylbewerber in Hamburg ausgegeben, auf: ndr.de (6.6.2024).↩
- Frerichs, Lena: Mit der Bezahlkarte unter das Existenzminimum, auf: freiheitsrechte.de.↩
- E-Mail der Pressestelle des Innenministeriums MV vom 26.9.2024.↩
- E-Mail von Claudia Schreyer, Pressesprecherin der Linken-Fraktion, vom 25.9.2024.↩
- Initiative „Eintreten für Würde“ (Hg.): Eintreten für Würde: Menschenrechte wahren, Asylrecht verteidigen, sozialdemokratische Werte leben!, auf: eintreten-fuer-wuerde.de.↩
- Telefonat mit Hannes Henffler am 30.9.2024.↩
- Oehlrich, Constanze: „Landesregierung darf keine Einfallstore schaffen für grundrechtswidrige Beschränkungen“, auf: gruene-fraktion-mv.de (22.2.2024).↩
- Peters, Daniel: Innenminister Pegel macht Mecklenburg-Vorpommern zur Bargeldinsel für Flüchtlinge – Schwesig schaut zu, auf: cdu-fraktion.de (1.7.2024).↩
- Peters, Daniel: Aller Vernunft zum Trotz – Linkskoalition lehnt die Bezahlkarte auf Asylbewerber weiterhin ab, auf: cdu-fraktion.de (26.1.2024).↩
- Siggelkow, Pascal: „Pull-Faktoren werden deutlich überschätzt“, auf: tagesschau.de (12.10.2022).↩
- Deutscher Bundestag (Hg.): Experten kritisieren These von Pull-Faktoren, auf: bundestag.de (8.4.2024).↩
- Sachverständigenrat für Integration und Migration (Hg.): Jahresgutachten 2024 – Kontinuität oder Paradigmenwechsel? Die Integrations- und Migrationspolitik der letzten Jahre, S. 72, auf: svr-migration.de (Februar 2024).↩
- E-Mail von Markus Gonschorrek, Pressesprecher der CDU-Fraktion, vom 25.9.2024.↩