Medienforschung aus MV

Der NDR versucht, zu lernen

Eine Studie des Rostocker Instituts für Medienforschung zeigt, wie es um die Geschlechtergerechtigkeit und gesellschaftliche Vielfalt im deutschen Film und Fernsehen bestellt ist – mit positiven Folgen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Das deutsche Fernsehen hat ein Defizit: Es spiegelt noch immer nicht die Gesellschaft wider. Auf eine Frau kommen dort nach wie vor rund zwei Männer. Behinderung, sexuelle Orientierung, Migrationshintergrund und Zuschreibungen der ethnischen Herkunft seien nicht so vielfältig sichtbar, wie in der Bevölkerung verteilt. Trotz gewisser Fortschritte seit 2016 bestehe noch großer Handlungsbedarf, resümiert eine Studie des Instituts für Medienforschung der Universität Rostock.

Erstmals lieferte das Institut um Direktorin und Professorin Elizabeth Prommer im Jahr 2017, zusammen mit der MaLisa-Stiftung von Maria und Elisabeth Furtwängler und ihren Partnerinstitutionen, mit der Studie Audiovisuelle Diversität? Geschlechterdarstellungen in Film und Fernsehen in Deutschland eine umfassende Bestandsaufnahme der Sichtbarkeit von Frauen und Männern im deutschen Film und Fernsehen. Die Folgeuntersuchung von 2021 vergleicht die Fernsehinhalte in den Sparten Information, Fiktion, Non-fiktionale Unterhaltung und Kinderfernsehen von 2016 mit denen von 2020 und schließt neu analysierte Dimensionen von Vielfalt ein, wie Behinderung, sexuelle Orientierung, Migrationshintergrund und Zuschreibungen der ethnischen Herkunft. Das Ergebnis: Sie sind nicht so vielfältig sichtbar, wie in der Bevölkerung verteilt. Nichtbinäre Menschen mit anderen Geschlechtsidentitäten konnten in der Untersuchung so gut wie gar nicht identifiziert werden.

Wenn Männer die Welt erklären

Die Programme von 17 TV-Vollprogrammsendern sowie von vier Kinderfernsehsendern wurden für das Jahr 2020 mittels einer repräsentativen Stichprobe ausgewertet. Dafür untersuchten die Medienwissenschaftler:innen 25.000 Hauptfiguren aus fast 3.000 Fernsehsendungen sowie 3.000 Protagonist:innen aus rund 3.800 Kinder-TV-Produktionen.

Das Ergebnis: Frauen kamen deutlich seltener vor als Männer, traten meist in klischeehaften Rollen und Kontexten auf, kamen nur selten als Expertinnen zu Wort und verschwanden nach dem 30. Lebensjahr schrittweise vom Bildschirm. Ab einem Alter von 60 Jahren kommen sogar vier Männer auf eine Frau. Insgesamt liege die Geschlechterverteilung über alle TV-Vollprogramme und Genres hinweg bei knapp zwei Dritteln Männern zu gut einem Drittel Frauen. Diese werden neben der allgemeinen Unterrepräsentanz zudem seltener in beruflichen Führungspositionen dargestellt und häufiger sexualisiert. In der Medienwelt erklären hauptsächlich Männer: In den Informationsformaten sind 26 Prozent der Expert:innen weiblich und 74 Prozent männlich. Das Geschlechterverhältnis liegt damit bei 1:3.

In einer weiteren Studie mit dem Titel Wer kommt zu Wort? untersuchten die Rostocker Forscher:innen die Geschlechterverteilung in der Corona-Berichterstattung: Lediglich 22 Prozent der Corona-Expert:innen im TV waren demnach weiblich, in der Onlineberichterstattung wurden Frauen nur zu rund sieben Prozent als Expert:innen erwähnt. Auch als Mediziner:innen kamen vor allem Männer zu Wort, obwohl die Hälfte aller Ärzt:innen in Deutschland weiblich ist.

Die Realität ist vielfältiger

In den fiktionalen TV-Produktionen sind nur rund zwei Prozent der Protagonist:innen als homosexuell oder bisexuell lesbar, in der Realität ordnen sich aber etwa elf Prozent der Deutschen als nichtheterosexuell ein. Einen Migrationshintergrund stellten die Forscher:innen bei elf Prozent der Hauptfiguren aus den TV-Programmen fest, den in Deutschland jedoch etwa 26 Prozent der Menschen haben. Schwarze Menschen und People of Colour stellen schätzungsweise zehn Prozent der Bevölkerung. Als Protagonist:innen in Film und Fernsehen machen sie jedoch nur einen Anteil von rund fünf Prozent aus. Ebenso gravierend ist die Repräsentation von Menschen mit Behinderung: Haben in Deutschland etwa sechs Prozent eine sichtbare schwere Behinderung, traf dies auf nur 0,4 Prozent der Hauptakteur:innen in den untersuchten Programmen zu.

Resolution der Medienfrauen nach britischem Vorbild

Die Medienfrauen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verabschiedeten infolge der Rostocker Studie auf ihrem Herbsttreffen eine Resolution mit dem Titel „Es reicht uns: weiterhin zu wenig Frauen in Film und Fernsehen!“. So ist beispielsweise der Anteil der Hauptakteurinnen im „Ersten“ 2020 sogar von 32 Prozent auf 30 Prozent gesunken. Es geht den Initiatorinnen dabei aber nicht nur um Frauen, sondern vor allem „um den fehlenden Spiegel der gesellschaftlichen Realität im Programm“. Sie fordern von den Intendant:innen der öffentlich-rechtlichen Sender konkrete Maßnahmen, wie ein gezieltes Casting von Frauen für TV-Shows und beispielsweise die 50:50-Challenge der BBC, einer Selbstverpflichtung der Redaktionen mit dem Ziel, den Anteil der Moderatorinnen, Expertinnen, Protagonistinnen und Autorinnen auf 50 Prozent zu erhöhen. Mit Erfolg: Mittlerweile sind die Sender SWR, BR, DW, RBB und MDR eine Patenschaft mit der BBC eingegangen, um die Sichtbarkeit von Frauen in ihrem Programm zu erhöhen.

Am dritten Dezember befasste sich auch der NDR-Rundfunkrat mit dem Thema „Diversität im Programm“ und tauschte sich dazu mit der Direktorin des Rostocker Instituts für Medienforschung, Professorin Elizabeth Prommer, aus. Ein Jahr lang sollen elf Pilotteams des NDR an der 50:50-Challenge der BBC zur Erhöhung des Frauenanteils in Fernseh-, Hörfunk- und Onlineformaten teilnehmen. Dabei wird der Anteil von Frauen und Männern auf allen Ausspielwegen gezählt und bewertet. Der Rundfunkrat des NDR soll sich dann im kommenden November auf Vorschlag des Intendanten Joachim Knuth wieder mit dem Thema Diversität im Programm befassen.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 3 von KATAPULT MV.

Quellen

  1. Prommer, Elizabeth; Stüwe, Julia; Wegner, Juliane (2021): Sichtbarkeit und Vielfalt. Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität. Universität Rostock, auf: imf.uni-rostock.de.
  2. Prommer, Elizabeth; Linke, Christine (2017): Sichtbarkeit und Vielfalt. Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität. Universität Rostock, auf: imf.uni-rostock.de.
  3. Prommer, Elizabeth; Stüwe, Julia (2021): Wer wird gefragt? Geschlechterverteilung in der Corona-Berichterstattung, Universität Rostock, auf: imf.uni-rostock.de.
  4. SWR (Hg.): Resolution der Medienfrauen: „Es reicht uns: weiterhin zu wenig Frauen in Film und Fernsehen!“, auf: swr.de (12.11.2021).

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