Sexualisierte Belästigung auf der Insel Usedom
Der sexualisierende Photoshopper
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Zinnowitz, 2020. Zwei Männer machen Foto- und Videoaufnahmen von Jugendlichen. Am Strand, beim Grillen – unter der Dusche. Sie sammeln insgesamt über 1.500 Fotos. Inhalt der Aufnahmen: Minderjährige eines Ferienlagers, bevorzugt Mädchen.
Es gibt zwei Fotos, die in diesem Fall besonders heikel sind. Auf einem ist ein Mädchen von hinten zu sehen. Es kniet auf dem Boden und gräbt mit den Händen ein Loch in den Strandsand. Der Kameramann steht dahinter und hält den Fotoapparat auf die Hinterpartie.
Dieses Foto werden später alle kennen, es wird in die Geschichte dieses Ferienlagers eingehen: Es wird von einem der Pädagogen auf eine CD-Hülle gedruckt. Der Hintern des Mädchens ist in der Mitte des Bildes zu sehen. Drumherum sind vier Köpfe von anderen Jugendlichen des Ferienlagers mit einem Bildbearbeitungsprogramm drapiert. Sie strecken die Zunge aus.
Die Jungen lecken am Gesäß des Mädchens, so offensichtlich die Intention des Pädagogen. Und es gibt noch einen fünften männlichen Kopf, der auf das Bild gephotoshopt wird – der des Pädagogen selbst. Er ist über 50 Jahre alt, Leiter des Ferienlagers, und zeigt nun mit dem Zeigefinger auf den Po einer 15-Jährigen.
Auch das zweite Foto wird später allen bekannt sein. Es ist ein anderes Bild, aber das gleiche Motiv. Wieder wird ein Mädchen von hinten fotografiert. Wieder bückt sich die Person. Diesmal gibt es keine Fotomontage, diesmal hat der Ersteller eine andere Idee: Auch CDs können bedruckt werden. Und sie haben in der Mitte ein Loch. Er entscheidet sich, das Mädchen genau in die Mitte der CD zu drucken. Das Loch der CD ist nun auch die Mitte des Pos der abgebildeten Person.
Unter dem CD-Loch wird ein Warndreieck platziert. Darin steht geschrieben: „Bitte sorgsam mit den Fotos umgehen!“, untendrunter der Slogan des Ferienlagers: „Vor dir eine Tür!“ Dieser christliche Titel bekommt im Zusammenspiel mit dem Rest des Covers eine sexuelle Konnotation. Er steht auf CD-Cover und auf CD-Hülle. Darüber: „Konfi-Freizeit Zinnowitz 2020“.
Was ist mit dem Rest der 1.500 Fotos? Manche sind harmlos. Bei anderen merkt man dem Fotografen eine sexualisierte Motivation an. Bei manchen Mädchen wird nicht nur ein Foto gemacht. Manche bekommen umfassendere Bilderserien, manche sind wenig bekleidet. Manche, so scheint es, werden genau dann fotografiert, wenn Brüste und/oder Hintern besonders gut zu sehen sind. Die CD liegt KATAPULT MV vor.
Die CD beinhaltet auch Videomaterial. Die Ersteller geben sich hier sogar als Produzenten zu erkennen: Sie filmen erst in der Dusche und zeigen sich später selbst im Spiegel. Es wird über „Schwanzgrößen“ gesprochen und ein Schweigegelübde ist zu hören: „Was in Schweden passiert, bleibt auch in Schweden.“ Die Jugendfreizeit wurde vor Corona in Schweden verbracht und wurde 2020 nach Usedom verlegt, weil die damaligen Pandemieauflagen keine Reisen ins Ausland erlaubten.
Wer hat die CD veröffentlicht? Die Pädagogen selbst: Sie wurde, samt Cover, an alle etwa 20 Teilnehmenden des Ferienlagers übergeben. Überraschenderweise gingen die beiden Verantwortlichen das Risiko ein, dass der Fall öffentlich wird, dass die CD entdeckt und eventuell den Eltern der Jugendlichen gezeigt wird. Die Vergabe an alle Teilnehmenden hat aber auch noch eine zweite Auswirkung. Sie schafft schon innerhalb der Gruppe eine halböffentliche Stigmatisierung der Person, die auf dem Cover abgebildet ist.
Die Universität Halle-Wittenberg definiert sexualisierte Belästigung so:
„Sexualisierte Belästigung ist eine spezielle Form der Belästigung und eine sexualisierte Form von Diskriminierung. Sie umfasst jedes einseitige und unerwünschte Verhalten mit sexuellem Bezug, das die betroffene Person in ihrer Würde verletzt. Durch sexualisierte Belästigung kann ein Umfeld geschaffen werden, das von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnet ist. Betroffene Personen empfinden das Verhalten als respektlos und grenzüberschreitend.“
Eine sexualisierte Belästigung scheint in diesem Fall schwer abzustreiten zu sein. Auch Dieter Schulz, der leitende Pressesprecher der Nordkirche, bestätigte KATAPULT MV den Fall:
„Hinweise auf die von Ihnen benannten Datensätze wurden am 26. November 2020 bekannt. Cover, Art und Intention einer Vielzahl der Fotos sowie nachträgliche Bearbeitungen einiger der Fotos widersprechen in eklatanter Weise den Werten der Nordkirche und werden von dieser in keinerlei Weise toleriert. Sie sind absolut inakzeptabel. […]
Der Mitarbeitende, dem die Urheberschaft an den von Ihnen benannten Datensätzen zugeordnet werden konnte, wurde von allen ehrenamtlichen Tätigkeiten im Zusammenhang mit Freizeitaktivitäten suspendiert. Das Freizeitangebot, während dem die von Ihnen benannten Datensätze entstanden, wurde zunächst ausgesetzt, später in die Trägerschaft des zuständigen Kirchenkreises übernommen und somit der entsprechenden Fachaufsicht unterstellt.”
Wir haben auch die beiden Pädagogen zu dem Fall befragt. Bis Redaktionsschluss haben sie nicht geantwortet.
Unseren Recherchen zufolge wurden die ehrenamtlich organisierten Ferienlager tatsächlich pausiert. Beruflich hat sich die Lage für die beiden Ersteller der CD scheinbar nicht geändert. Sie sind noch in unterschiedlichen Gemeinden der Insel Usedom aktiv. Die innerkirchliche Behandlung des Falles erscheint halbherzig und nicht ausschließlich problemlösungsorientiert. Denn: Eine der beiden Personen arbeitet weiterhin als Pädagoge innerhalb der Kirche, so steht es jedenfalls auf deren Internetseite und so bestätigen uns das auch Kirchenmitglieder. Die zweite Person, die mutmaßlich Mitgestalter der bearbeiteten Fotos war, arbeitet bis heute noch mit Jugendlichen im Bereich des Sports.
Wie wurde mit den Betroffenen verfahren? Die Kirche schreibt uns dazu: „Der Beratungsstab, der in Bezug auf die von Ihnen benannten Datensätze tätig war, hat mit allen Jugendlichen, die involviert waren, Kontakt aufgenommen, sie einbezogen und beraten. Diese Fürsorge schloss auch deren Familien und Sorgeberechtigte ein.“
Die Masse der abgelichteten Personen lässt daran zweifeln, dass mit allen Beteiligten gesprochen wurde. Die Konfrontation der Jugendlichen stößt hier meistens auf die gleiche Ablehnung, den Fall überhaupt zu behandeln. Aus Scham überwiegt der Wunsch, das Ganze vergessen zu machen. Die interne Aufarbeitung ist jedoch wichtig. Der Fall muss so bearbeitet werden, dass weitere Fälle ausgeschlossen werden können.
KATAPULT MV hat Laura-Ann Schröder von der Kinder- und Jugendhilfe Zora zu diesem Fall interviewt. Sie geht davon aus, dass solch ein Vorfall Traumata auslösen kann.
KATAPULT MV: Welche Auswirkung kann das auf die Jugendlichen haben?
Laura-Ann Schröder: Die Frage ist nicht pauschal zu beantworten. Es kommt etwas darauf an, wie resilient die betroffene Person ist. Resilienz beschreibt die Anpassungsfähigkeit einer Person auf äußere Einflüsse und wie gut sie zum Beispiel mit Krisen umgehen kann. Es gibt Jugendliche, die eine solche Situation gut verarbeiten können. Oft ist so etwas aber mit deutlicher Scham, einhergehend mit Überforderung und Hilflosigkeit, verbunden – vor allem, wenn solche Bilder dann an die Öffentlichkeit geraten und man keine Kontrolle mehr darüber hat. Im schlimmsten Fall können Betroffene komplexe Folgestörungen entwickeln, darunter beispielsweise Depressionen, Angststörungen, Traumafolgestörungen oder Ähnliches.
Kann so ein Fall Traumata auslösen?
Ja, kann es. Vor allem das Ausgeliefertsein, die Schutzlosigkeit, das Gefühl der Hilflosigkeit, der Machtmissbrauch einer Vertrauensperson und der Kontrollverlust in einer solchen Situation können zu einem Trauma und Traumafolgestörungen führen. Das kann sich in Albträumen, Schreckhaftigkeit, Ängsten, Schlaflosigkeit, sozialem Rückzug oder Ähnlichem äußern. In schweren Fällen erleben die Betroffenen einen kompletten Vertrauensverlust in andere Menschen und können nur noch schwer Vertrauen in Beziehungen fassen.
Wie sollte mit den Betroffenen umgegangen werden?
Hier ist immer Vorsicht geboten und man sollte gut darauf schauen, was die betroffenen Personen brauchen. So sehr wir uns harte Strafen und Anzeigen wünschen, bedeutet dies für Opfer sexualisierter Gewalt immer auch die erlebte Scham vor anderen offenzulegen. Dies kann auch zu Flashbacks, einer Art innerem Wiedererleben, führen und die Entwicklung von Störungsbildern begünstigen. Ratsam ist es, dass sich die betroffenen Jugendlichen von Fachleuten beraten lassen. Für Betroffene braucht es meist einen sicheren Rahmen, manchmal auch in Begleitung von Bezugspersonen. Grundsätzlich sollte man Betroffene nicht dazu drängen, über die Situation reden oder Anzeige erstatten zu müssen, sondern sie das Tempo selbst bestimmen lassen und sie in ihren Äußerungen ernstnehmen. Das Herstellen von Sicherheit hat oft hohe Priorität – wie die genau aussieht, sollte die Entscheidung des Opfers sein.
Wie sollte mit den Tätern verblieben werden?
Persönlich würde ich immer sagen, dass man Täter ans Licht zerren muss und nicht die Opfer. Man sollte im Grundsatz kein Verständnis für die Tat haben – auch nicht, wenn der Täter selbst vielleicht einmal Opfer war. Täter zu werden, ist eine getroffene Entscheidung.
Opferschutz geht allerdings immer vor Täterschutz – das macht die Sache meist schwerer. Vom Grundverständnis sagt man natürlich, dass der Täter bestraft werden muss, je nach Schwere auch Hilfe benötigt und er seinen Beruf nicht mehr ausüben sollte. Dies gelingt aber meist nur, wenn die Opfer das Erlebte auch offenlegen.
In dem Fall, dass Fotos angefertigt wurden und an die Öffentlichkeit gelangt sind, muss die Justiz hier natürlich ermitteln und der Arbeitgeber muss zur Aufklärung der Situation aufgefordert werden. Dazu gehört auch die Prüfung, ob der beschuldigte Pädagoge ein Berufsverbot erhalten sollte.
Wer davon im Berufsumfeld weiß, aber schweigt, macht sich mitschuldig, schützt Täter, belastet weiter die Opfer. Denn ohne Verurteilung sieht es oft mau aus mit einem Berufsverbot. Im Sozialbereich kann man nur verlässlich dafür sorgen, dass solche Personen nicht mit Kindern oder ähnlichen Gruppen arbeiten, wenn sie einen entsprechenden Eintrag im erweiterten polizeilichen Führungszeugnis haben. Dieses muss jeder Arbeitgeber im Sozialbereich anfordern.
Die Vermutung liegt nahe, dass die erste Aufarbeitung innerhalb der Kirche nicht ausreichend war. Heute ist der Fall öffentlich und die Kirche ist nach ihrer eigenen Aussage bereit, nachzubessern. Sie schreibt uns: „Sollten in Bezug auf den von Ihnen genannten Fall neue Erkenntnisse gewonnen werden oder dem Beratungsstab bislang nicht zugängliche Informationen zur Kenntnis gelangen, wird die Nordkirche unverzüglich handeln.“
Wenn ihr weitere Informationen über Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche in MV habt, meldet euch bei uns. Beratungsstellen findet ihr in der von uns bereitgestellten Karte.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 22 von KATAPULT MV.
Weiterführendes:
Interview zum journalistischen Umgang mit sexualisierter Gewalt
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Autor:innen
Ist einsprachig in Wusterhusen bei Lubmin in der Nähe von Spandowerhagen aufgewachsen, studierte Politikwissenschaft und gründete 2021 KATAPULT MV.
Veröffentlichungen:
Die Redaktion (Roman)
Fredrich rastet aus