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Interview

„Sexualisierte Gewalt darf kein Tabuthema sein“

Von

Lesedauer: ca. 5 Minuten

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Wir haben darüber mit Corinna Pfaff vom Deutschen Journalistenverband MV und mit Carmen Fuchs von Maxi – Beratungsstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt des Vereins Quo vadis aus Neubrandenburg gesprochen.

Das Interview haben wir separat geführt. Fragen und Antworten wurden im Schriftverkehr ausgetauscht.

KATAPULT MV: Inwiefern können Betroffene sexuellen Missbrauchs durch mediale Berichterstattung erneut traumatisiert werden?
Carmen Fuchs: Durch eine fehlerhafte und unsensible Berichterstattung kann es zu einer sekundären Viktimisierung kommen. Ich empfehle, die Hinweise zur betroffenensensiblen Berichterstattung zu beachten.

Wie wichtig ist die journalistische Aufarbeitung von sexualisiertem Missbrauch?
Corinna Pfaff: Es ist nun mal eine Hauptaufgabe der Medien, auf Missstände aufmerksam zu machen, genau hinzuschauen und auch Betroffenen von Missbrauch eine Stimme zu geben.

Fuchs: Von erwachsenen Betroffenen wissen wir, dass der Umgang mit erlebtem Missbrauch ein (lebens)langer und extrem belastender Prozess ist. Die Frage an den/die Täter:in, „Warum hast du das getan?“, fühlt sich oft unerträglich an. Das Verarbeiten der zumeist nicht gestellten Frage an Familienmitglieder, „Warum hast du mir damals nicht zugehört?“, tut genauso weh. All diese Fragen quälen Betroffene lange und machen das erlebte ohrenbetäubende Schweigen lebenslang tagtäglich spürbar.
Sexualisierte Gewalt wie auch häusliche Gewalt kommt in allen Gesellschaftsschichten vor und darf kein Tabuthema sein. Gute Berichterstattung kann helfen, das Thema ins Bewusstsein der Allgemeinheit zu rücken und damit einen Beitrag zur Prävention leisten.

Welche Wirkung hat die journalistische Aufarbeitung von sexualisiertem Missbrauch auf Betroffene und Täter?
Fuchs: Oft ist die Berichterstattung geprägt von spektakulären Einzelfällen und einem verengten Blick auf die Täter:innen. Gerade reißerische Boulevardberichte reproduzieren viele Mythen und Stereotypisierungen und sorgen für Ängste und Abwehrhaltungen. Das ist nicht hilfreich, um Präventions- und Interventionsmaßnahmen in Deutschland zu entwickeln.
Wünschenswert ist ein Sprachgebrauch, der nicht nur die persönliche Integrität wahrt, sondern auch vermeidet, dass bei Kindern und Jugendlichen Ängste erzeugt und Vorurteile vermittelt werden. Neben der reinen Berichterstattung über Straftaten sollte auch auf die Rechte der Mädchen und Jungen sowie auf Beratungsangebote vor Ort hingewiesen werden.

Pfaff: Die Absicht der journalistischen Aufarbeitung ist es, die Gesellschaft zu sensibilisieren, damit Betroffene gehört und im besten Fall solche Missbrauchsfälle verhindert werden können.

Wie kann journalistische Aufklärungsarbeit gelingen, ohne dass Betroffene sexualisierten Missbrauchs retraumatisiert werden?
Pfaff: Natürlich heißt es bei diesem Thema, besonders sorgfältig bei der Berichterstattung vorzugehen. Ich habe 16 Jahre als Gerichtsreporterin gearbeitet. Da war mir der Pressekodex eine Hilfe – besonders Ziffer 8, der Schutz der Persönlichkeit, und Ziffer 11 zu Sensationsberichterstattung und Jugendschutz.

Wie sollte mit Bildmaterial und Beschreibungen von Tathergängen umgegangen werden? Was machen Medienvertreter:innen dahingehend falsch beziehungsweise richtig?
Fuchs: Einige Betroffene lehnen den Begriff „Opfer“ ab. Viele assoziieren ihn mit Schwäche oder Passivität und fühlen sich damit auf ihre Erfahrung von sexualisierter Gewalt festgelegt und stigmatisiert. Der Begriff „Opfer“ ist gesellschaftlich deutlich negativ konnotiert oder wird sogar als Schimpfwort verwendet.
Viele Beratungsstellen nutzen den Begriff „Betroffene von sexualisierter Gewalt“ und folgen damit dem Sprachgebrauch vieler Selbsthilfeorganisationen. Der Begriff ist am neutralsten und beschreibt, dass eine Person die Erfahrung sexualisierter Gewalt gemacht hat und entsprechend von diesem Thema betroffen ist. Betroffene sollten selbst entscheiden können, wie sie ihre Erfahrungen benennen wollen.

Pfaff: Eine Anonymisierung ist bei sensiblen Themen immer hilfreich. Das gilt natürlich gerade für Fotos. Meist reichen Symbolbilder beziehungsweise Aufnahmen, die den/die Gesprächspartner:in nur verdeckt zeigen.

Worauf ist bei der Berichterstattung über sexualisierten Missbrauch besonders zu achten?
Pfaff: Oft ist eine enge Absprache mit Vertretern von Opferschutzorganisationen wie dem Weißen Ring ratsam. Besonders, wenn es sich um Minderjährige handelt.

Fuchs: Eine sachliche Berichterstattung (Triggerwarnung: Link enthält Fallbeispiele), die auch mit allgemeinen Zahlen und Fakten unterlegt wird, ist in den meisten Fällen in Ordnung. Es sollten auch immer Hilfs- und Beratungsangebote, regional und bundesweit, für Betroffene aufgezeigt werden.
Hilfreich ist auch, die Expertise von Fachberatungsstellen und so weiter zur Recherche zu nutzen.

Gibt es Fälle, in denen eine Berichterstattung unterbleiben sollte? Wenn ja, warum?
Pfaff: Ich persönlich würde nicht gegen den ausdrücklichen Willen des/der Betroffenen berichten. Und so lange ein Verdachtsfall juristisch nicht geklärt ist, gilt die Unschuldsvermutung für Täter oder Täterinnen. Auch, wenn es mitunter schwerfällt.

Fuchs: Die Rechte der Betroffenen sollten gewahrt werden, deshalb empfehle ich, das Einverständnis vorher einzuholen. Auch bei anonymisierter Darstellung ist sensibel mit Schilderungen umzugehen, sodass möglichst keine Rückschlüsse auf bestimmte Personen möglich sind.


Beratungsstellen gegen sexualisierte Gewalt:

Rostock
Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt
Tel.: 0381 - 440 32 90
E-Mail: fachberatungsstelle@stark-machen.de

Stralsund, Ribnitz-Damgarten und Bergen
M.I.S.S. Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt
Tel.: 03831 - 667 93 63
E-Mail: kontakt@miss-beratungsstelle.de

Greifswald
Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt, Caritas 
Tel.: 03834 - 7983 199
E-Mail: anonym@caritas-vorpommern.de

Neubrandenburg
Maxi – Beratungsstelle für Betroffene von sexueller Gewalt, Quo vadis e.V. 
Tel.: 0395 - 570 6661
E-Mail: bsmaxi@gmx.de

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