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Pflegebranche

Desaster mit Ansage

In MV gibt es immer mehr Ältere. Pflegedienste dagegen werden immer knapper. Sie können die steigende Zahl an Bedürftigen schon jetzt kaum noch versorgen – wirtschaftlich und personell. Und die große Welle aus der sogenannten Babyboomergeneration kommt erst noch. Dabei war die Überalterung in MV lange vorhergesagt.

Jeder fünfte Mensch in MV ist älter als 65. Im Jahr 2030 wird es fast jeder dritte sein.1 Gleichzeitig wird die Zahl der Einwohner:innen laut Prognosen um rund 130.000 zurückgehen. Das hängt vor allem mit der niedrigen Geburtenrate und der Abwanderung jüngerer Leute zusammen. Bis zu 27 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter gehen so für die landesweite Wirtschaft verloren. Das schrieb eine Enquetekommission bereits 2016 in ihrem Abschlussbericht zum Thema „Älter werden in Mecklenburg-Vorpommern“.2 Vier Jahre lang hatte das Sondergremium des Landtags die gesellschaftlichen Herausforderungen im Zuge der kommenden Überalterung herausgearbeitet.

Möglichst lange zuhause leben wollen alle

Das Fazit vor nunmehr acht Jahren: Dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs kommt eine dringende Bedeutung zu. Besonders für ältere Menschen ist er oft die einzige Möglichkeit, selbstbestimmt mobil zu bleiben. Derzeit ist der ÖPNV jedoch besonders im dünn besiedelten ländlichen Raum kaum noch kostendeckend zu betreiben. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Daher wird im Bericht von einer „weiteren Angebotsausdünnung ungeachtet der zugleich steigenden Nachfrage durch ältere Menschen ausgegangen“.3
Abhilfe könnte dabei laut Kommission ein Ausbau der Telemedizin schaffen, also der ärztlichen Beratung über das Internet – „zur Überbrückung von Entfernungen und Versorgungsdefiziten“.4 Dafür braucht es landesweit allerdings einen besseren Netzausbau für flächendeckendes schnelles Internet.
Eine weitere Erkenntnis: Älteren Menschen liegt „ein langes Leben in Selbstbestimmtheit, nach Möglichkeit in der eigenen Häuslichkeit und in der vertrauten Umgebung“, am Herzen.5 Um diesen Wunsch erfüllen zu können, werden zusätzliche Angebote benötigt, da bei zunehmendem Alter auch der Bedarf an medizinischer und pflegerischer Versorgung zunimmt.6

Pflege gepflegt ignoriert

Auf der Internetseite der Landesregierung heißt es aktuell: „Mecklenburg-Vorpommern verfügt über eine sehr gute pflegerische Infrastruktur: In über 250 vollstationären Pflegeeinrichtungen werden fast 21.000 Plätze für eine adäquate Pflege und Versorgung vorgehalten. Für eine gute Pflege in der Häuslichkeit sorgen über 540 ambulante Pflegedienste.“7

Die Grafik zeigt eine Karte von Mecklenburg-Vorpommern. Darauf abgebildet ist die Anzahl der ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen je kreisfreier Stadt und Landkreis im Jahr 2024.

Dagegen sagte Maik Wolff, Vorsitzender des Vereins Zukunftsfeste Pflege, zum Abschluss einer Tagung zum Thema „Pflege in Not“ Mitte Oktober in Rostock: „Wenn wir als Verein Bilanz ziehen, können wir feststellen, dass Pflege nur durch unsere Kolleg:innen am Leben gehalten wird. Würden sie sich nicht einsetzen, würde gar nichts passieren.“ Sein Tonfall: provokant, durchaus anklagend. Aber so wolle er dafür sorgen, dass das Thema endlich angegangen werde. Viele Pflegedienste berichten dem Verein regelmäßig von ihren Sorgen und schlaflosen Nächten wegen der angespannten finanziellen Lage. Pflegetriagen, also die Ablehnung pflegebedürftiger Menschen aus Kapazitätsgründen, seien immer häufiger nötig. Mehrfach heiße es von Leitenden: „Hätte ich das gewusst, hätte ich keinen Pflegedienst begonnen.“

Innerhalb eines Jahres hat der Verein zu landesweit 20 Bürgerdialogen eingeladen und ist mit Betroffenen vor Ort ins Gespräch gekommen. Fazit: „Der Kipppunkt kommt erst noch.“

Warum? Weil das System der Pflege offenbar veraltet ist und zu lange niemand interveniert hat. Und das, obwohl vor mehr als zehn Jahren eine eigene Kommission für das Leben im Alter in MV ins Leben gerufen wurde.

Das Problem mit dem Nachwuchs

Mecklenburg-Vorpommern ist im Bundesvergleich das Land mit der höchsten Pflegequote: 4,1 Prozent der Einwohner:innen sind pflegebedürftig.8 Dagegen liegt die Zahl der Pflegenden seit jeher unter dem Bundesdurchschnitt.9
Nach Angaben des Landesamtes für Innere Verwaltung arbeiten derzeit rund 13.000 Beschäftigte in der ambulanten Pflege, 17.815 in der stationären.10 Laut dem Verein Zukunftsfeste Pflege müsste in den nächsten zehn Jahren gut ein Fünftel dieses Personals altersbedingt ersetzt werden. Aus dem aktuellen DRK-Pflegebericht geht hervor, dass diese Austritte bis Ende der 2020er-Jahre nicht mehr durch Absolvent:innen von Pflegefachschulen ersetzt werden können.11

Die Grafik stellt die Pflegesituation im Jahr 2021 in Deutschland und in MV gegenüber. Der Anteil der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung betruf damals in Deutschland 6 Prozent und in MV 7,6. In MV kamen auf eine Pflegekraft 4 Pflegebedürftige, in Deutschland durchschnittlich 3,9.

Martin Mengel ist seit zehn Jahren in der Branche tätig, arbeitet in der Notfallmedizin der Universität Greifswald und engagiert sich bei Zukunftsfeste Pflege. Er warnt: 1.200 Pflegeheimplätze in MV können derzeit wegen Personalmangels nicht vergeben werden. Weniger Personal bedeute mehr Arbeit für diejenigen, die noch da sind. Das mache den Beruf unattraktiv. Dabei gebe es in der Branche eine enorme Berufstreue. Das sei ein wichtiger Faktor. Daher sei es für die Personalsicherung vor allem wichtig, eine gute Ausbildung zu ermöglichen und die Bindung des bestehenden Personals zu gewährleisten.

Seit 2020 gibt es in Deutschland die generalisierte Pflegeausbildung. Diese ist nicht mehr aufgeteilt in Kranken- und Altenpflege, sondern zusammengelegt. Die Ausbildung wird europaweit anerkannt und mittlerweile vergütet. Die fertig ausgebildeten Pflegefachkräfte können in allen Bereichen der Branche eingesetzt werden und aufbauende Studiengänge für weitere Karriereoptionen absolvieren.12 Laut DAK-Bericht ist die Abbruchquote niedriger als bei anderen Ausbildungen.13

Die Diakonie Vorpommern mit Sitz in Greifswald ist erst seit knapp zwei Jahren Ausbildungsstätte, aktuell mit sechs Azubis. Im September, zum neuen Ausbildungsjahr, sei jedoch leider niemand hinzugekommen. Nachwuchs zu gewinnen sei sehr schwer, sagt Koordinatorin Franziska Höhne. Zum einen seien etwa Infoveranstaltungen direkt an Schulen, um über den Beruf zu informieren, kaum möglich. Zum anderen hätten die Jugendlichen eine sehr hohe Hemmschwelle. Das beobachten die Mitarbeitenden der Diakonie oft auf Berufsmessen in Gesprächen über Pflegeberufe. „Zu wenig Geld, zu blöde Aufgaben“ – das Image sei noch immer schlecht. Dabei heißt Pflege nicht automatisch, Menschen auf die Toilette begleiten zu müssen, erklärt Höhne. Besonders die ambulante Pflege unterscheide sich dahingehend stark von der stationären. Doch die Koordinatorin räumt auch ein: „Noch kann sich eine Pflegefachkraft um eine Person kümmern. Allerdings wird das möglicherweise bald nicht mehr machbar sein.“
Auch ausländische Fachkräfte seien eine wichtige Unterstützung. Nur gebe es hierbei Probleme aufgrund der Sprachbarriere, sagt Höhne. Viele ältere Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, sprechen kein Englisch. Und nicht immer haben die internationalen Fachkräfte bereits einen Deutschkurs belegen können.

Trotz mehr Investitionen in die Pflege würden im Landkreis Nordwestmecklenburg in den kommenden Jahren Fachkräfte fehlen, berichtet der dortige stellvertretende Landrat Ingo Funk (parteilos). In seiner Region werde die stationäre Pflege mit insgesamt 6,5 Millionen, die ambulante mit 2,5 Millionen Euro finanziert. Das seien bereits drei Millionen Euro mehr als bisher. Der Landkreis geht von 14.000 pflegebedürftigen Menschen bis zum Jahr 2040 aus. 600 bis 700 Personalstellen müssten bis dahin nachbesetzt werden. Und Funk nennt ein weiteres Problem: Aus seinem Landkreis ziehen seit Jahren fertig ausgebildete Pflegekräfte nach ihrem Abschluss in andere Bundesländer, nach Hamburg oder Lübeck, weil dort die Verdienstchancen viel besser seien. Er wünscht sich vor allem eine einheitliche Vergütung.

Das Problem mit der Bezahlung

Aus dem Bericht der Enquetekommission geht hervor, dass „insbesondere in den ländlichen Regionen (…) die wirtschaftliche Situation der Leistungsanbieter als wirtschaftlich kritisch einzuschätzen [ist]“.14
Oft müssen Pflegedienste in Vorleistung gehen. Aufgrund der strengen Auflagen der Krankenkassen, welche Leistungen anerkannt werden und wie hoch sie bezahlt werden, können nicht alle Dienste ihren Betrieb aufrechterhalten. Auch die gesetzliche Lohnerhöhung für Pflegekräfte führte bei einigen Unternehmen zu zum Teil erheblichen finanziellen Problemen. Eigentlich hätten diese Erhöhung die Kassen übernehmen sollen. Bisher jedoch sei das noch nicht überall passiert, heißt es vom Verein Zukunftsfeste Pflege. Die personellen und wirtschaftlichen Herausforderungen beschreibt Mitglied Carolin Lubetzki als „toxische Mischung“.
Auch für die Pflegebedürftigen stellen die steigenden Kosten ein Problem dar. Um zu sparen, nähmen viele von den ihnen zustehenden Leistungen weniger in Anspruch. Unter diesen Bedingungen leide die Wirtschaftlichkeit der Branche – auf Kosten der Bedürftigen, so Lubetzki. Mehrere Pflegedienste sahen sich in diesem Jahr mit Insolvenzverfahren konfrontiert, ergänzt Vorsitzender Wolff. „Trotz stabiler Patient:innenzahl und wachsender Nachfrage“, wie er betont.15
Zu Beginn der Abschlusstagung zur Pflege in Not verkündete Wolff, dass am Morgen erneut ein Pflegedienst aus Rostock aufgegeben habe. Dieser hatte rund 200 Patient:innen.

Der Streit zwischen Pflegediensten und Krankenkassen dauert mittlerweile Jahre. Anfang 2024 wurden die Verhandlungen über neue Preise für Leistungen für gescheitert erklärt. Schon im Jahr zuvor hatten sich beide Seiten nicht einigen können. Schiedssprüche und Klagen folgten.16 Die Fronten sind verhärtet.
Mit einer besseren Vergütung für Leistungen könnte die Pflegebranche nicht nur wieder handlungsfähiger, sondern auch attraktiver als Berufszweig werden, argumentieren die Pflegedienste.

Auch die Kassen klagen

Das erkennen auch die Krankenkassen, sagt Tom Forbrich von der AOK Nordost. Er erklärt: Das große Problem bei der Abrechnung von Leistungen seien die beiden unterschiedliche Abrechnungsarten. Zum einen gebe es Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) 5, also bei Krankheitsfällen. Die werden von der entsprechenden Krankenkasse bezahlt. Daneben gebe es Leistungen nach SGB 11, also der Pflege, die über die Pflegeversicherungen laufen. „Es sind zwei Portemonnaies und beide sind auch stark an Vorgaben gebunden“, so Forbrich. Die Kassen müssten beispielsweise Gelder für das Erbringen von Pflege in Krankenhäusern vorhalten, unabhängig von der Auslastung bis zu 25 Prozent. Das sei gesetzlich vorgeschrieben und nicht verhandelbar. Gelder, die bei späteren Abrechnungen für ambulante Dienste fehlten.

Unverständlich bleibt das für die Pflegedienste, denn auch sie hätten Kontingente, die sie vorhalten müssen. Und ihnen werde es nicht vergütet. Forbrich kann den Ärger nachvollziehen und hält Reformen in den Versicherungen ebenfalls für nötig. Besonders mit dem Anstieg von pflegenden Angehörigen und Mischformen der Betreuung von Patient:innen durch sie, ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen brauche es einfachere und vor allem flexiblere Möglichkeiten.

Alle Parteien sind sich einig, dass es generell eine Übersicht über die tatsächlich in Anspruch genommenen Pflegeleistungen geben sollte. Bisher gibt es diese nicht, doch sie würde den landesweiten Bedarf sichtbar machen.

Ambulante Dienste und Angehörige als Joker?

Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ steht auch auf der Agenda des Gesundheits- und Sozialministeriums ganz oben.17 Damit sollen Pflegebedürftige, ihrem Wunsch entsprechend, so lange wie möglich in ihrem Zuhause bleiben und versorgt werden können. Das geht schon längst nur noch mit der Hilfe Angehöriger. So werden im Landesdurchschnitt 47,8 Prozent der Pflegebedürftigen auch von Angehörigen betreut. Vor allem in den Landkreisen Vorpommern-Rügen, Nordwestmecklenburg, Mecklenburgische Seenplatte und Ludwigslust-Parchim.18 In Greifswald seien es derzeit drei Viertel der Pflegebedürftigen, sagt Franziska Höhne von der Diakonie. Das sei für viele Angehörige überfordernd. Zum einen emotional, zum anderen auch finanziell. Neben den steigenden Kosten für Pflegeleistungen gebe es seit diesem Jahr auch weniger Leistungen für die einzelnen Pflegegrade. Langfristig könnte das zur Folge haben, dass sich die Familien eine ambulante Pflege nicht mehr leisten können. „Irgendwann wird die ambulante Pflege purer Luxus sein“, befürchtet Höhne.
Doch auch die stationäre Pflege wird immer teurer. So werden immer mehr Angehörige selbst tätig. Schon jetzt müssen die meisten in ihrem eigentlichen Beruf auf 30 Stunden reduzieren.

„Dann fiept das Gerät und die Zeit ist um“

Pflegefachkraft Manuela Abs aus Greifswald kennt das alles nur zu gut. Sie arbeitet seit knapp vier Jahren beim ambulanten Pflegedienst der Diakonie Vorpommern.19 Die 39-Jährige begann vor fünf Jahren ihre Ausbildung in der Pflegebranche. Sie hat sich bewusst für den neuen Berufszweig entschieden. Die Arbeit beeindrucke sie jedes Mal, sagt sie. Heute ist sie Praxisanleiterin und stellvertretende Pflegedienstleiterin.

Um halb sechs Uhr morgens beginnt ihr Tag. Zuerst versorgt sie Dialysepatient:innen oder junge Menschen, die arbeiten, aber sich nicht selbst versorgen können. Danach geht es zur Wundversorgung. Vier bis fünf Personen versorgt sie innerhalb einer Stunde. Im Anschluss wartet das Büro: Dokumentationen schreiben, Verordnungen abschicken und einpflegen. Die Bürokratie sei bei allem das Aufwendigste, kritisiert sie. Überstunden würden vor allem wegen dieser Aufgaben anfallen. Parallel leitet sie einen Azubi an, zeigt ihm, wie Körperpflege an Patient:innen funktioniert und welche Hygienevorschriften eingehalten werden müssen. Abs ist froh, dass sie Nachwuchs haben.
Gegen 16:30 Uhr hat sie Feierabend. Bisher könne sie als Mutter nur Frühdienste übernehmen. Da gehe die Diakonie gut auf unterschiedliche Familienverhältnisse ein, erzählt sie. Auch das sei in der Pflegebranche machbar.

Nicht so gut laufe es dagegen mit den bürokratischen Hürden: Für medizinische Leistungen etwa müssten sich Pflegekräfte erst eine Genehmigung bei Ärzt:innen einholen, bevor sie Patient:innen versorgen können. Sonst zahlt die Kasse nicht. „Da vergehen manchmal Tage für etwas, das viel schneller erledigt sein könnte.“ Zudem sei die Zeit für hygienische Aufgaben oft zu gering bemessen. „Eine Wundversorgung in fünf oder zehn Minuten schafft man einfach nicht, wenn man die Hygienevorgaben einhalten will.“
Und auch Abs erzählt, dass Patient:innen mittlerweile auf immer mehr Leistungen verzichten, weil es sonst zu teuer wird. Besonders häufig beobachtet sie, dass ältere Menschen nicht mehr täglich oder alle zwei Tage, sondern nur einmal in der Woche das Duschen mit Hilfe in Anspruch nehmen. Das tue ihr oft leid. „Es sollen doch alle schön und würdig alt werden können.“
Ein anderes Beispiel: Für die Einkaufshilfe bemesse die Krankenkasse eine Dreiviertelstunde. Mit älteren Menschen zum Markt zu fahren, auszuwählen, einzukaufen, ein- und auszuladen, dauere aber mindestens eine Stunde. „Und dann fiept das Gerät schon und man muss wieder los zum nächsten Klienten.“ Pflegefachkräfte sind mit einem mobilen Endgerät unterwegs, auf dem alle Termine des Tages gespeichert sind. Wenn die Zeit für einen Termin um ist, ertönt ein Signal. Das knappe Zeitbudget sei auch der Grund, warum ihr Pflegedienst nur in einem Radius von etwa 20 Kilometern um Greifswald tätig sein kann. Da die Anfahrt nicht vergütet wird, bedeuten zu lange Wege ein Minusgeschäft. Abs wird deutlich: „Für drei Minuten spritzen können wir nicht zehn Minuten fahren. So hart das klingt, aber es ist nicht wirtschaftlich.“ Das verstärkt die Gefahr, dass besonders ältere Menschen in der Fläche alleingelassen werden.
„Wahrscheinlich gibt’s uns in 30 Jahren schon gar nicht mehr“, mutmaßt sie, „weil Pflegedienste für die Mehrheit der Bevölkerung einfach zu teuer geworden sind und ältere Menschen sich noch weniger leisten können.“

Vorbild Brandenburg?

Die Folgen des demografischen Wandels zeichneten Bevölkerungsprognosen schon vor Jahren. Den Begriff des Pflegenotstands gibt es bereits seit den 1960er-Jahren.20

Einen Schritt weiter als MV ist derzeit Brandenburg. Was hierzulande noch auf dem Weg ist, wurde dort bereits umgesetzt: ein Pflegepakt. Die Struktur des Landes sei ähnlich wie MV, sagt Ulrich Wendte, Fachreferent im brandenburgischen Sozialministerium: viel Fläche, wenig Menschen, aber zunehmend Ältere. Sein deutlicher Rat an MV: die ambulante Pflege zu unterstützen, denn „es wird nicht gelingen, trotz Zuwanderung, den Personalmangel zu kompensieren“. Daher brauche man gute Alternativen, auch ohne neues Personal. Das bedeutet jedoch auch, dass es sich nicht vermeiden lasse, die Pflegeleistung durch Familienangehörige oder nachbarschaftliche Hilfen aufzufangen. Eine Möglichkeit, die für ambulante Pflege in seinem Bundesland derzeit zur Diskussion steht, ist eine Aufteilung der Dienste auf einzelne Regionen. So bekommen sie direkte Zuständigkeitsbereiche, die Versorgung kann flächendeckend gewährleistet werden und auch Fahrtwege und -kosten lassen sich auf diese Weise reduzieren.

Auch sie seien noch lange nicht am Ende, sagt Wendte. Aber mit der Umsetzung des Pakts habe man bereits einige Erfolge in der Versorgung älterer Menschen erzielt. Mittlerweile konnten in knapp 87 Prozent der Gemeinden Pflegeangebote vor Ort geschaffen werden. Allerdings, so betont Wendte auch, habe Brandenburg sich sehr auf diesen Aufbau konzentriert. Damit fielen andere Finanzierungsprojekte, wie etwa Prämien für internationale Fachkräfte, weg. Nur auf Gelder und Gesetze zu warten, sei seiner Meinung nach nicht hilfreich. Lieber solle man sich auf die schon jetzt umsetzbaren Möglichkeiten besinnen.

Die Zeit drängt

Für MVs Sozialministerin Stefanie Drese (SPD) ist die Pflege das „wichtigste sozialpolitische Thema dieser Zeit“. Die bisherigen Strukturen aufzubrechen, zu verstehen und verbessern, dauere jedoch. In Brandenburg habe das Aufstellen und Umsetzen eines Pakts fast zehn Jahre gedauert. In MV komme man ihrer Meinung nach schon gut voran. Einzelne Arbeitsgruppen hätten ihre Arbeit aufgenommen. Erste Ergebnisse erwartet die Ministerin Ende des Jahres.

Kurz nach dem Treffen in Rostock leitete der Bundesrat auf Initiative Mecklenburg-Vorpommerns eine Neugestaltung der Pflegeversicherung in die Wege. Damit muss die Bundesregierung eine „faire, soziale und gerechte Reform“ entwickeln, um eine gute Versorgung im Alter gewährleisten zu können, die auch finanziell tragbar ist. Wie genau sie aussehen und wann sie umgesetzt wird, ist noch unklar.21

Auch bezüglich der nun anstehenden Haushaltsverhandlungen für das kommende Jahr gebe es noch keine deutlichen Signale. „Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass nur Gelder helfen“, betont Drese.

Vielen Pflegediensten geht das zu langsam. Maik Wolff spricht eine deutliche Warnung aus: Wenn sich an der Situation nichts ändere, „kann es sein, dass schon 2029 die Versorgung nicht mehr aufrechterhalten werden kann“. Und Franziska Höhne erinnert: „Die Medizin ist fortschrittlicher, wir sterben später, werden dadurch aber bedürftiger. Und auch ihr werdet irgendwann pflegebedürftig.“

Dieser Artikel erschien erstmalig in der 37. Ausgabe von KATAPULT MV.

  1. Landtag MV (Hg.): Die Enquete-Kommission „Älter werden in Mecklenburg-Vorpommern“ in der 6. Wahlperiode 2011-2016, S. 12, auf: landtag-mv.de (Juli 2016). ↩︎
  2. Ebd., S. 25. ↩︎
  3. Ebd., S. 78-79. ↩︎
  4. Ebd., S. 127. ↩︎
  5. Ebd., S. 43. ↩︎
  6. Ebd., S. 112. ↩︎
  7. Ministerium für Soziales, Gesundheit und Sport MV (Hg.): Pflegeeinrichtungen, auf: regierung-mv.de. ↩︎
  8. Landtag MV 2016, S. 135. ↩︎
  9. Arbeitgeberverband Pflege (Hg.): Ist die Zukunft der Altenpflege „made in Mecklenburg-Vorpommern“?, auf: arbeitgeberverband-pflege.de (23.11.2023). ↩︎
  10. Landesamt für Innere Verwaltung (Hg.): Pflege M-V, auf: laiv-mv.de. ↩︎
  11. DAK-Gesundheit (Hg.): DAK-Pflegereport 2024: Die Baby-Boomer und die Zukunft der Pflege – beruflich Pflegende im Fokus, auf: dak.de (2.5.2024). ↩︎
  12. Universitätsmedizin Greifswald (Hg.): Generalistische Pflegeausbildung, Pflegefachfrau bzw. Pflegefachmann, auf: medizin.uni-greifswald.de. ↩︎
  13. DAK-Gesundheit (Hg.): DAK-Pflegereport 2024: Die Baby-Boomer und die Zukunft der Pflege – beruflich Pflegende im Fokus, Erste Ergebnisse, S. 17, auf: dak.de (9.4.2024). ↩︎
  14. Landtag MV 2016, S. 145. ↩︎
  15. E-Mail vom Verein Zukunftsfeste Pflege vom 8.3.2024. ↩︎
  16. Ärzteblatt (Hg.): Pflegegespräche in Mecklenburg-Vor­pommern erneut gescheitert, auf: aerzteblatt.de (27.2.2024). ↩︎
  17. Ministerium für Soziales, Gesundheit und Sport MV (Hg.): Pflege, auf: regierung-mv.de. ↩︎
  18. Landtag MV 2016, S. 50. ↩︎
  19. Telefonat mit Manuela Abs am 18.10.2024. ↩︎
  20. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Pflegenotstand, auf: bpb.de. ↩︎
  21. E-Mail der Pressestelle der SPD-Landtagsfraktion MV vom 18.10.2024. ↩︎

Autor:in

  • Bild von KATAPULT MV Redaktionsleiterin Martje Rust

    Redaktionsleitung

    Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach MV.

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