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Streik bei Windkraftanlagenhersteller Vestas

Die Fronten sind verhärtet

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Aus dem Jahr 1956 stammt der bisherige Rekord für den am längsten andauernden Streik in Deutschland. Damals kämpften Metallarbeiter:innen in der BRD um Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die heute deshalb zumeist tarifvertraglich abgesichert sind. Ganze 114 Tage dauerte ihr Streik an, dann knickten die Arbeitgeber ein. 

In der vergangenen Woche übertrafen die Servicemitarbeiter:innen des dänischen Windriesen Vestas diese historische Marke. „Wir befinden uns seit dem 7. November letzten Jahres im Arbeitskampf um einen Tarifvertrag mit der deutschen Tochter des Mutterkonzerns“, teilt Gewerkschaftssekretär Sven Gerriets von der IG Metall mit. Mehrere hundert Arbeiter:innen der etwa 1.700 Beschäftigten, die in Deutschland für Service- und Wartungsarbeiten zuständig sind, folgten diesem Aufruf und legten ihre Arbeit nieder. Auch in MV. Wie viele genau hierzulande am Arbeitskampf teilnehmen, lässt sich aufgrund der nicht ortsgebundenen Arbeitsweise in kleinen Teams jedoch kaum sagen. Eine Schätzung der IG Metallbeläuft sich auf etwa 50 Mitarbeiter:innen, von denen etwa die Hälfte im Streik aktiv sei, heißt es auf Nachfrage.

IG Metall: Vestas entscheidet „nach Gutsherrenmanier“

Vestas „ist ein aktiengetriebener Konzern“, der seinen Beschäftigten nichts von den eigenen Profiten abgeben will, so Gerriets. Der Windkraftbauer entscheide lieber „nach Gutsherrenmanier“. Die Fronten scheinen mittlerweile verhärtet, vorherige Verhandlungen zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft scheiterten. Auch, weil bereits durch den Konzern unterbreitete Angebote plötzlich zurückgenommen wurden, wie Gerriets bestätigt. Ein Konzern, kritisiert die Gewerkschaft weiter, der einerseits mit der Arbeit der unter anderem Serviceangestellten „Rekordgewinne einstreicht“ – nicht zuletzt aufgrund der im Rahmen der Energiewende zentralen Technik. Und andererseits seinen Mitarbeiter:innen dennoch weder Urlaubs- noch Weihnachtsgeld zahlt, ihnen bisher weder Tarifvertrag noch Inflationsausgleich zugesteht.

Vor diesem Hintergrund erscheine es umso absurder, „dass dieser Konzern im aktuellen Jahresbericht all seinen Shareholdern dankt“, die den Gewinn möglich gemacht hätten, die Belegschaft jedoch mit keinem Wort erwähnt, erklärt die Rendsburger Gewerkschaftssekretärin Ines Beeck im Gespräch mit KATAPULT MV.

Angestellte stolz auf Mitarbeit an Energiewende

Unter den sich derzeit im Arbeitskampf befindenden Mitarbeiter:innen seien viele hochausgebildete Fachkräfte – eine Besonderheit, so Gerriets. „Viele könnten kündigen und einen neuen Job finden. Aber sie bleiben ganz bewusst im Unternehmen, weil sie der Überzeugung sind, als Servicearbeiter an der Energiewende mitwirken und etwas nachhaltig Gutes tun zu können.“ Dabei ist die Tätigkeit der Streikenden für den Arbeitskampf nicht unproblematisch. Da es sich um Servicemitarbeitende handelt, ließe sich als Konsequenz nicht so einfach ein Werk schließen und davor demonstrieren. Die mehreren hundert beteiligten Arbeiter:innen fielen im öffentlichen Blickfeld deshalb weniger auf, auch wenn die Betreiber der Windkraftanlagen die streikbedingt ausbleibenden Arbeiten zu spüren bekämen.

Servicearbeiter:innen kämpfen um Solidarität in der Belegschaft

Dass der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen dabei längst nicht bei all seinen Kolleg:innen auf Zuspruch trifft, spürt der Greifswalder Vestas-Beschäftigte René Bartel regelmäßig. Seit beinahe zwanzig Jahren ist der gebürtige Vorpommer im Unternehmen tätig und hat über die Jahre neben Standortwechseln auch das Auf und Ab der Branche erlebt. „Als ich anfing, war die Branche noch jung. Da galt es als Pioniertechnik. Da war noch alles mit Handschlag und das gegebene Wort hat etwas gegolten“, blickt er zurück. Dem sei mittlerweile nicht mehr so. Im Gegenteil: Alles entwickle sich mehr und mehr „zu einer Gelddruckmaschine“, bei der die Globalisierung des Konzerns nicht zur Verbesserung beigetragen habe, sagt Bartel. 

Die Tatsache, dass sich Vestas nur in Polen und Deutschland bis heute erfolgreich gegen einen Tarifvertrag wehren konnte, macht die deutschen Arbeiter:innen wütend. Denn im Gründungsland Dänemark, aber auch in Schweden, Norwegen und Österreich gibt es solche bereits länger. Dass sich nach alledem immer noch viele Kolleg:innen gegen eine Streikbeteiligung und das Engagement in der Gewerkschaft sträuben, ist für Bartel kaum nachvollziehbar. „Ich habe dieses Unternehmen auch mit aufgebaut, bin immer loyal gewesen, aber wenn die Zeit es erfordert, in den Arbeitskampf zu treten, dann ist es so.“

Konzern bekräftigt sein Vorgehen

Dass Vestas Deutschland sich bisher noch immer nicht mit der Gewerkschaft einigen konnte, verwundert. Es könne nicht länger hingenommen werden, dass die Belegschaft sich weiter spalte, hieß es noch zu Beginn der gemeinsamen Gespräche Anfang dieses Jahres von Deutschlandchef Nils de Baar. „Deshalb haben wir uns entschieden, mit der IG Metall an einer Lösung zu arbeiten“, so die Absichtsbekundung damals.

Übrig scheint davon wenig. Mittlerweile habe das Unternehmen das Gefühl, die Gewerkschaft würde den Streik weiter anheizen, teilt Vestas mit. Dabei liege ein wirtschaftlich attraktives Angebot bereits auf dem Tisch. Vorwürfe, der Konzern würde die Solidarität unter den Arbeiter:innen gezielt torpedieren und Streikbrecher:innen Prämien zahlen, wurden unterdessen bestätigt. Man sei „allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr dankbar, die Vestas trotz der streikbedingten Behinderung weiterhin unterstützen und uns mit ihrem Einsatz dabei helfen, alle vertraglichen Leistungen zu erbringen“, so der Konzern.

Arbeitsbedingungen in der Kritik

„Wir streiken um eine nachhaltige Gehaltsstruktur, um einen Tarifvertrag zu bekommen“, erklärt der Vestas-Angestellte. Dabei gehe es nicht nur um Geld, sondern zum Beispiel auch um die Altersteilzeit. „Wir wollen nicht immer nur auf Gutdünken und Betteln des Betriebsrates Vergünstigungen wie Lohnerhöhungen oder mal eine neue Toilette erhalten“, so der Greifswalder. Dabei ginge es ihm auch um soziale Verbesserungen und Investitionen am Arbeitsplätze selbst, sagt er. So baue Vestas selbst zum Beispiel keine Lagerstandorte selbst, sondern miete diese nur an. „Diese Lager entsprechen nun wahrlich nicht mehr den Standards eines Weltunternehmens.“ Wenn so teure und sensible Teile eingelagert werden müssten, dann sollte es wenigstens nicht „vom Dach durch die Decke tropfen“, so Bartel weiter. Dies verwundere ihn insbesondere, da Vestas als Marktführer die meisten Zuschläge von der öffentlichen Hand erhalte und sich so um seine Rolle eigentlich keine Sorgen machen müsse.

Schwindende Tarifbindung besorgt

Insbesondere die mehr und mehr schwindende Tarifbindung der in Deutschland agierenden Unternehmen erzeuge ein ernüchterndes Bild bei den Arbeiter:innen, beschreibt Bartel seine Empfindung. „Die vielen konservativen Regierungen haben die Tarifbindungen geschwächt, aber auch die Gewerkschaften. Das muss doch besser werden, zumal die jetzige Bundesregierung sich das auf die Fahne geschrieben hat.“ Tatsächlich waren 2021 weniger als die Hälfte aller Arbeitnehmer:innen in Deutschland in einem Beschäftigungsverhältnis mit Tarifbindung, wie sich aus Zahlen des Statistischen Bundesamtes entnehmen lässt. In den sogenannten „neuen Bundesländern“ sind es dabei nur kaum ein Drittel.

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Fußnoten

  1. Telefonat mit Sven Gerriets am 4.7.2023.
  2. Mit dem Begriff „Shareholder“ werden die Anteilseigner:innen eines Unternehmens bezeichnet.
  3. IG Metall Küste (Hg.): Gemeinsame Erklärung: Vestas und IG Metall nehmen Gespräche auf, auf: kueste.igmetall.de (10.3.2023).
  4. Statistisches Bundesamt (Hg.): Tarifbindung von Arbeitnehmern, auf: destatis.de (2023).

Autor:innen

Freier Fotograf aus Rostock.

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