Tourismus

Die Geisterdörfer von MV

Es ist wieder Saison. Und MV füllt sich mit Gästen – nicht nur Städte und Strände, sondern zunehmend auch das Hinterland. Viele haben sich ein eigenes Ferienhaus oder -wohnungen auf dem Dorf gesichert. Einige Einwohner:innen atmen sogar auf, denn jetzt ist die Zeit, in der sie nicht mehr allein in ihrem Dorf sind.

Sandra und Nick haben es satt. Noch bis Ostern wohnten sie in ihrem knapp zwei Dutzend Einwohner:innen kleinen Dorf in der Sternberger Seenlandschaft quasi allein. „Da ist sonst einfach keiner. Besonders für Jugendliche fühlt sich das sehr einsam an.“ Auch ein Dorfgemeinschaftsgefühl könne sich nur schwer entwickeln.

Sechs der 17 Häuser sind ganzjährig bewohnt, alle anderen sind Ferien- oder maximal Wochenendhäuser für Leute aus der Großstadt. So füllt sich das Dorf in der Regel immer erst in den Frühjahrs- und Sommermonaten mit Menschen. „Dann wird es richtig lebhaft hier, man trifft nette Menschen, man grillt zusammen. Das tut gut!“, erzählen die beiden. Dass in dieser Zeit die Gäste immer wieder wechseln, stört sie nicht. Man komme schnell ins Gespräch.

Grundsätzlich stellen sich Sandra und Nick aber die Frage, ob es langfristig so ein zweigeteiltes Jahr bleiben muss. Denn spätestens im nächsten Herbst ist ihr Dorf wieder nahezu ausgestorben.

Das Problem haben viele Dörfer. Und besonders die, die nicht auf den Tourismus ausgelegt sind, profitieren wenig von der wirtschaftlichen Hochsaison in den kommenden Monaten. Denn mit dem Bereitstellen von Ferienwohnraum werde nicht gleichzeitig auch in Zufahrt, Versorgung oder Schulwesen investiert. Der Unmut über infrastrukturelle und soziale Belastungen, deren Ursachen explizit dem Ferienwohnungsmarkt zugeschrieben werden, wächst, heißt es in einer Studie zur Ferienhausstruktur und deren Auswirkungen auf MV, beauftragt vom Landestourismusverband.

Schlechte Ökobilanz

Ein weiterer Faktor, der gegen viele Ferienhäuser in einem Ort spricht: der Energieverbrauch. Denn im Winter werden die leerstehenden Häuser weiterhin beheizt. Sogar Licht brennt, erzählen Sandra und Nick. Ab und zu kämen Handwerker, sogar öfter als die Besitzer:innen. Ansonsten bleiben die Häuser in dieser Zeit leer.

Dass dagegen viele junge Familien, die auf dem Land wohnen wollen, vergeblich Häuser suchen, sei „irgendwie unverhältnismäßig“, finden sie. Doch die Rendite mit Ferienhäusern ist häufig höher als mit Dauermietverhältnissen. Und die Spirale scheint sich weiterzudrehen: In Trams bei Jesendorf, einer anderen Gemeinde in der Nähe, wurde zuletzt ein neues Baugebiet ausgeschrieben. Dabei sind 50 Prozent der Fläche für Ferienwohnungen vorgesehen, 25 Prozent für Eigentumshäuser und weitere 25 Prozent stehen zur freien Wahl.

Bürokratie kann helfen

Dass dies kein Einzelfall ist, bestätigt sich zum Beispiel auch in Stolpe auf Usedom. Dort waren die 355 Einwohner:innen vor zwei Jahren so frustriert vom saisonalen Ferientourismus, dass sie aus eigener Kraft ins Gemeinderecht eingriffen. Im Ort gab es ebenfalls fast mehr Gästebetten als Einwohner:innen; mit einem geplanten Ferienhausgebiet wären insgesamt 366 Betten auf damals 350 Einwohner:innen gekommen. Das Angebot für Gäste hatte sich innerhalb von acht Jahren um ein Drittel erhöht. Deswegen setzte sich die Gemeinde für die sogenannte Wohnraumerhaltungssatzung ein. Sie orientierte sich damals an Helgoland, wo eine solche Regelung zwei Jahre zuvor erfolgreich umgesetzt worden war.

Mit der Wohnraumerhaltungssatzung bekommen nach Paragraf 172 des Baugesetzbuches Gemeinden die Möglichkeit, in Bebauungspläne aktiv einzugreifen und das öffentliche Interesse dem der Bauvorhaben entgegenzustellen. Und das kann für die Erhaltung der Bevölkerungsstruktur überwiegen. Eine Einschränkung bereits bestehender und genehmigter Ferienwohnungen ist damit aber nicht möglich.

Zu Rollladensiedlungen verkommen

Etwa 92.500 Ferienwohnungen gibt es in Mecklenburg-Vorpommern. Zumindest die angemeldeten, schätzt der Leiter des Landestourismusverbands, Tobias Woitendorf. Das Wissen über das tatsächliche Volumen des Ferienwohnungsmarktes sei lückenhaft.

Und er gibt recht: in einigen Orten stimme die Balance zwischen dem Ort als Wohnraum und als Tourismusziel nicht. Besonders in ländlichen Gebieten. Anders ist es in den Städten, in Warnemünde etwa komme die Gemeinde mit der Überzahl an Feriengästen gut klar, habe sich auf den Tourismus fokussiert und eingestellt. In Bad Doberan sehe das ganz anders aus, dort stehe nicht der Fremdenverkehr an erster Stelle. Man müsse den Einzelfall betrachten, sagt er: „Das Lebensumfeld muss passen, die Gemeinde darauf eingestellt sein.“ In den Neunzigerjahren, als der Tourismus in MV ausgebaut wurde, stand der wirtschaftliche Aspekt im Vordergrund. Mittlerweile rücken mehr und mehr die Einwohner:innen in den Fokus. Und Woitendorf räumt ein, dass das derzeitige Ferienhausangebot neben den anderen Unterbringungsmöglichkeiten eigentlich sogar ausreichend sei.

Auch die Landesregierung ist sich der Gefahr potenzieller „Rollladensiedlungen“ bewusst und konterte vor einem Jahr mit einer weiteren rechtlichen Bestimmung für Wohnungsbesitzer:innen, dem sogenannten Zweckentfremdungsgesetz. Damit soll das Ausmaß der Zweckentfremdung von Wohnraum als Ferienunterkünfte im Land reduziert und dem dadurch verursachten Wohnraummangel entgegengewirkt werden.

Kritik vom Deutschen Ferienhausverband

Vom Deutschen Ferienhausverband gab es dafür Kritik an der Landesregierung: aus dessen Sicht sei das Gesetz kontraproduktiv und würde der Tourismuswirtschaft weitere Hürden in den Weg legen. Vielmehr sollten Potenziale genutzt und gefördert werden. In Tourismusorten, wo der Anteil an Ferienwohnungen höher liegt, machten diese Ferienwohnungen einen wichtigen Wirtschaftsfaktor aus und trügen zur Attraktivität einer Destination bei.

Vor allem sei der Beschluss vor der Corona-Krise getroffen worden, was für den Feriensektor zusätzliche Belastungen und Unsicherheiten mit sich gebracht habe. „Aus unserer Sicht wäre es unter dem Eindruck der Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen empfehlenswert, mit legislativen Vorstößen zu warten und idealerweise nach der Pandemie eine neue Bestandsaufnahme vorzunehmen“, heißt es in einer Stellungnahme. Außerdem beruft sich der Verband auf das uneingeschränkte Eigentumsrecht des Grundgesetzes. Dass jedoch ausreichend bezahlbarer Wohnraum verfügbar sein muss, steht auch für den Verband außer Frage.

Der Ball liegt bei den Gemeinden

An wie vielen Orten das Gesetz schon angewandt wurde, ist nicht klar. Weder das Innen- noch das Justizministerium haben dazu Daten. Denn die Anwendung des Zweckentfremdungsgesetzes setzt voraus, dass die Gemeinde eine entsprechende Satzung erlassen hat, so eine Sprecherin des Innenministeriums. Davon sei bisher nichts bekannt, müsse jedoch auch nicht beim Ministerium angezeigt werden.

Und so bleibt es Sache der Gemeinden, gegen eine übermäßige Ausweisung von Ferienwohnungen vorzugehen und die Gesetzeslage zu nutzen. Zuletzt hatte die Gemeinde Born im Mai vor dem Oberverwaltungsgericht Greifswald recht bekommen und den geplanten Bau von über 50 Ferienhäusern am Borner Holm untersagt. Begründung: es sei nicht mit dem Landschaftsschutz vereinbar. Das Gebiet sei ein Vogelschutzgebiet und grenze an einen Nationalpark. Dass es aber langwierige Kämpfe bleiben, zeigt das Beispiel ebenfalls. Denn 2017 wurde der Bebauungsplan schon einmal gestoppt. Eine erneute Verhandlung des Falls ist nicht zugelassen. Auch in Wustrow setzen sich Menschen für den Erhalt von bezahlbarem Wohnraum und gegen eine neue Ferienhaussiedlung ein.

Und so bleiben die Interessenkonflikte zwischen dem Wirtschaftsfaktor Tourismus und der einheimischen Bevölkerung bestehen – nicht nur in den touristischen Zentren. Der Landestourismusverband sieht die Gefahr, dass Investoren mit Ferienhausprojekten in andere Gemeinden drängen, wenn sie an den touristisch nachgefragten Gebieten, etwa an der Küste, nicht weiterkommen. Verbandschef Woitendorf vermutet aber wegen der wachsenden Forderungen an einen nachhaltigen Tourismus und immer mehr aktiven Gemeinden, wie Stolpe, Born und Wustrow, dass sich künftig noch schwerer neue Feriensiedlungen bauen lassen.

Bei Sandra und Nick ist derweil erst einmal Leben im Ort. Das genießen sie. Bis dann im Spätherbst die Rollläden in den elf der 17 Häuser vorerst wieder heruntergelassen werden.

Dieser Artikel erschien in der gedruckten Ausgabe 9 von KATAPULT MV und kann im KATAPULT-Shop bestellt werden.

Quellen

  1. Namen von der Redaktion geändert.
  2. Landestourismusverband MV (Hg.): Die Auswirkungen von Ferienhäusern und Ferienwohnungen auf die Regionalentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern, S. 4 (2013).
  3. Landtag MV (Hg.): Entwurf eines Gesetzes über das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum in Mecklenburg-Vorpommern, auf: landtag-mv.de (25.3.2021).
  4. Gemeinde Jesendorf (Hg.): Satzung der Gemeinde Jesendorf über den Bebauungsplan Nr. 8 „Wohn- und Feriensiedlung am Tramser See“, auf: verwaltungsportal.de (23.7.2021).
  5. Amt Usedom-Süd (Hg.): Gemeinde Stolpe auf Usedom, auf: amtusedom.de.
  6. Ministerium für Energie, Infrastruktur und Digitalisierung MV (Hg.): Wohnraumerhaltungssatzung in Stolpe auf Usedom, auf: zukunft-wohnen-mv.de.
  7. Gemeinde Helgoland (Hg.): Satzung der Gemeinde Helgoland zur Erhaltung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung und zu ihrem Schutz vor der Verdrängung durch touristische Übernachtungsmöglichkeiten, auf: helgoland.de (1.5.2018).
  8. Elbert, Mathias: Die Erhaltungssatzung als kommunales Instrument gegen Gentrifizierung, auf: matthias-elbert.de (24.4.2019).
  9. Landtag MV (Hg.): Entwurf eines Gesetzes über das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum in Mecklenburg-Vorpommern, S. 2, auf: landtag-mv.de (25.3.2021).
  10. Deutscher Ferienhausverband (Hg.): Stellungnahme zum Zweckentfremdungsgesetz in Mecklenburg-Vorpommern, auf: deutscher-ferienhausverband.de (15.9.2020).
  11. Ebd.
  12. Oberverwaltungsgericht MV (Hg.): Bebauungsplan „Holm“/Born unwirksam, auf: mv-justiz.de (10.5.2022).
  13. Landestourismusverband MV (Hg.): Die Auswirkungen von Ferienhäusern und Ferienwohnungen auf die Regionalentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern, S. 84 (2013).

Autor:in

  • Bild von KATAPULT MV Redaktionsleiterin Martje Rust

    Redaktionsleitung

    Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach MV.