Interview

„Die Regierungen können uns mal!“

Um den Menschen an der polnisch-belarusischen Grenze zu helfen, haben Aktivist:innen ein Solidaritätsnetzwerk gegründet. Darüber sammeln sie Spenden und organisieren sich, um die Migrant:innen mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Rechtsbeistand versorgen zu können, wo es Regierungen nicht mehr tun. Dieses ist nach wie vor aktiv. KATAPULT MV hat mit einer polnischen Aktivistin gesprochen, die sich regelmäßig im Grenzgebiet aufhält. Aus Sicherheitsgründen will sie ihren Namen und ihr Alter nicht nennen.

Das Interview wurde im Januar 2022 geführt und ist in  Ausgabe 4 von KATAPULT MV erschienen.

KATAPULT MV: Wann hast du mit deiner Hilfe an der polnischbelarusischen Grenze begonnen?Aktivistin: Im August letzten Jahres. Wir waren zu dem Zeitpunkt eine der ersten Hilfsgruppen. Wir haben das Gebiet nach Flüchtlingen abgesucht und geschaut, ob sie Hilfe brauchen. Die Situation hatte sich zu dieser Zeit extrem verändert, als Europa Sanktionen gegen Lukaschenko aussprach und dieser daraufhin Migrant:innen aus vielen Ländern an die Grenze brachte, um Druck auf die EU auszuüben. Seitdem stecken Menschen zwischen den Grenzen dort fest. Fünf Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt wurde ein Streifen gezogen, in den keiner mehr reindurfte. Grenzpatrouillen konnten dann die Migrant:innen aufgreifen und zurück über die Grenze drängen. Damit haben sie die Menschen aber in die Wälder in der Grenzregion geschickt. Das ist einer der letzten Urwälder Europas! So tief, da weißt du nicht mehr, wo welche Richtung ist. Du verirrst dich dort. Und Handyempfang oder GPS gibt es dort auch kaum. Im August, als es begann, da war es noch warm. Da hatten sie noch eine höhere Chance, zu überleben.

Wie ist es jetzt?Jetzt kann es schon mal minus 20 Grad kalt werden. Die Menschen sterben bei diesen Temperaturen in wenigen Tagen. Ich habe schon welche in den Wäldern gesehen, die erfroren sind.

Wie genau läuft eure Arbeit vor Ort ab, was könnt ihr tun?Ich bin in den Wäldern unterwegs. Wir suchen Gruppen von Flüchtlingen, die Hilfe brauchen, bringen ihnen Essen, Trinken, Campingkocher, damit sie sich warmes Wasser und etwas zu essen machen können, Zelte, Klamotten – sowas. Aber am meisten geben wir ihnen Hoffnung. Sie sehen, dass noch jemand für sie da ist. Das gibt manchen noch ein bisschen Kraft.

In welchem Zustand sind die Menschen, die ihr dort trefft?Es geht ihnen schlecht. Sie haben keine Medikamente, keine Nahrungsmittel, wenn wir ihnen nichts bringen. Wenn sich jemand ein Bein gebrochen hat, kommt er kaum noch weiter. Einen Notarzt zu benachrichtigen, ist gefährlich. Das weckt die Aufmerksamkeit der Grenzpatrouillen. Wenn wir mit den Flüchtlingen sprechen, sagen sie, „bitte nicht nach Belarus“. Dort bekommen sie keine Hilfe. Dort sind die Grenzpolizisten mit aggressiven Hunden unterwegs, nehmen ihnen zum Teil die Handys weg und drängen sie zurück. So stecken sie zwischen den Grenzen fest. Ein Migrant ist zum Beispiel schon elf Mal hin- und hergedrängt worden.

Wie viele seid ihr insgesamt vor Ort?Ich würde sagen, es sind ungefähr 50 Leute. Neben den Aktivist:innen auch Einheimische. Das wechselt aber immer mal wieder. Wir erleben dort enorme Repressalien, auch die Grenzpolizei macht Angst. Manche halten das nicht aus. Und wir arbeiten in unterschiedlichen Bereichen: Es gibt Gruppen, die in den Wäldern unterwegs sind. Anwohner:innen helfen, indem sie den Menschen zum Beispiel Obdach geben. Andere organisieren Rechtsbeistand oder Wege, die Menschen in sichere Länder zu bringen. Polen ist das zum Beispiel gerade nicht!

Wie meinst du das?Zu Beginn der Krise hatten wir viele Selbstmorde. Flüchtlinge, die nach Polen gekommen sind, verstanden die Sprache nicht, wussten nicht, was mit ihnen passiert. Keiner hat da geholfen. Und wenn wir den Grenzpolizisten Dokumente zur Einreise zeigten, haben sie uns ins Gesicht gelacht. Das ist entsetzlich! Deswegen müssen wir etwas tun.

Was würdest du sagen, brauchen die Migrant:innen am meisten?Zelte, Telefone, Telefonkarten, Benzin – all solche Dinge. Wir brauchen Geld, damit wir das beschaffen können. Das organisiert das Crowdfunding-Projekt firefund. Da wurden zuletzt 12.000 Euro gesammelt. Minus 20 Grad kann es hier noch eine Weile bleiben. Wir müssen dafür sorgen, die Menschen dort am Leben zu halten. Und wir brauchen Hilfe von sicheren Ländern, eine Konvention und Gesetze!

Was sollten deiner Meinung nach die Politik beziehungsweise die Regierungen jetzt tun?Die Regierungen können uns mal! Sie sind Mörder. Sie haben schon so viele Pushbacks zugelassen, Migrant:innen verdrängt. Was passierte in Italien? Was passierte auf der Balkanroute? In der Türkei? So viele Menschen sind schon geflüchtet und wenige haben überlebt. Da ist niemand, der wirklich etwas schafft. Und hier sind gerade nur noch die Aktivist:innen.

Kontakt zu Helfer:innen in MV: noborders-mv@systemausfall.org

Das Interview wurde von KATAPULT MV aus dem Englischen übersetzt.

Autor:in

  • Bild von KATAPULT MV Redaktionsleiterin Martje Rust

    Redaktionsleitung

    Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach MV.