Diskriminierung

Dunkelfeld Antisemitismus erhellt sich langsam

Die im Sommer 2021 ins Leben gerufene Dokumentations- und Informationsstelle für antisemitische Straftaten in Mecklenburg-Vorpommern, die Dia MV, stellte am Mittwoch in Rostock ihren Jahresbericht zu antisemitischen Straftaten im vergangenen Jahr vor. Landesweit wurden 36 antisemitische Vorfälle gemeldet, darunter auch körperliche Angriffe. Die Mehrheit der Straftaten sei rechtsextrem motiviert gewesen. Das Dunkelfeld erhellt sich langsam – nicht zuletzt auch durch das Onlinemeldeportal. Der Dokumentationsstelle fehlt jedoch noch die nötige Bekanntheit.

In der Schweriner Synagoge hatten Kulturministerin Bettina Martin (SPD) und der Beauftragte für jüdisches Leben in Mecklenburg-Vorpommern und gegen Antisemitismus, Nikolaus Voss, bereits den ersten Jahresbericht der Dokumentations- und Informationsstelle Antisemitismus in Mecklenburg-Vorpommern, Dia MV, vorgestellt. Am Mittwoch wurde der umfassende Bericht über antisemitische Vorfälle in Mecklenburg-Vorpommern in der jüdischen Gemeinde in Rostock präsentiert.

Worum geht es in dem Jahresbericht?

Im vergangenen Jahr registrierte die Dia landesweit 36 antisemitische Vorfälle. Von diesen judenfeindlichen Vorfällen fiel der überwiegende Teil – 28 Fälle – in die Kategorie „verletzendes Verhalten“. Dabei handelt es sich laut Dia beispielsweise um Äußerungen bei öffentlichen Veranstaltungen, Schmierereien, Aufkleber oder anderen Formen der antisemitischen Propaganda. Sechs dieser Vorfälle waren adressierte Anfeindungen in Interaktionen, bei 22 handelte es sich um die Verbreitung antisemitischer Propaganda im öffentlichen Raum.

Außerdem gab es fünf gezielte Sachbeschädigungen, zwei körperliche Angriffe und eine Massenzuschrift, die die Dokumentationsstelle im vergangenen Jahr registrierte. Anlässlich der Vorstellung der Zahlen betonte Ministerin Martin: „Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Der nun vorliegende Jahresbericht zeigt, wie wichtig es ist, wachsam gegenüber Antisemitismus in allen Ausprägungen zu sein.“ Mit antisemitischen Schmierereien, Sprüchen und Bezeichnungen oder Verschwörungserzählungen, die unterhalb der strafrechtlichen Relevanz liegen, werde in Sozialen Medien oder im öffentlichen Raum dieses Gedankengut in der Gesellschaft verbreitet.

Mehrheit der Fälle rechtsextrem motiviert

Zwanzig der insgesamt 36 registrierten Fälle konnten laut der Meldestelle dem rechtsextremen Spektrum beziehungsweise einer höchstwahrscheinlich rechtsextremen Motivation zugeordnet werden. Ein Fall war islamistisch motiviert, in sechs Fällen war die Tat verschwörungsideologisch motiviert. Bei neun Fällen gab es keine ausreichenden Hinweise auf einen konkreten politischen Hintergrund.

Besonders im politischen Protestgeschehen um die Corona-Schutzmaßnahmen in MV gab es laut der Meldestelle von verschiedenen Protagonisten den Versuch, antisemitische Inhalte zu verbreiten. Trotz eines Rückgangs der Teilnehmer:innenzahlen im vergangenen Jahr sei davon auszugehen, dass in MV antisemitisches Potenzial auch bei künftigen, thematisch anders gelagerten Protesten abgerufen werden kann. So wurde bei einer Demonstration in Rostock beispielsweise ein Bild des jüdischen Philanthropen George Soros mit der Aufschrift „schuldig“ gezeigt. Weshalb Soros schuldig sein soll, liegt im Bereich der Spekulation.

Demos mit antisemitischem Potenzial

Dabei habe sich ein Mix aus Verschwörungsmythen und verfälschten geschichtlichen Darstellungen etabliert, der für verschiedene Formen des Antisemitismus anschlussfähig sei. Damit bestätige sich ein Trend, den die Dia seit Beginn der systematischen Beobachtung im zweiten Halbjahr 2021 feststellen konnte. Denn schon im ersten Jahr der Dokumentations- und Meldestelle wurden verschiedene antisemitische Haltungen auf den Protesten deutlich. Am ersten Weihnachtsfeiertag 2021 wurde beispielsweise an der Unimedizin Greifswald der Schriftzug „Der Jude ist ungeimpft“ beobachtet. Zudem kam es in Städten wie Wismar, Stralsund, Rostock und Wolgast zu Fällen, bei denen sich Demonstrationsteilnehmer:innen mit sogenannten Judensternen und der Aufschrift „ungeimpft“ selbst markierten – ohne augenscheinlichen Widerspruch von anderen Teilnehmer:innen. Sich selbst als Opfer darzustellen, verharmlose die antisemitische Verfolgungspolitik des Nationalsozialismus.

Methodische Einschränkungen sorgen für vergleichsweise niedrige Fallzahl

Es gebe in der Analyse der Daten aber auch methodische Einschränkungen, erklärt Ronny Rohde von der Dia MV. So werden etwa Hakenkreuze nicht per se als antisemitisch betrachtet, sondern nur, wenn es der Kontext mit sich bringe. Das liege daran, dass „Symbole und Referenzen mit NS-Bezug automatisch eine antisemitische Ebene haben“, diese aber nicht immer als ausschlaggebende Motivation herangezogen werden könne. So sei ein Hakenkreuz an der Wand einer Geflüchtetenunterkunft kein antisemitischer Vorfall, ein Hakenkreuz in der Nähe einer jüdischen Einrichtung dagegen sehr wohl.

Ebenso verhält es sich mit antisemitischen Schmähungen im Internet. Auch hier fließen nur Vorfälle in die Dia-Statistik ein, die konkret adressiert sind, sei es an eine Person oder Institution. „Diese Einschränkungen können ganz bestimmt noch verbessert werden“, meint Rohde. Sie seien jedoch notwendig, um die gesammelten Daten bundesweit vergleichbar zu machen.Die Zahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle ist in Mecklenburg-Vorpommern im Ländervergleich eher gering. Daran lasse sich jedoch nicht ablesen, dass Antisemitismus in MV kein Problem sei. Vielmehr gebe es im dünn besiedelten Land weniger Gelegenheitsstrukturen für potenzielle Täter:innen, weil jüdisches Leben im Alltag der meisten Menschen nicht sichtbar ist. Gleichzeitig fehle es an Sensibilität für das Thema, stellt Rohde fest. Oftmals würden antisemitische Vorfälle nicht als solche erkannt.

Meldeportal fehlt nötige Bekanntheit

Generell kann davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer deutlich über der Zahl der gemeldeten Taten liegt. Besonders in Fällen von beispielsweise antisemitischen Aufklebern werden längst nicht alle Vorkommnisse gemeldet oder erfasst.

Die lediglich zwei Mitarbeiter der Meldestelle machten zudem deutlich, dass die Aussagekraft dieses ersten Jahresberichts bezüglich der Zahlen noch eingeschränkt ist. Dies hänge vor allem damit zusammen, dass die Möglichkeit, antisemitische Vorfälle zu melden, bei den Betroffenen noch nicht genügend bekannt ist. Hinzu komme, dass Antisemitismus überhaupt erst erkannt werden müsse. Hier sehen die Verantwortlichen Bedarf in der Schul-, Hochschul und Erwachsenenbildung.Um das Dunkelfeld der Vorfälle antisemitischer Übergriffe in Mecklenburg-Vorpommern zu erhellen, können Betroffene oder Zeug:innen antisemitische Vorfälle niedrigschwellig über das Onlineformular der Dokumentationsstelle melden und somit zu einer Sichtbarmachung des Problems beitragen.

Autor:innen

  • Stralsund-Redakteurin

  • Freier Redakteur

    Ist KATAPULT MVs Inselprofi und nicht nur deshalb gern am Wasser. Nutzt in seinen Texten generisches Femininum.