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Schienenpolitik in Meck-Vorp

Hier fehlt nicht nur eine Brücke

Seit über siebzig Jahren rostet die ehemalige Hubbrücke Karnin vor sich hin. Würde die Eisenbahnbrücke wiederaufgebaut, könnte die Verbindung zwischen Berlin und Usedom künftig 90 Minuten schneller sein. Bis es so weit ist, bleibt die Brückenruine ein Symbol für das nicht eingelöste Versprechen der Verkehrswende.

Karl-Heinz Spiegl steht vor seiner kleinen Barkasse und lässt die Gäste einsteigen. Zur Feier des Tages hat er sein Boot mit bunten Fähnchen geschmückt. Er bringt die Besucher des Karniner Hafenfestes zu den Überresten der ehemaligen Hubbrücke zwischen Usedom und dem Festland. In der Mitte des Peenestroms legt er an und lässt die Leute aussteigen, damit sie die steilen, mit Möwendreck bekleckerten Leitern der Stahlkonstruktion hochklettern können. Auf 30 Metern Höhe schaut man über den Strom bis nach Peenemünde.

Hier, in der Mitte des Peenestroms, liegt die Hubbrücke wie ein gestrandetes Wrack. 1876 wurde die erste Eisenbahnbrücke gebaut, 1945 sprengte die Wehrmacht ihre Nachfolgerin. Würde hier eine neue Brücke errichtet, könnte sich die Fahrzeit zwischen Berlin und Usedom auf gut zwei Stunden verkürzen. 1941 waren es 3:15 Stunden, heute fährt der Zug einen Riesenumweg über Wolgast und den Inselnorden und braucht daher mit Glück 3:39, meist 3:50 Stunden ab Berlin-Hauptbahnhof. 

Die Usedomer Eisenbahnfreunde wollen die Karniner Hubbrücke wieder reaktivieren – als moderne Eisenbahnbrücke. Foto: Oliver Reimer

Sie ist ein Mahnmal, ein Erinnerungsgegenstand. Wenn man sie sieht, weiß man sofort, was hier fehlt.

Günther Jikeli, Usedomer Eisenbahnfreunde

Karl-Heinz Spiegl ist 81 Jahre alt und Mitglied der Usedomer Eisenbahnfreunde, die sich schon seit den Neunzigerjahren für einen Neubau der Brücke einsetzen. Spiegl kommt aus dem Dorf Anklamer Fähre am anderen Ufer des Peenestroms. Als die Wehrmacht am 28. April 1945 die Karniner Brücke und am selben Tag auch die Straßenbrücke bei Zecherin sprengte und SS-Soldaten den Hof seiner Eltern und anderer Bauern in Brand steckten, war er fünf Jahre alt. Das Brückenwrack in der Mitte des Stroms hat sein ganzes Leben begleitet. Als Jugendlicher segelte er mit Freunden zur Hubbrücke und kletterte bis ganz nach oben, damals galt das als Mutprobe. „Ich werde es wahrscheinlich nicht mehr erleben“, sagt er. „Aber ich bin trotzdem dafür, die Brücke wiederaufzubauen.“

Barkassenkapitän Karl-Heinz Spiegl kennt die Karniner Hubbrücke schon sein ganzes Leben lang. Foto: Anke Lübbert

Seit der Wende scheiterten diverse Anläufe, die Strecke zu reaktivieren. Jetzt gibt es wieder einmal Hoffnung: Zurzeit untersuchen Ingenieure auf Kosten des Landes den Zustand dessen, was noch von der Strecke übrig ist. Die Festigkeit des Bahndamms zum Beispiel. 2,8 Millionen Euro sind dafür in den Haushalt eingestellt, Anfang 2022 rechnet das Land mit den Ergebnissen der technischen und wirtschaftlichen Untersuchungen. „Ziel ist es, den Bund von der Wirtschaftlichkeit und Notwendigkeit der Wiederinbetriebnahme der Strecke zu überzeugen“, sagt eine Sprecherin des Verkehrsministeriums.

„Die Planung einer solchen Strecke dauert ein Jahr, der Bau nicht länger als vier Jahre. In fünf Jahren könnte der erste Zug fahren“, sagt Günther Jikeli. Er trägt einen Elbsegler und ein bunt kariertes Hemd, ist 76 Jahre alt und Sprecher der Usedomer Eisenbahnfreunde. Jikeli engagiert sich außerdem im Usedomer Heimatverein und ist Lokalpolitiker der SPD. Er hat viel zu tun an diesem Samstag, Hände schütteln, Fotos machen, Gespräche führen. Die Eisenbahnfreunde haben in Karnin ein Festzelt aufgebaut, Schlagermusik läuft, es gibt Bockwurst und Kuchen.

Jikeli sagt, dass es ihnen nie darum gegangen sei, den ursprünglichen Zustand der Brücke wiederherzustellen. „Wir sind in die Zukunft gewandt“, sagt er, „natürlich muss es eine moderne Brücke werden.“ Aber die alte Hubbrücke eigne sich als Symbol.

Und hier fehlt nicht nur eine Brücke. Der rostende Gigant, die Verlorenheit, mit der die Brücke da im Peenestrom steht, ist auch ein Symbol für die jahrzehntelange Vernachlässigung der Schiene gegenüber der Straße. Ein Symbol für viele Leerstellen, wenn es darum geht, in einem Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern Schienenverkehr zu gestalten.

Die Botschaft der Karniner Brücke ist hart: Schon in den 1930er-Jahren, vor fast einhundert Jahren, kam man mit der Bahn schneller auf die Insel als heute. Und im 21. Jahrhundert, in dem die Bewältigung des Klimawandels eine der drängendsten Aufgaben der Menschheit ist, ist es noch immer nicht gelungen, eine neue Brücke zu bauen.

Wenn Politiker zu erklären versuchen, warum die Brücke nicht schon längst wieder steht, verweisen sie meistens auf die Kosten des Projekts, die auf 150 Millionen Euro geschätzt werden. Den Großteil davon würde wohl der Bund tragen. Zum Vergleich: Die Ortsumgehung der Stadt Wolgast, die nötig ist, weil die Touristen eben nicht mit der langsamen Bahn, sondern mit dem Auto anreisen, wird voraussichtlich 140 Millionen Euro kosten. Und sie wird Usedoms Verkehrsprobleme nicht lösen.

Vor fast einem Jahrhundert kam man mit der Bahn schneller auf die Insel als heute

Über eine Million Touristen kam 2019 auf die Insel, die allermeisten aus den ostdeutschen Bundesländern, aus Richtung Berlin. Die Hälfte davon, schätzt Jikeli, würden mit der schnellen Verbindung über Karnin auf die Schiene umsteigen. Das ist nur eine Schätzung. Aber anders als eine Umgehungsstraße hätte die Brücke das Potenzial, Usedoms Verkehrsprobleme zu lösen – oder zumindest entscheidend zu mildern.

Andreas Geißler ist Referent für Verkehrspolitik bei „Allianz pro Schiene“, einem Bündnis, das sich für mehr Schienenverkehr in Deutschland einsetzt. Egal ob Bund oder Land, in den westdeutschen Verkehrsministerien, aber auch an den Hochschulen und in der Ausbildung von Verkehrsplanern hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Schule etabliert, die die Schiene konsequent vernachlässigt hat.

In Deutschland gibt es traditionell eine extreme Priorität der Straße.

Andreas Geißler, Referent für Verkehrspolitik bei „Allianz pro Schiene“

Auf Grundlage dieser westdeutschen Tradition machte man Verkehrspolitik, die in erster Linie Straßenpolitik meint, nach der Wende auch in Mecklenburg-Vorpommern. Während überall im Land Straßen neu und ausgebaut wurden, für 1,5 Milliarden Euro die A 20 geplant und errichtet wurde, wurde das Schienennetz immer stärker ausgedünnt. 440 Kilometer Strecke sind in MV seit 1994 für den Personenverkehr weggefallen, 300 Kilometer wurden komplett aufgegeben, also auch für den Güterverkehr. Im selben Zeitraum wurden gerade einmal 16 Kilometer für den Personenverkehr und 64 Kilometer für den Güterverkehr reaktiviert. Mecklenburg-Vorpommern ist kein Einzelfall. In allen ostdeutschen Bundesländern habe es nach der Wende einen massiven Aderlass gegeben, eine große Stilllegungswelle, sagt Andreas Geißler.

Erst in den letzten Jahren merke man, dass es verkehrspolitisch langsam in eine andere Richtung gehe. Geißler verweist auf die neuesten Zahlen von Allianz pro Schiene, die zeigen, dass Deutschland 2020 eine Rekordsumme, nämlich 88 Euro pro Einwohner, in das Schienennetz investiert hat. Das sind 16 Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Klingt super, aber gleichzeitig liegt Deutschland damit im europäischen Vergleich nach wie vor weit hinten. Hinter Italien, Großbritannien, den Niederlanden, allen nordeuropäischen Ländern und auch hinter Österreich und der Schweiz. Spitzenreiter ist Luxemburg, das kleine Land gab 2020 pro Einwohner 567 Euro aus.

„Es geht in die richtige Richtung. Aber viel zu langsam“, sagt Geißler. Schließlich müsse man im Verkehrsbereich endlich mit dem Klimaschutz vorankommen. Und schließlich veränderten sich parallel dazu die Mobilitätsgewohnheiten der Menschen mit. Er glaubt, dass das Auto viel von seiner Freiheitssymbolik verloren habe, und verweist auf die jährlichen Rekorde der Bahnen im Personenverkehr, die zwischen 2007 und 2019 ihre Fahrgastzahlen um 800 Millionen von 2,1 auf 2,9 Milliarden Fahrgäste steigern konnten.

Bewegung in Meck-Vorps Schienenpolitik: Darßbahn kommt zurück

Auch in Mecklenburg-Vorpommern ist in den vergangenen Jahren Bewegung in die Schienenpolitik gekommen. Nicht nur, dass das Land den Wiederaufbau der Karniner Brücke prüft, vor einem Jahr wurde auch die Wiedereinrichtung der Darßbahn beschlossen, mit der Einheimische und Urlauber künftig aus Richtung Velgast auf den Darß fahren können. Die Situation auf dem Darß erinnert in vielem an die auf Usedom: Beide ersticken in den Sommermonaten im Verkehr, auf beiden Inseln gibt es alte Eisenbahninfrastruktur und in beiden Fällen ist eine Brücke der teuerste Posten bei der Reaktivierung der Strecke.

Dass es derzeit so aussieht, als könnten die stillgelegten Strecken reaktiviert werden, liege auch an den bevorstehenden Wahlen, glaubt Marcel Drews, Sprecher der Initiative Pro Bahn Mecklenburg-Vorpommern. Er findet die Bahnpolitik der Landesregierung auf lange Sicht gesehen „eher unterdurchschnittlich“. Besonders ärgert ihn, dass die Landesregierung die sogenannten Regionalisierungsmittel, die der Bund den Ländern eigentlich für besseren Schienenregionalverkehr zur Verfügung stellt, umwidmet. Das Land Mecklenburg-Vorpommern fördere damit nicht wie eigentlich vorgesehen den regionalen Schienenverkehr, sondern reiche das Geld, immerhin 20 Millionen Euro, an die Kommunen weiter, die damit Schüler- und Azubitickets finanzieren. Auf das Problem angesprochen sagte eine Sprecherin des Verkehrsministeriums, man fordere wie viele andere Bundesländer eine Erhöhung der Regionalisierungsmittel, um den Regionalverkehr verbessern zu können.

Marcel Drews, Sprecher der Initiative Pro Bahn Mecklenburg-Vorpommern, ist von der Bahnpolitik der Landesregierung nicht überzeugt. Foto: Anke Lübbert

Bahnverbindungen in Meck-Vorp mangelhaft

Auch Marcel Drews ist zum Karniner Hafenfest gekommen. Er ist mehr als drei Jahrzehnte jünger als Jikeli, aber mit den Eisenbahnfreunden verbindet ihn die Begeisterung für das Karniner Brückenprojekt. Er hat eine lange Mängelliste im Kopf, wenn er ans Bahnfahren in Mecklenburg-Vorpommern denkt. Neubrandenburg zum Beispiel, drittgrößte Stadt des Landes, ist nicht an den Fernverkehr angeschlossen. Man kommt zwar nach Berlin, aber nur im Regionalexpress. Immerhin stündlich und mit jedem zweiten Zug ohne umzusteigen, was man nicht von allen Verbindungen im Land sagen kann. Von der Mecklenburgischen Seenplatte aus fehle eine Verbindung in die Prignitz und in Richtung nördliches Sachsen-Anhalt völlig. Besonders aber treibt Marcel Drews um, dass die sogenannte Südbahn, eine Ost-West-Verbindung zwischen Parchim und Malchow, vom Land „abbestellt“, also geschlossen wurde. Nach Protesten hat das Land einen halben Rückzieher gemacht. Vorerst fährt die Südbahn wieder. Aber nur noch am Wochenende und auch nur in den Sommermonaten.

Andreas Geißler von Allianz pro Schiene sagt, dass es ein häufiger Fehler sei, auf die schlechte Performance einer Strecke mit einer weiteren Verschlechterung des Angebots zu reagieren. Stattdessen müsse man mit einem, wie er sagt, „besseren Mobilitätsangebot“ dagegensteuern. Eine höhere statt eine niedrigere Taktfrequenz, dazu modernere Wagen und mehr Komfort. Ein Leuchtturmbeispiel sei die Usedomer Bäderbahn, die nach der Wende kurz davorstand, stillgelegt zu werden. Die wenigen Fahrgäste, die es auf sich nahmen, mit den alten Wagen und der umständlichen Verbindung auf die Insel zu kommen, mussten in Wolgast aussteigen, zu Fuß über die Brücke gehen und auf der anderen Seite wieder einsteigen. „Die Fahrgastzahlen sind dann mit der neuen Usedomer Bäderbahn geradezu explodiert“, sagt er. Käme jetzt noch die Karniner Brücke hinzu, wäre Usedom, schienentechnisch gesehen, eine Vorzeigeregion.

Die Usedomer Eisenbahnfreunde feiern hier jährlich das Karniner Brückenfest – inklusive Brückenbesichtigung mit der Barkasse von Karl-Heinz Spiegl. Foto: Oliver Reimer

Gegner des Projekts zu finden, ist gar nicht so leicht

Die parteilose Bürgermeisterin von Heringsdorf, Laura Isabelle Marisken, gehört wie so gut wie alle anderen Politiker der Insel zu den Befürworterinnen des Projekts. „Wir begrüßen das sehr“, sagt sie, „wir sind dankbar für jedes Auto, das nicht auf die Insel kommt.“ Sie sagt, sie würde sich freuen, wenn die Gemeinde Ostseebad Heringsdorf einen Bahnhof mit Fernbahnanschluss gestalten könnte. Sie denkt an Ladestationen für E-Bikes und ein Fahrradparkhaus für zusätzliche Berliner Tagesausflügler, die sich bei einer zweistündigen Fahrzeit vielleicht nach Feierabend noch auf den Weg an die Küste machen würden. Neben dem Verkehrsproblem könnte die Bahnverbindung noch ein weiteres von Usedoms Problemen lösen. Denn auf der Insel fehlen Fachkräfte, in der Gastronomie und im Hotelgewerbe. Seit Corona noch mehr als zuvor. In und um Anklam und Pasewalk aber ist die Arbeitslosigkeit immer noch hoch. Gäbe es eine schnelle Bahnverbindung, Züge, die auch spät am Abend und früh am Morgen fahren, dann könnten die Arbeitskräfte per Bahn über die Karniner Brücke anreisen.

Gegner des Projekts zu finden, ist gar nicht so leicht. Einer, der sich immer wieder kritisch äußert, ist Eckhardt Rehberg, Bundestagsabgeordneter der CDU. Er glaube nicht, dass die Strecke wirtschaftlich zu betreiben sei, das würden vermutlich auch die Ergebnisse der Untersuchungen der Landesregierung zeigen. „Ich vertrete außerdem die Bürger Mecklenburg-Vorpommerns und nicht die Polens“, sagt er. Die Reaktivierung der Eisenbahnverbindung würde den Swinemünder Containerhafen weiter pushen, den von Rostock schwächen. Er befürchtet, dass bei einer Anbindung an Swinemünde ein Teil des in Swinemünde angelandeten Containerverkehrs auf die Schiene umgeladen und über den gerade im Bau befindlichen Swinetunnel und die Karniner Verbindung in den Westen transportiert werden könnte.

Günther Jikeli von den Usedomer Eisenbahnfreunden hofft auf eine schnelle Reaktivierung der Karniner Hubbrücke. Foto: Anke Lübbert

Ob aber Swinemünde überhaupt an die Eisenbahnstrecke angebunden werden würde, steht ebenso wenig fest wie andere Detailfragen der Trassenführung und Ausstattung der Strecke. Günther Jikeli, der Sprecher der Usedomer Eisenbahnfreunde, findet Rehbergs Argumentation so oder so nicht überzeugend. „Entweder wir machen die Europäische Union oder nicht“, sagt er, „sonst können wir auch gleich wieder anfangen, Krieg gegeneinander zu führen. Wir können den Polen nicht verbieten, einen Tunnel zu bauen und einen Containerhafen zu betreiben. Wenn aber mehr Verkehr über die Schiene statt über die Straße transportiert wird, ist das doch in unser aller Sinn.“ Jikeli geht davon aus, dass die alte, neue Strecke auch nach Swinemünde führt.

Katarzyna Rówińska ist Leiterin des Service- und Beratungszentrums der Euroregion Pomerania in Swinemünde. Swinemünde ist der größte Ort Usedoms, die einzige Stadt auf der Insel. Der Großteil der Gäste dort kommt aus Deutschland. „Ich sehe nur Vorteile“, sagt sie, „für die Touristen, die Entlastung der Straßen, aber auch für uns Einwohnerinnen.“ Von Swinemünde braucht man nach Warschau zehn Stunden, wenn man in zwei Stunden nach Berlin kommen könnte, würde das die Lebensqualität steigern. „Viele Swinemünder fahren gerne nach Berlin, um ins Kino zu gehen, ins Theater, einzukaufen, oder um den Berliner Flughafen zu nutzen.“

Derzeit rechne man mit einer Verkürzung der Fahrzeit um rund 90 Minuten auf etwa 2:09 Stunden, sagt ein Bahnsprecher. Wie schnell der Zug genau sein wird, wie attraktiv die Verbindung, hänge aber von vielen Faktoren ab. Wie gut wird die Strecke ausgebaut, wie schnell können die Züge fahren? Wie ist die Taktung?

Schienenpolitik ist auch deshalb so kompliziert, weil es so viele unterschiedliche Akteure gibt. Die Kommunen sind für den ÖPNV zuständig, die Länder für den Schienennahverkehr, der Bund für die Infrastruktur und den Fernverkehr. Bundesweit gibt es das Ziel, bis 2030 die Fahrgastzahlen zu verdoppeln, das soll unter anderem mit dem Konzept „Deutschlandtakt“ erreicht werden. „Schneller, öfter, überall“ sei die Idee hinter dem Deutschlandtakt, sagt Andreas Geißler von Allianz pro Schiene. Besser und abgestimmter solle der Fahrplan sein, ein logistisches Meisterwerk, das Schienenverkehr nicht nur zwischen den großen Städten, sondern überall in Deutschland attraktiver, die Bahn zum „Verkehrsmittel der Zukunft“ machen soll. 

Für Mecklenburg-Vorpommern hat der Zukunftsrat MV im vergangenen Frühjahr die „Schaffung eines kostengünstigen und preisstabilen Nahverkehrs vor allem im ländlichen Raum – durch ein jährliches 365-Euro-Ticket sowie kostenloses ÖPNV-Ticket für Kinder und Jugendliche“ empfohlen. Umsetzen will die Landesregierung das nicht. Das 365-Euro-Ticket sei einfach zu teuer, der kostenlose ÖPNV konkurriere mit anderen Leistungen für Familien und Kinder.

Leidenschaftliches Engagement sieht anders aus

Es ist schwer zu messen, wie gut die Schienenpolitik eines Landes ist. Aber leidenschaftliches Engagement für den Schienenverkehr sieht anders aus. Zumal es Länder wie Baden-Württemberg gibt, die im Bundesvergleich geradezu als Streber dastehen. Baden-Württemberg führt nicht nur bei den bisher reaktivierten Strecken, die Verkehrsplanerinnen dort haben auch bereits lange Listen an Strecken erstellt, die elektrifiziert werden sollen, und andere Strecken beim Bund für die Aktivierung vorgeschlagen. Das sind wichtige Vorleistungen, denn der Bund vergibt Mittel für genau solche Projekte. Warum existieren solche Listen in Mecklenburg-Vorpommern bisher nicht? Eine Sprecherin des Landesverkehrsministeriums verweist auf den entscheidenden Unterschied zwischen dem Südwesten und Nordosten: die Einwohnerdichte und die damit verbundene Streckenauslastung. Sie weist auch darauf hin, dass in MV „Strecken mit Nutzerzahlen aufrechterhalten wurden, die in anderen Ländern längst gestrichen worden wären“.

Große Sprünge, das ist vielleicht das Fazit aus dem Ministerium, seien in der Schienenpolitik nur möglich, wenn der Bund mehr Geld zur Verfügung stelle. Aber immerhin: „Höchste Priorität“ für die Landesregierung hätten die Leuchtturmprojekte in touristisch interessanten Gebieten. Die Darßbahn. Und die Usedomer Südanbindung mit der Karniner Brücke. Übersetzt heißt das: Es gibt Hoffnung für Günther Jikeli und die Eisenbahnfreunde auf Usedom.

Mitten im Peenestrom: Die Reste der Karniner Hubbrücke sind ein beliebtes Fotomotiv. Foto: Oliver Reimer

Im September wird in Mecklenburg-Vorpommern der siebte Landtag seit Gründung des Vereins vor 29 Jahren gewählt. Günther Jikeli hat viele Verkehrspolitiker kommen und gehen sehen. Die Brücke rostet noch immer im Peenestrom. Woher nimmt er sein Durchhaltevermögen? „Die Pommern sind eben so“, sagt er. Aber wie bei dem Barkassenkapitän Karl-Heinz Spiegl hat sein unermüdliches Engagement sicher auch etwas mit seiner eigenen Geschichte zu tun. Wenige Tage vor der Sprengung der Brücke ist Jikeli als Baby hier über den Peenestrom gefahren. Das erste und einzige Mal. Sein Großvater betrieb damals auf Usedom eine Gärtnerei. Deren Geschäftsmodell beruhte darauf, das Gemüse mit der Bahn nach Swinemünde zu transportieren. Weil Swinemünde als Absatzmarkt und die Bahn als Transportmittel wegfielen, musste er die Gärtnerei bald nach dem Krieg schließen.

Jikelis Familie ging in den Westen. Und Günther Jikeli kehrte erst nach der Wende zurück. Da stand die alte Hubbrücke im Peenestrom wie an dem Tag, als er Usedom verlassen hatte. Seither hofft Jikeli darauf, dass die gesamte Brücke wiederaufgebaut wird. Zur Zeit ist die Hoffnung wieder einmal sehr groß. Und wenn die Brücke dann steht? „Für die Party fällt uns dann schon etwas ein“, sagt er. Er würde gerne im ersten Zug sitzen, der den Strom überquert. Mit Karl-Heinz Spiegl. Und den anderen Eisenbahnfreunden.

Quellen

  1. Usedom Tourismus GmbH: Usedom in Zahlen und Fakten, auf: usedom.de (9.8.2021)
  2. Allianz pro Schiene: Deutschland bei Schiene auf Rekordkurs – international aber nicht einmal Mittelmaß, auf: allianz-pro-schiene.de (9.8.2021)
  3. Statista: Anzahl der beförderten Passagiere deutscher Eisenbahnen im Personenverkehr von 2007 bis 2020, auf: statista.com (9.8.2021)
  4. Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern: Zukunftsbilder und ein Zukunftsprogramm des Zukunftsrats MV für die Jahre 2021 bis 2030, auf: regierung-mv.de (9.8.2021)

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