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Häusliche Gewalt

Interventionsstelle stellt Kinder- und Jugendberatung in Rostock ein

Die Zahl der Beratungen von Betroffenen häuslicher Gewalt und Stalking steigt in MV seit Jahren. Allein die Interventionsstelle Rostock vermeldet eine Verdopplung in den vergangenen zehn. Die wachsende Zahl Betroffener steht jedoch einer gleichbleibenden Personaldecke bei den Berater:innen gegenüber. Nachdem aus dem Hilfenetz in den vergangenen zwei Jahren immer wieder auf die Überlastung hingewiesen wurde, zieht der Trägerverein der Interventionsstelle Rostock nun Konsequenzen. Seit Jahresbeginn gibt es keine Beratung mehr für von Gewalt mitbetroffene Kinder und Jugendliche.
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Kindern und Jugendlichen eine Ansprechperson bieten, mit der sie über die miterlebte häusliche Gewalt bei sich zuhause sprechen können, ihren Sorgen und Gefühlen einen sicheren Rahmen und Hilfe zur Verarbeitung geben – das war bisher Teil des Beratungsangebots der Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt und Stalking in Rostock. Dafür war eine eigene Kinder- und Jugendberaterin zuständig.1 Für die Stadt und den Landkreis Rostock hat der Träger der Interventionsstelle – der Verein Stark machen – diese Beratung nun zu Jahresbeginn eingestellt.2

Mangelnde personelle Ausstattung der Interventionsstellen

Die Entscheidung sei im November 2024 getroffen worden, heißt es auf Nachfrage aus der Interventionsstelle. Und sie kommt, mit Blick auf die Situation des Hilfenetzes in MV, nicht überraschend. Der Grund, den Verein und Interventionsstelle für diese „drastische Maßnahme“ anführen, sind die mit Blick auf die Fallzahlen im Bereich der häuslichen Gewalt nicht ausreichenden personellen Kapazitäten in der Beratung von Erwachsenen. Die Interventionsstelle in Rostock ist seit Jahren mit zwei Berater:innen für erwachsene Betroffene und einer Kinder- und Jugendberaterin besetzt. Die Berater:innen teilen sich untereinander 2,85 Stellen auf.

Diesen drei Berater:innen steht die zu bewältigende Fallzahl im eigenen Einzugsgebiet gegenüber. Mussten in der Stadt und dem Landkreis Rostock 2020 noch 545 Fälle betreut werden, waren es im vergangenen Jahr 838 – eine Steigerung von mehr als 30 Prozent innerhalb von vier Jahren. Aus Sicht der Interventionsstelle Rostock stellt die Begleitung und Unterstützung von etwa 420 Menschen für das Team „eine absolute Obergrenze dar“. Dann dürfe jedoch auch niemand ausfallen. Mit Blick auf die aktuelle Zahl an Beratungen bräuchte es doppelt so viel Personal, um dem gerecht zu werden.

Zur Personallage in den Beratungsstellen für Betroffene sexualisierter Gewalt in MV hier weiterlesen.

Dass nicht allein die Interventionsstelle in Rostock von dem Problem betroffen ist, zeigen die Beratungszahlen aus anderen Landesteilen eindrücklich. So war die Interventionsstelle in Schwerin, zu deren Einzugsgebiet neben der Stadt auch die Landkreise Ludwigslust-Parchim und Nordwestmecklenburg zählen, 2020 mit 667 Betroffenen konfrontiert. 2024 stehen an gleicher Stelle 1.116 Fälle.

Die Grafik zeigt ein Säulendiagramm, welches die Fallzahlen zum Thema häusliche Gewalt je Interventionsstelle in MV in den vergangenen vier Jahren darstellt.

Bisher keine zusätzlichen Mittel vom Land

Wie das alles mit unveränderter Personalausstattung zu stemmen sein soll, diese Frage warfen die Interventionsstellen bereits 2023 auf. Beispielsweise im Zuge der Haushaltsdebatte. Damald wiesen die Träger darauf hin, dass die Betreuung der steigenden Zahl an Betroffenen bei gleichbleibender Personaldecke immer schwieriger werde. Sollte die Entwicklung weiter so anhalten, sei es womöglich bald ein Ding der Unmöglichkeit. Deutlich kritisiert wurde ebenfalls, dass dieser Situation im Haushalt des Landes nicht Rechnung getragen wurde. Eine bessere personelle Aufstellung der Interventionsstellen durch mehr finanzielle Unterstützung des Landes war also nicht eingeplant.3

Der Trägerverein Stark machen habe versucht, durch mehrfache mündliche Ansprache und durch schriftliche Überlastungsanzeigen weiterhin auf die Lage aufmerksam zu machen, die Politik zu sensibilisieren und den personellen Mehrbedarf anzumahnen, schreibt die Interventionsstelle. Dabei standen nicht nur die von häuslicher Gewalt betroffenen (zumeist) Frauen im Fokus. Es ging dem Verein auch um den Schutz der eigenen Mitarbeiterinnen, die sich durch die Personalsituation einem „enormen Druck“ ausgesetzt sehen.4

Dass die Mittel für die Interventionsstellen auch für den nächsten, jetzt aktuellen Landeshaushalt 2024/25 nicht stiegen, wurde spätestens Anfang 2024 klar. Bereits 2023 verwies die zuständige Justizministerin Jacqueline Bernhardt (Linke) auf die noch ausstehende Evaluation des Hilfenetzes und begründete so die Untätigkeit der Landesregierung. Auch Landesfinanzminister Heiko Geue (SPD) nutzte dieses Argument bei einer Veranstaltung im Januar 2024 – wohlgemerkt nach Beschluss des Haushalts. Dass jedoch auch zwischen den Haushaltsbeschlüssen die Möglichkeit bestehe, Gelder freizugeben, versicherte Geue weiter.

Warten auf das Geld vom Bund

Die Evaluation liegt mittlerweile seit April 2024 vor. Dass dort von personellen wie auch finanzielle Lücken bei Beratungsstellen und Frauenhäusern die Rede war, kam für die Verantwortlichen im Hilfenetz nicht überraschend. Seitdem hat sich nichts an ihrer Situation verändert – trotz erneuter Ansprachen bis an die Spitze der Landesregierung.

Stark machen zog nun mit der Einstellung des Beratungsangebots für Kinder und Jugendliche in Rostock Konsequenzen. Der Verein betont, dass es im Vorfeld der Entscheidung sowohl mit der Polizei als auch dem Justizministerium einen intensiven Austausch dazu gegeben hätte, wie der Arbeitsauftrag – Gewaltbetroffene nach einem Polizeieinsatz bestmöglich zu unterstützen – unter den gegebenen Umständen weiter erfüllt werden könne. Nun erstmal zu Lasten mitbetroffener Kinder und Jugendlicher. Somit gibt es in MV nur noch in Stralsund und Neubrandenburg Beratungen extra für diese Gruppe, betont der Verein. Denn während in Anklam/Wolgast die entsprechende Stelle mangels qualifizierter Bewerber:innen unbesetzt ist, wurde die Stelle in Schwerin bereits im vergangenen Jahr der Erwachsenenberatung zugeordnet. Ebenfalls aufgrund des hohen Fallaufkommens.

Im November 2024 kündigte die Awo Schwerin aus ähnlichen Gründen die Schließung ihrer Beratungsstelle für Betroffene häuslicher Gewalt in Grevesmühlen an. Hier weiterlesen.

Im Justizministerium sei man sich der Situation der Beratungsstellen bewusst, schreibt der zuständige Pressesprecher auf Nachfrage. Das Ministerium führe derzeit Gespräche, „um eine Lösung zu erzielen“. Die Einstellung des Angebots in Rostock soll jedoch nur einen vorübergehenden „Sonderweg“ darstellen, heißt es weiter. Darüber hinaus werde derzeit an einer Landesstrategie zur Umsetzung der sogenannten Istanbul-Konvention zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen gearbeitet. Auch hier gehe es darum, Bedarfe im Hilfenetz abzufragen. Geld erhofft sich das Land zudem ab 2027 vom Bund. Aufgrund des im Februar in Kraft getretenen Gewalthilfegesetzes soll sich dieser dann „an den Kosten des spezialisierten Hilfe- und Unterstützungssystems“ beteiligen.5

Dass die Einstellung des Angebots vorübergehend ist, hofft auch Stark machen. Immerhin bedeute jeder Tag ohne, dass „die betroffenen Kinder in der Region Rostock keine spezialisierte Hilfe“ erhalten, „um die schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten“. Wann die Beratung wieder eingesetzt werden kann, hängt allerdings weiterhin am Geld, wie die Vereinsvorsitzende Ulrike Bartel mitteilt. Sobald das Land eine Förderung für weitere Personalstellen zusage, könne die Arbeit wieder aufgenommen werden. Das kann, aufgrund der fehlenden Mittel im aktuellen Haushalt, frühestens 2026 der Fall sein. Oder erst 2027, wenn – wie das Land selbst andeutet – Geld für die Hilfe Betroffener vom Bund kommt.6

    1. E-Mail der Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt und Stalking Rostock vom 12.3.2025. ↩︎
    2. Stark machen (Hg.): Kinder- und Jugendberatung eingestellt, auf: stark-machen.de (6.3.2025). ↩︎
    3. Hansen, Anna: Interventionsstellen vor dem Kollaps, auf: katapult-mv.de (24.11.2023). ↩︎
    4. Hanse, Anna; Blöß, Louise; Flägel, Victoria: Keine zusätzliche Unterstützung für Interventionsstellen, auf: katapult-mv.de (14.2.2024). ↩︎
    5. E-Mail des Ministerium für Justiz, Gleichstellung und Verbraucherschutz MV vom 12.3.2025. ↩︎
    6. E-Mail von Stark machen vom 14.3.2025. ↩︎

    Autor:in

    • Redakteurin und Betriebsrätin in Greifswald

      Geboren in Berlin, aufgewachsen in Berlin und Brandenburg. Tauschte zum Studieren freiwillig Metropole gegen Metropölchen.

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