Interview

„Jamel hat mit uns allen zu tun“

Seit 2015 begleitet Regisseur Martin Groß das Festival „Jamel rockt den Förster“ im gleichnamigen Dorf. Während in den vergangenen Jahren jeweils kleine Festivalfilme entstanden, hat Groß 2024 eine ganze Dokumentation gedreht. „Jamel – Lauter Widerstand“ wirft den Blick zurück, folgt aber auch den Initiator:innen Birgit und Horst Lohmeyer bei der Vorbereitung des diesjährigen Festivals. Mit KATAPULT MV sprach der Regisseur über den Anlass des Films, seine Erfahrungen während des Drehs und die Frage, inwiefern Jamel mit uns allen zu tun hat.

KATAPULT MV: Lassen Sie uns mit einer ketzerischen Frage beginnen. Warum…
Martin Groß: Warum noch ein Film über Jamel?

Ganz genau.
Es gibt natürlich schon einiges, da haben Sie Recht. Aber es gibt keinen Dokumentarfilm, der alles komplett erzählt.
Ich bin seit 2015 beim Festival dabei. Und es war immer der Moment, wieder vom Festival wegzufahren, der mich total interessiert hat. Was passiert eigentlich so im Laufe des Jahres? Anfang 2024 hatte ich dann das Gefühl – als es mit den Recherchen zu Deportationen (die Correctiv-Recherche zum Geheimplantreffen in Potsdam, Anm. d. Red.) losging, es die großen Demonstrationen gab und sich auch in Jamel eine Bedrohung des Festivals abzeichnete1 –, dass jetzt der richtige Moment gekommen ist, so einen Film zu machen.

Wie ist denn 2015 der Kontakt zu Birgit und Horst Lohmeyer zustande gekommen?
Ich hatte das Festival schon vorher beobachtet, war aber noch nicht dort gewesen. 2015 habe ich dann von dem Scheunenbrand gelesen. Als Filmemacher beschäftige ich mich ziemlich viel mit Musik und gerne auch mit Themen, die über die Musik hinaus noch weitere Dimensionen entfalten. Daher hat es mich gleich wahnsinnig interessiert, was das für ein Festival ist. Und dieser Scheunenbrand war dann der Moment dort anzurufen, mich vorzustellen und zu sagen, dass ich Lust hätte, auf eigene Faust einen kleinen Kurzfilm über das Festival zu machen.

Und die Reaktion damals?
Die waren noch sichtbar unter Schock und ich glaube, die haben allen möglichen Leuten einfach gesagt: „Ja, macht was ihr wollt.“ So auch mir. Nach dem ersten Mal wollte ich dabei bleiben. Es hat mich interessiert, welche Bands jedes Jahr kommen und aus welchen Gründen sie unterstützen wollen. Dann habe ich diese jährlichen Kurzfilme gemacht.

Es sind jetzt neun Jahre, die Sie die Lohmeyers kennen. Wie haben Sie die beiden in ihrem Engagement, aber auch persönlich erlebt?
Ich finde das natürlich sehr beeindruckend, was sie machen. Dass sie dieses Festival auf die Beine gestellt haben, was in den ersten Jahren noch sehr klein war. Dass Musik als Mittel genutzt wurde, sich zu äußern und dass sie überhaupt entschieden haben, sich äußern zu wollen und sich nicht nur zu arrangieren. Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach einem schönen Umfeld, in dem man lebt, nach einem Miteinander und wohl eher nicht nach ständigem Konflikt. Dass sie dieses Bedürfnis nach hinten gestellt haben, das finde ich ziemlich beachtlich.

Es hat mich auch interessiert, wie das dort in der Gesamtgemeinde ist. Jamel selber ist ja ganz klein. Aber wie die Kommunalwahl gezeigt hat, gibt es einen Rückhalt innerhalb der Gesamtgemeinde für das, was in Jamel passiert. Sonst hätte Sven Krüger nicht die meisten Stimmen von allen Kandidaten eingesammelt.

Im Film kommen abseits der Künstler:innen noch andere Akteure zu Wort. Welche Überlegungen gab es da bei Ihnen, wer zum Film etwas beitragen könnte?
Mir war wichtig, ein möglichst breites Bild herzustellen. Auch von den Menschen, die sich dort engagieren. Das sind auch die Künstler:innen und die Bands. Aber mir war schon wichtig, dass es nicht nur um Jamel geht, dieses 38-Menschen-Dorf. Es ist ein bundesweites Problem unter einem Brennglas. Die Fragen, die sich im Film auftun, die muss man sich schon stellen, auch wenn man woanders lebt und vielleicht nicht in so einer völkischen Siedlung – wobei es davon deutschlandweit durchaus noch mehr gibt.2 Insofern hat das bei der Auswahl der Leute eine Rolle gespielt. Daniel Trepsdorf3 zum Beispiel, der rechtsextreme Strategien einordnen kann oder auch das Gespräch mit Claudia Roth4, die eingeordnet hat, was ein Gedicht von Ursula Haverbeck5 bedeutet, das in Jamel in einem Schaukasten hängt.

Sie haben auch versucht, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die eindeutig einer anderen Ideologie nachhängen, Sven Krüger zum Beispiel. Wieso haben Sie das für notwendig gehalten und wie haben Sie solche Momente erlebt?
Das ist eine schwierige Frage. An welchem Punkt macht es Sinn, auch diese Positionen zu erzählen und an welchem Punkt ist es „nur“ eine Plattform, die man bietet, die man vielleicht nicht bieten möchte. Aber ein wirklich ehrliches Gespräch mit den Rechtsextremen hätte ich sehr gerne geführt.

Die Frage stellte sich dann aber gar nicht, weil niemand mit uns reden wollte. Wir haben sogar noch schriftliche Fragen geschickt. Die wurden aber auch nicht beantwortet. Obwohl, eine Antwort gab es und die lautete, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk sowieso nur eine Position vertrete und insofern würde es keinen Sinn machen, mit uns zu sprechen.

Ich hätte auch sehr gerne mit anderen Menschen aus Jamel geredet, die sich selber als neutral bezeichnen. Kann man sich neutral verhalten in so einem Dorf? Und wenn ja, wie? Und: Warum tut man das überhaupt? Auch die Ablehnung, die die Lohmeyers erfahren – auch von solchen Leuten – wäre ein Thema gewesen. Die hat man immer gespürt. Aber es wollte auch hier keiner, den ich aus dem Ort angesprochen habe oder auch andere Menschen aus der Region, mit uns reden.

Warum wollten die Leute nicht mit Ihnen sprechen?
Da kann ich nur mutmaßen. Und ich habe natürlich auch nicht jede Person aus der Region gefragt. Ich könnte mir vorstellen, dass es verschiedene Gründe gibt. Manche haben vielleicht Angst, sich zu äußern. Andere sagen, dass die Region durch die Lohmeyers quasi immer in die Aufmerksamkeit gezogen wird. Die Lohmeyers sind diejenigen, die den Finger in die Wunde legen. Ich glaube, das gefällt vielen nicht, weil das Dorf dann wieder das Nazi-Dorf ist. Wobei das eine Verkehrung der Tatsachen ist. Die Lohmeyers machen ja nur darauf aufmerksam, dass es so ist.
Und dann ist es vielleicht auch noch ein Ost-West-Ding. A la: Hier kommen die Wessis und denken dann, sie könnten alles umkrempeln. Das kann ich mir durchaus auch vorstellen. Also sicherlich sehr vielschichtige Gründe.

Im Film sieht man Bilder aus Demmin vom 8. Mai. Sie waren mit den Lohmeyers aber auch bei einer Veranstaltung in Grevesmühlen. Welche Eindrücke konnten Sie da außerhalb des Jamel-Kontextes gewinnen?
In Grevesmühlen fand ich es sehr mutig und beachtlich, dass sich viele Leute dort gegen Rechts engagieren. Im Film sagt die Organisatorin der Demonstration, sie kriege auch Morddrohungen, werde bespuckt und bepöbelt. Dass man unter einem hohen persönlichen Einsatz sein Engagement leistet, das ist eigentlich erschreckend. Dass es nur weil man queer ist oder ein bestimmtes Äußeres hat ungemütlich oder sogar gefährlich wird, das finde ich ganz schön beängstigend. Umso schöner und toller, dass es Leute gibt, die sich engagieren. Das finde ich auf jeden Fall inspirierend.

Und in Demmin?
Das Gegenteil. Ich habe zum ersten Mal so eine große Menge von Neonazis auf einem Fleck gesehen. Und die haben sich da auch ganz wohlgefühlt. Sie haben sich sehr zahm gegeben. Das wurde sogar vorher durchgesagt: Nicht schreien, nicht laut sein und so weiter. Sie geben sich anschlussfähig. Und das klappt. Von den Leuten, die am Rand standen, wollte niemand vor der Kamera sprechen. Aber ich habe mit mehreren ohne Kamera geredet. Und die haben sowas gesagt wie: Die benehmen sich doch hier. Und da drüben, die Demonstranten (die Gegendemonstrant:innen, Anm. d. Red.), die sind laut und schreien rum. Da sind uns doch die lieber, die hier ruhig und geordnet einmal durch den Ort laufen. Die Strategie scheint also zu funktionieren.

Dieser Grundtenor war schon oft spürbar. Auch bei Sven Krüger: der hilft und der spendet auch mal was fürs Sportfest oder so. Das ist schon öfter zwischen den Zeilen zu hören gewesen.

Zurück nach Jamel und zum Festival: Mir ist im Film aufgefallen, dass immer wieder das Gefühl beschrieben wird, nach Jamel zu fahren. Gibt es einen Unterschied in Jamel mit dem Festival oder in Jamel ohne das Festival zu sein?
Ja, da ist ein dramatischer Unterschied. Eine der spannendsten Aspekte daran ist sicher dieser Switch der Mehrheitsverhältnisse. Die Lohmeyers sind da die meiste Zeit des Jahres allein. Und dann wechselt das zu diesem Festivalwochenende ins andere Extrem – die größten Musiker:innen des Landes und viele Unterstützer und Besucher kommen. Und dann fahren aber eben alle auch wieder weg.
Als ich dann das erste Mal wieder weggefahren bin, hatte ich auch diesen Kloß im Hals. Da kam laute rechtsradikale Musik von einem der Höfe und das war ein klares Symbol, dass das Dorf aus deren Sicht jetzt wieder anderen gehört. Schon ein seltsames Gefühl, muss ich sagen.

Der Film zeigt viele Luftaufnahmen von der Landschaft, der Umgebung des Dorfes, Wäldern, Feldern und Wasser. Welche Absicht stand dahinter, solche Bilder zu verwenden?
Die Lohmeyers sind da ja hingezogen, weil sie aus der Großstadt raus und weil sie ein ruhiges Leben führen wollten. In einer schönen Landschaft. Und die ist dort vorhanden. Das wollte ich zeigen. Dass man versteht, warum sie dorthin wollten.

Gibt es Momente im Film, die für Sie besonders sind?
Ja, da gibt es viele Momente. Das sind zum Beispiel musikalische Stellen oder auch der Blick auf die ersten Jahre, in denen das Festival groß wurde, die ich kraftvoll finde. Wo sich diese Solidarität entfaltet hat, die Toten Hosen als erste große Band kamen oder die Ärzte nur dieses eine Lied (Schrei nach Liebe, Anm. d. Red.) spielen.
Dann gibt es aber genauso Momente, wo ich manchmal ganz gern Vorgespult habe: der „Deutschland den Deutschen“-Gesang – das kann ich nicht mehr hören und finde es immer wieder sehr unangenehm. Genauso geht es mir mit der Demo in Demmin. Es gibt also auch sehr unangenehme Momente, die ich mir jetzt nicht „gerne“ angucke, die aber auch zum Gesamtbild dazugehören.

Über die Jahre hat sich wahrscheinlich so einiges verändert. Auf Seite der Rechtsextremen und ihrem Umgang mit dem Festival, nehme ich an.
Die Strategie der Rechtsextremen hat sich gewandelt. Während es früher um, ich nenne es mal eine direkte gewalttätige Atmosphäre oder Ausstrahlung ging, gibt es jetzt die Versuche, auch in die Institutionen reinzukommen: Sven Krügers Kandidatur für den Gemeinderat oder der Versuch, das Festival auf juristischem Wege zu verhindern. Das sind Erweiterungen der Strategie auf rechtsextremer Seite, würde ich sagen. Es wird nicht nur auf Einschüchterung gesetzt, sondern auch versucht, sich in die Demokratie reinzunisten und von dort aus die Entscheidungen in ihre Richtung zu beeinflussen.

Ich nehme auch wahr, dass es eine ganz andere gesellschaftliche Relevanz gibt. Als ich 2015 das erste Mal da war, war Jamel im öffentlichen Bewusstsein zwar dieses Dorf mit ein paar Neonazis, aber die Frage „Was hat das jetzt mit mir zu tun?“ stand auch noch mit im Raum. Das hat sich ganz heftig verändert. Dadurch, dass es in manchen Regionen jetzt 30 Prozent für die AfD gibt und sich diese rechtsextreme Ideologie in die Mitte der Gesellschaft reingeschoben hat, hat es auch noch mal eine ganz andere Bedeutung, was in Jamel passiert. Es hat jetzt eine viel stärkere Symbolkraft.
Früher, zumindest in meiner Wahrnehmung, war es schon eher was singuläres. Und dieses Gefühl habe ich jetzt überhaupt nicht mehr. Ich habe das Gefühl, dass es jetzt wirklich eine dramatische Bedrohung der Demokratie von Rechts gibt. Denn für mich war eigentlich immer klar, dass die Demokratie Bestand hat, dass wir im besten Gesellschaftssystem leben und das auch nicht mehr zur Diskussion steht. Dass das jetzt von Rechts hart angegriffen wird, ist eine ganz andere Situation als noch in den ersten Festivaljahren.

Der Film ist seit heute in der Mediathek – wer soll sich dafür interessieren?
Erstmal hoffe ich, dass man über das Interesse an den Musiker:innen auch viele Menschen dafür interessieren kann, was dort thematisch passiert. Dass das also viele Leute reinzieht, die sich mit diesem Thema vielleicht noch nicht so beschäftigt haben. Das würde ich hoffen. Was mich am allermeisten freuen würde, wäre, wenn der Film vielleicht den einen oder anderen zum Nachdenken bringt. Ob das passieren kann, weiß ich aber nicht.

Wenn ich Sie jetzt also nach dem Gefühl frage, mit dem die Zuschauer:innen aus dem Film herauskommen sollen, wäre „nachdenklich“ ein gutes Stichwort?
Ja, das finde ich schon. Ich habe das Ende bewusst offen gelassen. Man kommt aus der Atmosphäre dieses Festivals raus, dieser Wohlfühloase, und dann ist am Tag danach die Landtagswahl in Thüringen, die die AfD gewinnt. Ich wollte nicht implizieren, dass durch die Existenz des Festivals jetzt die Welt in Ordnung ist. Das ist nicht so – auch wenn es natürlich ein starkes Symbol ist.

Ich fände es wichtig, wenn jeder Einzelne sich die Frage stellt: „Was hat das mit mir zu tun?“ Dass man nicht aus diesem Film rausgeht und denkt, dass das eben dieses kleine Dorf mit einer speziellen Situation ist und das nichts mit einem selbst zu tun hat. Das hat mit uns allen zu tun.

Der Dokumentarfilm Jamel – Lauter Widerstand ist in der ARD-Mediathek verfügbar.


Mehr zum Festival „Jamel rockt den Förster“:

Mehr aus Jamel:

  1. Gegen die Lohmeyers wurde Anfang 2024 Anzeige wegen vermeintlichen Umweltvergehen erstattet. Daraufhin stoppte die Gemeindevertretung die Entscheidung über den Pachtvertrag für die Nutzung einer gemeindeeigenen Wiese für das Festival. ↩︎
  2. Einen ersten Überblick über völkische Siedlungen in MV: katapult-mv.de. ↩︎
  3. Trepsdorf ist Leiter des Regionalzentrums für demokratische Kultur in Westmecklenburg. ↩︎
  4. Die Grünen-Politikerin ist Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. ↩︎
  5. Haverbeck ist mehrfach verurteilte Holocaust-Leugnerin. ↩︎

Autor:in

  • Redakteurin in Greifswald

    Geboren in Berlin, aufgewachsen in Berlin und Brandenburg. Tauschte zum Studieren freiwillig Metropole gegen Metropölchen.