Diên Hông

Kampf ums Bleiberecht

Das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen war der Beginn. Zwei Monate später gab es ein neues Gesicht in der Vereinslandschaft der Hansestadt, gemeinnützig und unabhängig. Der Verein Diên Hông setzte sich zunächst für das Bleiberecht der Vertragsarbeiter:innen in Deutschland ein, das eigentlich nicht vorgesehen war. Und leistet nun Projektarbeit, mit der Wertschätzung und Toleranz untereinander gestärkt werden sollen.

Susanne Düskau sitzt an ihrem Schreibtisch in den Büroräumen des Vereins. „Das hier hat alles mit unserer Geschichte zu tun“, sagt sie und breitet einige Prospekte und Magazine aus. Es ist die Geschichte des Vereins Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach, der 1992, zwei Monate nach dem Pogrom in Lichtenhagen von vietnamesischen Rostocker:innen gegründet wurde. Ziel war es, den Kontakt zu deutschen Einwohner:innen der Stadt zu suchen, zu gestalten und gleichzeitig die vietnamesische Kultur zu wahren.

„Die vietnamesische Gemeinschaft ist damals aktiv auf die Gesellschaft zugegangen und hat gefragt, wie ein Weiterleben in Rostock möglich sein kann und wie mit den Geschehnissen von Lichtenhagen umgegangen werden sollte“, erklärt Düskau, die seit 2005 im Verein aktiv ist und mittlerweile zum Vorstand gehört. Deutschland dagegen wollte mit den Vertragsarbeiter:innen nur wenig zu tun haben.

Vertragsarbeiter:innen zur Ausreise bewegen

Anders als die individuell angeworbenen Gastarbeiter:innen in der BRD kamen die Vertragsarbeiter:innen in der DDR auf Grundlage zwischenstaatlicher Verträge. Persönliche Freiheiten wurden ihnen kaum gewährt und sowohl Arbeits- als auch Wohnheimplatz zugewiesen. Vertragsarbeiter:innen kamen aus sogenannten Bruderländern wie Mosambik, Angola, Kuba oder Vietnam. Doch die suggerierte Familiennähe gab es nie. 

Ende 1989 lebten etwa 190.000 Migrant:innen in der noch bestehenden DDR. Rund 90.000 von ihnen waren Vertragsarbeiter:innen, von denen fast 60.000 aus Vietnam kamen. Noch in den letzten Monaten der DDR wurden 1990 die bilateralen Vereinbarungen geändert, um eine Kündigung der Vertragsarbeiter:innen zu erleichtern. Gekündigte Vertragsarbeiter:innen durften zwar bis zum ursprünglich vorgesehenen Ende ihrer Arbeitsverträge in Deutschland bleiben, mussten jedoch aus den betriebseigenen Wohnheimen ausziehen. Ohne nennenswerte Beziehungen in die deutsche Gesellschaft mussten sie sich selbst um Wohnung und Lebensunterhalt kümmern. Das eigentliche Ziel der geänderten Abkommen war es jedoch, die Vertragsarbeiter:innen mit einer Abfindung von 3.000 Mark und einem kostenfreien Flug in die Heimatländer zur Ausreise zu bewegen. 

Sowohl die Änderungsverordnung als auch die Abfindungsregelung wurden in den Einigungsvertrag übernommen, ohne jedoch festzulegen, welcher Aufenthaltstitel für diejenigen gelten sollte, die Deutschland nicht verließen. Es entwickelte sich ein Kampf um das Bleiberecht, für das sich Diên Hông in Rostock und andere Initiativen in den neuen Bundesländern vehement einsetzten. 

Aufenthaltsbefugnis nach Ausländergesetz

Ein erster Erfolg gelang 1993. Die ehemaligen Vertragsarbeiter:innen durften bleiben, wenn sie für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen konnten. Die nun erteilte Aufenthaltsbefugnis war ein Aufenthaltstitel nach dem Ausländergesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1991. Sie war auf höchstens zwei Jahre befristet und dennoch für Tausende ehemalige Vertragsarbeiter:innen ein erster Schritt hin zu einem, wenn auch zeitlich begrenzten, legalen Aufenthalt.

Doch um eine Aufenthaltsbefugnis zu bekommen, mussten Vertragsarbeiter:innen sowohl eine Wohnung als auch eine Arbeit nachweisen. Eine Arbeitsstelle erhielten sie nur, wenn diese nicht mit deutschen oder europäischen Arbeitnehmer:innen besetzt werden konnte. Auch war es kaum möglich, eine Anstellung ohne Aufenthaltsbefugnis zu bekommen, erinnert sich Doan Hoang Mai, die als Vertragsarbeiterin aus Vietnam in die DDR kam und heute im Vorstand des Vereins Diên Hông tätig ist. „Das war der Grund, warum in den Neunzigern so viele Vietnamesen selbstständig arbeiteten.“ Sie verkauften auf Marktplätzen Blumen, Textilien, Souvenirs oder Zigaretten. Andere eröffneten Asia-Imbisse. Nur so konnten sie Geld verdienen. Außerdem fehlten vielen Vietnames:innen ausreichende Deutschkenntnisse, denn eine ernst gemeinte Sprachvermittlung fand für die Vertragsarbeiter:innen in der DDR nicht statt.

„Wer eine Arbeit hatte, musste alle drei Monate zum Amt, um die Aufenthaltsbefugnis zu verlängern“, beschreibt Mai das Prozedere des befristeten Aufenthaltstitels. Es dauerte bis 1997, ehe die Bundesregierung den ehemaligen Vertragsarbeiter:innen eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung erteilte, sofern sie sich bereits seit mindestens acht Jahren in Deutschland aufhielten. Etwa 15.000 ehemalige Vertragsarbeiter:innen, die mittlerweile auf dem gesamten Bundesgebiet lebten, haben so eine Perspektive für sich und ihre Familien in Deutschland erhalten.

Dien Hong
Susanne Düskau auf dem Fachtag zum Thema Sprachmittlung (Foto: Diên Hông)

Diên Hông heute

Heute liegt ein Schwerpunkt des Engagements von Diên Hông in der sprachlichen Qualifizierung, der sozialen Integration zugewanderter Menschen, der interkulturellen Bildung sowie der entwicklungspolitischen Bildung mit besonderem Bezug zu Vietnam. Auch die Frage der Verständigung mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist weiterhin präsent: Wie schaffen wir es, uns zu begegnen und uns gegenseitig besser kennenzulernen? Wie ist es für die vietnamesische Gemeinschaft möglich, Kultur und Sprache zu bewahren und dabei doch integriert zu sein?

Auch die Erinnerung an das Pogrom von Lichtenhagen spielt eine Rolle. Diên Hông ist eine wichtige Ansprechpartnerin der politischen Bildungsarbeit. „Wir versuchen regelmäßig die vietnamesische Community dazu zu gewinnen, sich einzubringen“, sagt Düskau. Die Sensibilisierung für die Perspektive der Betroffenen sei wichtig, auch wenn es innerhalb der vietnamesischen Gemeinschaft ein großes Bedürfnis danach gebe, mit den Ereignissen von damals abzuschließen.

Das liege auch am Umgang der Medien mit den Betroffenen in der Vergangenheit. Oft hätten sich die Mitglieder der vietnamesischen Community nicht richtig wiedergegeben gefühlt, weiß Düskau. „Das sind schwierige Erfahrungen, die dazu führen, dass viele Vietnames:innen nicht mehr über das Thema sprechen wollen.“

Heute sitzt die AfD im Landtag. Die Formen des Rassismus haben sich geändert, aber er ist kontinuierlich vorhanden.

Susanne Düskau, Diên Hông

Bildung gegen Rassismus

Die frühen Neunziger waren wilde Jahre. Alltagsrassismus wurde damals schnell handgreiflich. Jugendliche Skinheads und Neonazis randalierten auf Marktplätzen, verwüsteten Stände der oft selbstständig arbeitenden Vietnames:innen. „Heute sitzt die AfD im Landtag. Die Formen des Rassismus haben sich geändert, aber er ist kontinuierlich vorhanden“, sagt Düskau. Diên Hông setzt die eigene Bildungsarbeit dagegen.

Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Diskriminierung. „Mit Austausch und Begegnung können wir ein Verständnis füreinander aufbauen“, ist sich Düskau sicher. Wenn dieses Verständnis nicht gegeben ist, entsteht viel Raum für rassistische Einstellungen. „Wir müssen schauen, wie wir präventiv wirken können und dabei das Gedenken und Erinnern mitnehmen“, erklärt Düskau. Der Weg dahin ist lang.

Eine rassistische Gewalteskalation, wie sie während des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen tagelang zu sehen war, darf nicht vergessen werden. Aus Sicht der Zivilgesellschaft fehlt deshalb ein klares Gedenkkonzept von Kommune und Behörden, das über das Betonen von Jahrestagen hinausgeht. „Was sollen die zentralen Punkte des Erinnerns sein? Was wollen wir als Stadt und Bundesland mit dem Gedenken bewirken?“, fragt Düskau. Ein Bekenntnis zu Vielfalt und Weltoffenheit allein reiche nicht aus. Ein dauerhafter Diskurs sei wichtig, in dem sich die Ziele des Erinnerns auch verändern könnten.

„Vielleicht sind wir jetzt an dem Punkt, an dem das passieren kann“, sagt sie weiter. Dazu gehört auch das schmerzliche Anerkennen, dass Rassismus ein Problem der Mehrheitsgesellschaft und Institutionen ist, das sich durch alle Strukturen zieht. Es steht in direkter Wechselwirkung mit rechter Gewalt und stereotypischer Berichterstattung. 

Unsere Zeitung aus dem August ist eine Sonderausgabe zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992. In dieser geht es unter anderem um die daraus folgende restriktive Asylgesetzgebung und die unzureichende juristische Aufarbeitung der Ereignisse von vor 30 Jahren. Die Ausgabe kann im KATAPULT-Shop bestellt werden.

Quellen

  1. Enzenbach, Isabel; Oelkers, Julia: Eigensinn im Bruderland. Ende der Freundschaft, auf: bruderland.de (2020).
  2. Ebd.
  3. Hopfmann, Karin: Der Kampf um das Bleiberecht in den 1990er Jahren – oder „Das Private ist das Politische.“, auf: boell.de (19.5.2020).
  4. Ebd.
  5. Nguyen, Chi: Eine Geschichte der Unsichtbaren, auf: praxis-udk.de (31.1.2021).
  6. Hopfmann, Karin: Der Kampf um das Bleiberecht in den 1990er Jahren – oder „Das Private ist das Politische.“, auf: boell.de (19.5.2020).
  7. Enzenbach, Isabel; Oelkers, Julia: Eigensinn im Bruderland. Ende der Freundschaft, auf: bruderland.de (2020).
  8. Nguyen, Chi: Eine Geschichte der Unsichtbaren, auf: praxis-udk.de (31.1.2021).
  9. Hopfmann, Karin: Der Kampf um das Bleiberecht in den 1990er Jahren – oder „Das Private ist das Politische.“, auf: boell.de (19.5.2020).
  10. Enzenbach, Isabel; Oelkers, Julia: Eigensinn im Bruderland. Ende der Freundschaft, auf: bruderland.de (2020).
  11. Diên Hông (Hg.): Über uns, auf: dienhong.de.
  12. Diên Hông, Flüchtlingsrat MV u. a.: Gedenken an das Pogrom Lichtenhagen 1992 – Forderungen zu Gedenk- und Erinnerungskultur aus der Rostocker Zivilgesellschaft, auf: fluechtlingsrat-mv.de.

Autor:in

  • Freier Redakteur

    Ist KATAPULT MVs Inselprofi und nicht nur deshalb gern am Wasser. Nutzt in seinen Texten generisches Femininum.