Polizeieinsatz in Rostock-Evershagen
Medien fördern rassistische Klischees
Von Anna Hansen und Patrick Hinz
Lesedauer: ca. 4 Minuten
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Im vergangenen Jahr gab es in Mecklenburg-Vorpommern laut polizeilicher Kriminalstatistik jeden Tag mindestens einen Messerangriff. Im Bundesvergleich steht MV mit jährlich 27,4 Messerangriffen je 100.000 Einwohner:innen an fünfter Stelle. Doch die Datenlage ist schwierig: Nicht alle Bundesländer erfassen die zunehmenden Straftaten mit Messern gesondert, obwohl dies bundesweit gefordert wird. Zuletzt wurde am vergangenen Dienstag in Rostock-Evershagen ein mutmaßlicher Angreifer von der Polizei mit vier Schüssen gestoppt.
Vor einem Wohnhaus in der Henrik-Ibsen-Straße gab die Polizei nach eigenen Angaben mehrere Schüsse in Beine und Oberkörper auf einen mit einem Messer bewaffneten Mann ab. Der verdächtige 57-Jährige soll zuvor mindestens einen Bewohner des Hochhauses und die eintreffenden Polizeibeamt:innen mit einem Messer bedroht haben. Zeitweise soll der 57-Jährige sich dann in seine Wohnung zurückgezogen haben, sei dann aber dort herausgestürmt. Zuvor sei die Unterstützung des Spezialeinsatzkommandos angefordert worden; bis zu dessen Eintreffen eskalierte die Situation jedoch. Auch der sozialpsychiatrische Dienst der Stadt Rostock wurde zum Einsatzort gerufen, da der Mann sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden haben soll. Die Schüsse gegen den Verdächtigen fielen vor dem Eingang des Wohnhauses, als die Polizist:innen den Mann umstellten und er auf mehrfache Aufforderung „Messer weg“ und „Leg das Messer weg“ nicht reagierte.
Das Video eines Anwohners zeigt den Mann, wie er sich langsam von den Polizist:innen entfernt, schwenkt jedoch nach dem ersten Schuss vom Geschehen weg und dann zurück, sodass nicht das komplette Ereignis abgebildet wird. Nach aktuellem Stand sollen mindestens zwei der Polizeibeamt:innen drei oder vier Schüsse auf das Bein und den Oberkörper des Mannes abgefeuert haben. Bis zum Eintreffen des Notarztes versorgten die Beamt:innen den Schwerverletzten, der anschließend in ein Krankenhaus gebracht wurde. Lebensgefahr bestehe laut Polizei bei dem Verdächtigen nicht. Sonst wurde niemand verletzt. Weitere Hintergründe des Einsatzes seien Gegenstand der laufenden Ermittlungen, teilte Staatsanwältin Manuela Merkel auf Nachfrage mit.
Medienkrise Rassismus
Kaum wird bekannt, dass der Tatverdächtige syrischer Staatsbürger sein soll, titelt die Ostsee-Zeitung: „Polizei stoppt Messer-Mann mit vier Schüssen: Video zeigt Einsatz“ und bleibt auch in ihrer weiteren Berichterstattung beim „Messermann“ – ähnlich wie die Bild, die ein Foto veröffentlicht mit den Worten: „Hier schießen Polizisten auf den Messermann“ und titelt: „Heftige Szenen: Hier schießen Polizisten einen Messer-Mann nieder“. Die Schweriner Volkszeitung schreibt von einem „möglicherweise verwirrten Syrer“ und auf Facebook häufen sich beim Artikel des Nordkuriers die Abschiebungsforderungen.
Was die Verwendung von Begriffen wie „Messermann“ anrichtet, kritisiert der landesweite Opferberatungsverband für Betroffene rechter Gewalt Lobbi MV: „Die Berichterstattung der OZlive normalisiert mit Titeln vom Messermann das Vokabular rassistischer Akteur:innen und reproduziert zusätzlich rassistische Bilder von gefährlichen Fremden.“
Öffentliche Debatte: Von Anfang an rassistisch gerahmt
Dazu bleiben die Facebook-Kommentare unter dem Beitrag der Ostsee-Zeitung unmoderiert stunden- oder tagelang online stehen, selbst wenn jemand schreibt: „Nicht wieso und warum da hat die Polizei mal das richtige gemacht voll ins schwarze getroffen“ [sic] – und 24 Personen darauf „Gefällt mir“ klicken. „Die womöglich tatsächlich bedrohliche Situation für die Anwohner:innen wird damit für Clickbait benutzt, die öffentliche Debatte rassistisch gerahmt“, kritisiert Lobbi.
Aber nicht nur bei der Ostsee-Zeitung wird der Einsatz menschenfeindlich kommentiert, auch unter dem Info-Tweet auf dem Twitter-Kanal der Rostocker Polizei zu dem Vorfall sammelten sich tagelang unmoderiert rassistische und gewaltverherrlichende Kommentare, wie „Der Finale (tödliche Schuss, Anm. d. Red.) wäre angebracht gewesen“, „Schade, dass sie ihn nicht richtig ausgeschaltet haben“ oder „Gut gemacht. Immer wegballern diese Kreaturen, die uns nichts nützen!“ – bis die Polizei nach vier Tagen einen Netiquette-Hinweis postet und die problematischeren Kommentare entfernt. Dabei hat die Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern längst eine eigene Onlinemeldestelle gegen Cyberkriminalität, Extremismus und Kinderpornografie namens Netzverweis eingerichtet, wo jede:r, auch anonym, mögliche strafbare Kommentare, Webseiten oder Ähnliches bei der Polizei melden kann.
Opferverband fordert gründliche Aufklärung
Lobbi fordert aufgrund der gesellschaftlichen Brisanz des Vorfalls und des rassistischen Tons der Medienberichterstattung eine gründliche Aufklärung der Situation und des Einsatzes in Evershagen: „Unabhängig vom konkreten Hergang ist als Standard jeder Polizeiarbeit ein souveräner und professioneller Umgang mit Bewaffneten und Personen in psychischen Ausnahmezuständen zu fordern, ebenso wie eine rassismussensible Ausbildung.“ Zum einen gäbe dies Beamt:innen Handlungssicherheit und zum anderen schütze dies zugleich mögliche Betroffene vor Polizeigewalt sowie unbeteiligte Dritte.
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Autor:innen
Redakteurin bei KATAPULT MV.
Geboren in Vorpommern, aufgewachsen in Mecklenburg. Einziger KATAPULT-Redakteur mit Traktorführerschein UND Fischereierlaubnis. Layouter und Chefredakteur.