Im Jahr 1884 erwarb das Deutsche Kaiserreich die ersten deutschen Kolonien. Bis 1919 wurden große Gebiete in Afrika und einige Inseln in Ozeanien von Deutschen kontrolliert. Insgesamt herrschten sie damit über das viertgrößte Kolonialreich der Welt.
Aus diesen Gebieten, aber auch aus den Kolonien anderer europäischer Länder gelangten Objekte und Leichenteile in deutsche Sammlungen und Museen. Zwei wichtige Akteure dabei kamen aus Mecklenburg-Vorpommern: Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg und sein jüngerer Halbbruder, Herzog Adolf Friedrich.
Johann reiste hauptsächlich nach Asien, beschaffte jedoch auch aus anderen Teilen der Welt Tausende Objekte. Diese „Souvenirs“ dienten beispielsweise zur Ausstattung des Schweriner Schlosses. Adolf Friedrich dagegen zog es nach Afrika. Zwei Jahre verwaltete er dort die deutsche Kolonie Togo. Von drei Expeditionen brachte er mehr als tausend menschliche Schädel unberechtigt nach Deutschland. Auch Reisende und Marineärzte brachten Leichenteile aus der ganzen Welt in die Hafenstädte Rostock und Wismar. Sie wurden später bei der anatomischen Forschung und Lehre im Land genutzt.
Herkunft ungeklärt
In den anatomischen Sammlungen in Greifswald und Rostock lagern Schädelknochen, ein Fuß, Mumienköpfe und eine gesamte Mumie, die vermutlich durch koloniale Verstrickungen nach MV gekommen sind. „Vermutlich“ ist an dieser Stelle ein wichtiges Wort, weil die Herkunft der meisten Stücke ungeklärt ist. Zwar gibt es Inventarlisten und Beschriftungen, aber diese liefern nur spärliche Hinweise und können heute nicht mehr eindeutig zugeordnet werden. So nutzten die Deutschen beispielsweise den rassistischen Begriff „Hottentotten“ für alle Menschen, in deren Sprache Klicklaute vorkommen. Dies umfasst allerdings viele Gesellschaften und Kulturen in Afrika. Ein Schädel, der mit diesem Wort beschriftet ist, kann allein dadurch also keiner bestimmten Herkunftsgesellschaft mehr zugeordnet werden.
Die Herkunft zu entschlüsseln, versucht die Wissenschaftsdisziplin der Provenienzforschung. Mit historischen und naturwissenschaftlichen Methoden lässt sich beispielsweise der Reiseweg zurückverfolgen oder die Todesursache klären. So konnte ein Schädel aus der Greifswalder Sammlung bei einer Untersuchung eindeutig dem südlichen Afrika zugeordnet werden. Den entscheidenden Hinweis darauf gab ein Wespennest im Inneren. Diese Wespenart kommt nur im südlichen Afrika vor. Zusätzlich war das Nest ein Hinweis darauf, dass die verstorbene Person vermutlich länger unbestattet war.
Auch durch die Vermessung von Knochen können Informationen über die Lebensumstände, das Alter oder das Geschlecht gesammelt werden. Ein konkrete Zuordnung der Ethnie mittels einer Vermessung des Schädels ist aber nicht möglich. Anders sahen das Wissenschaftler:innen in der Kolonialzeit. Sie versuchten die Existenz von „Menschenrassen“ durch anthropologische Merkmale zu belegen. Auch aus diesem Grund waren Schädel beliebte „Souvenirs“. Sie dienten als Belegexemplare für die erfundenen „Rassen“. Aus möglichst jedem Teil der Welt wollten Wissenschaftler:innen damals Schädel besitzen.
War das illegal?
Direkt nach dem Woher kommt die Frage nach dem Wie. Wie kamen die Gebeine ins heutige Mecklenburg-Vorpommern? „Der Begriff ‚illegal‘ ist historisch nicht korrekt, weil es nach dem damaligen Rechtsverständnis kein Gesetz dagegen gab“, erklärt der Medizinhistoriker Ekkehardt Kumbier. Er leitet den Arbeitsbereich Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Rostock. Ulrike von Hirschhausen ist Professorin für Kolonialgeschichte an der Universität Rostock. Sie erklärt, warum es nicht sinnvoll ist, sich an damaligen Gesetzen zu orientieren: Als die Vereinbarungen geschlossen wurden, „waren die Machtverhältnisse im totalen Ungleichgewicht. Der Buchstabe des Gesetzes kann also nicht der Maßstab sein, weil das vermeintliche Gesetz im Recht der Kolonisatoren bestand.“
Die Praktiken, mit denen damals Leichenteile beschafft worden sind, werden nach heutigem Moralverständnis nicht mehr toleriert. In Rostock lagert nur ein Schädel, bei dem die Herkunft nachvollzogen werden konnte. Dieser stammt aus der Plünderung von Gräbern auf den Yap-Inseln. Der Archipel liegt im westlichen Pazifik und war von 1899 bis 1914 Teil der Kolonie Deutsch-Neuguinea. Nicht immer haben die Kolonisatoren selbst geplündert. Mumien – wie sie auch in Rostock lagern – konnte man vor Ort, beispielsweise in Ägypten und Peru, auch von Mumienhändlern kaufen.
Vom Konzentrationslager in die Anatomie
Eine der wohl grausamsten Praktiken zur Beschaffung von Schädeln fand im heutigen Namibia statt. Im Januar 1904 begann dort der Krieg zwischen deutschen Kolonialtruppen und dem unterdrückten Volk der Herero. Als im August nach einer Schlacht Herero in die Kalahariwüste flohen, riegelten die Deutschen die Wasserstellen ab. Tausende Menschen verdursteten. Im Oktober gab Generalleutnant Lothar von Trotha den Befehl zum Genozid an den Herero. Zeitgleich erklärten auch die Nama, eine weitere Volksgruppe in Namibia, den Deutschen den Krieg. Nachdem der Befehl zur Vernichtung im Dezember desselben Jahres zurückgenommen wurde, ließen die Deutschen Konzentrationslager errichten. In diesen mussten überlebende Herero und Nama Zwangsarbeit verrichten. Insgesamt starben nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung rund 75.000 Angehörige der beiden Volksgruppen.
Im Rahmen dieses Krieges waren es nicht mehr nur Forschungsreisende, die menschliche Überreste unrechtmäßig nach Deutschland brachten. Auch koloniale Offiziere wurden nun zu Schädelsammlern. Ulrike von Hirschhausen beschreibt, dass es vor allem während der Kolonialkriege zur Entwendung menschlicher Überreste kam. In den Konzentrationslagern wurden Überlebende gezwungen, die Schädel ihrer Angehörigen für die anatomischen Sammlungen vorzubereiten. Unter einer Fotografie aus dieser Zeit, auf der deutsche Soldaten Schädel verpacken, ist die grausame Praxis dokumentiert. Laut dem Text unter dem Foto mussten Frauen die Schädel mit Glasscherben von Haut, Muskeln und sonstigen Überresten befreien. Weder in Greifswald noch in Rostock lagern heute Schädel, denen Verbindungen zu dieser Zeit nachgewiesen werden konnten.
Rückgabe der Toten
Mit dem Besitz von menschlichen Überresten geht eine gewisse Verantwortung einher. Nach Ansicht von Ulrike von Hirschhausen dürfen sich Machtverhältnisse aus der Kolonialzeit in der Debatte um den Verbleib menschlicher Überreste nicht wiederholen. Die Historikerin sagt: „Während die Schädel für die deutsche Öffentlichkeit aktuell keine große Rolle spielen, tun sie das für die Herkunftsgesellschaften sehr stark.“ Wie bedeutend diese Rolle ist, zeigt sich an Rückführungsgesuchen. Das sind Anfragen anderer Länder an Deutschland, um menschliche Überreste wieder dorthin zurückzubringen, wo sie ursprünglich herstammen.
Sowohl in Rostock als auch in Greifswald besteht die Bereitschaft, menschliche Überreste an die Herkunftsgesellschaften zurückzugeben. So steht die Anatomische Sammlung in Rostock mit Vertreter:innen Australiens in Kontakt, die die Rückgabe von Gebeinen und Gipsabgüssen von Schädeln fordern. Ein genaues Datum dafür steht allerdings nicht fest, weil von australischer Seite die Überlegungen, wie mit den Abgüssen umgegangen wird, noch nicht abgeschlossen sind. Markus Kipp ist Leiter des Rostocker Instituts für Anatomie und betont die Wichtigkeit der Provenienzforschung: „Nur wenn man den Kontext aufarbeitet, aus dem die Schädel stammen, hat man eine Grundlage für Debatten um die Rückführung.“
Zeigen oder nicht zeigen?
Bis die Rückführung stattfindet, verbleiben die menschlichen Überreste in Deutschland. In Rostock werden menschliche Überreste aus kolonialen Zusammenhängen weiterhin in der anatomischen Sammlung ausgestellt. Inzwischen allerdings nur mit Einordnungen zur Geschichte, oder in speziellen Archivkartons. In Greifswald sind sie ohne Kontext ausgestellt, dafür in einem hinteren Teil der Sammlung.
Vertreter:innen der Initiative Rostock postkolonial kritisieren beide Arten der Präsentation. Sie fordern, keine menschlichen Überreste aus kolonialen Zusammenhängen mehr auszustellen, egal ob ein Unrechtskontext nachgewiesen werden kann oder nicht. Die Praxis sei makaber, würdelos und habe keinen Mehrwert. Sie begrüßen allerdings die Aufbewahrung in Archivkartons, in denen einige Überreste in Rostock lagern. Diese seien lichtundurchlässig und würden die Überreste vor schädlichen Umwelteinflüssen schützen. Darin könnten die Gebeine angemessen auf ihre Rückführung warten.
Geglückte Rückgabe
Eine erfolgreiche Rückführung fand 2018 in Berlin statt. Aus der Anatomischen Sammlung Greifswald wurden drei Schädel an Vertreter:innen Namibias zurückgegeben. Begonnen hatten die Bemühungen darum bereits acht Jahre vorher. Das zeigt, wie langwierig solche Prozesse sein können.
2010 erreichte Karlhans Endlich, Leiter der Greifswalder Anatomie, eine Anfrage der Deutschen Anatomischen Gesellschaft, ob die Greifswalder Sammlung Gebeine von Herero und Nama besitze. Vertreter:innen Namibias wollten den Toten in ihrer Heimat einen würdigen Ort der letzten Ruhe geben. Tatsächlich lagerten zu diesem Zeitpunkt drei Schädel in der Sammlung der Universität. Nach einigen Gesprächen reiste Endlich 2012 nach Berlin, um den namibischen Botschafter zu treffen. Die Schädel hatte er dabei. Rückblickend bezeichnet er sein Vorgehen als naiv: „Ich habe gedacht, der diplomatische Vertreter von Namibia wird total glücklich sein, wenn er die Schädel direkt zurückbekommt.“ Zwar blieben die Schädel in Berlin, wurden aber erst einmal umfassend untersucht. Die namibischen Vertreter:innen wollten sichergehen, dass die zurückgebrachten Schädel auch tatsächlich aus Namibia stammten. Nach einer Provenienzanalyse, die dies bestätigte, wurden die Schädel in einer feierlichen Zeremonie mit Gebeinen aus anderen Sammlungen in Berlin übergeben.
Im Rahmen dieser Rückgabe wurde auch die Rostocker Sammlung besucht. Die Vertreter:innen von Rostock postkolonial erinnern sich an ein sehr emotionales Treffen mit Aktivist:innen der Ovaherero und Nama, das in der Sammlung stattfand. Es sei viel geweint worden. Die Sammlung habe sich angefühlt wie ein offener Friedhof.
Großer Forschungsbedarf
Das wenige Wissen über die Herkunft der menschlichen Gebeine in MVs Sammlungen stärkt die Forderungen nach mehr Provenienzforschung. Sie scheitert aktuell am fehlenden Forschungsgeld. Dieses gibt es derzeit, wenn überhaupt, nur für Provenienzforschung an außereuropäischen menschlichen Überresten. Überreste aus Deutschland und anderen Teilen Europas, die in anatomischen Sammlungen lagern, werden selten auf ihre Herkunft untersucht. Die Gebeine stammen beispielsweise von ethnischen Minderheiten wie den Wenden. Es ist davon auszugehen, dass auch diese Überreste nicht mit Zustimmung der Verstorbenen oder der Angehörigen in die Sammlungen gelangt sind.
Heute lernen und forschen Mediziner:innen an Leichen aus dem sogenannten Körperspendewesen. Menschen können sich im Rahmen dieses Programms zu Lebzeiten dazu entscheiden, ihren Körper nach dem Tod der Medizin zu übergeben. Doch damit ist der illegale Handel mit Leichenteilen kein Relikt der Geschichte geworden. Noch heute gibt es Skandale um unrechtmäßig beschaffte menschliche Überreste. 2004 wurde der umstrittene Mediziner Gunther von Hagens vom Vorwurf der Störung der Totenruhe freigesprochen. Ihm war vorgeworfen worden, für seine Ausstellung Körperwelten die Leichen hingerichteter Gefangener aus China gekauft zu haben.
Dieser Text erschien in Ausgabe 31 von KATAPULT MV.
Quellen
- Reed-Anderson, Paulette: Chronologie zur Deutschen Kolonialgeschichte, auf: bpb.de (6.10.2004).↩
- Ziemann, Benjamin: Deutschland in der Welt, auf: bpb.de (13.4.2016).↩
- Strahl, Antje; Stutz, Reno: Von Bürgerschenkungen und Big-Playern – Ethnografische Sammlungen in den Museen Mecklenburg-Vorpommerns und ihr kolonialer Hintergrund, auf: museumsverband-mv.de (2021).↩
- Arndt, Susan: Kolonialismus, Rassismus und Sprache: Kritische Betrachtungen der deutschen Afrikaterminologie, auf: bpb.de (30.7.2004).↩
- Winkelmann, Andreas u.a.: Provenienzforschung zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten: Eine methodische Arbeitshilfe des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité und von ICOM Deutschland, S. 22 (2022).↩
- Telefonat mit Ulrike von Hirschhausen am 15.4.2024.↩
- Zeller, Joachim: „Ombepera i koza – Die Kälte tötet mich“. Zur Geschichte des Konzentrationslagers in Swakopmund (1904-1908), in: Zimmerer, Jürgen; Zeller, Joachim (Hg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, 2. Aufl. 2004, S. 77.↩
- Telefonat mit Rostock postkolonial am 10.4.2024.↩
- Der Spiegel (Hg.): Ermittlungen gegen Leichen-Schausteller Hagens eingestellt, auf: spiegel.de (9.3.2004).↩
- Der Spiegel (Hg.): Staatsanwaltschaft prüft Ermittlungen gegen Hagens, auf: spiegel.de (19.1.2004).↩