In den letzten Wochen waren an vielen Orten in Deutschland Hunderttausende auf der Straße, um vor den Wahlen für Demokratie und gegen die Zusammenarbeit mit der AfD zu demonstrieren. In Greifswald wird Anne Wolf am Sonntag eine Demonstration unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ moderieren. Sie arbeitet als Fremdsprachenlehrerin an einer Berufsschule, ist 57 Jahre alt und organisiert seit den ersten Pegida-Protesten 2016 in Greifswald mit einem lokalen Bündnis Veranstaltungen für Solidarität und gegen Rechtsextremismus.
Anke Lübbert: Anne Wolf, ich habe sie vor neun Jahren schon mal interviewt.
Anne Wolf: Ja, damals hatten wir hier die ersten pegidaartigen Aufmärsche. Ich dachte wirklich, wir müssten nur ein paar Monate durchhalten, kurz klarstellen, dass es so in dieser Stadt und diesem Land nicht läuft. Und dass wir dann bald auch wieder andere Sachen machen können.
Dazu kam es dann nicht?
Nein, das Thema Rassismus und Demokratiefeindlichkeit hat mich durch all die Jahre begleitet. Ich habe viele Reden gehalten, wir haben Demos und Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, jedes Jahr organisieren wir ein Maifest für Demokratie und Vielfalt.
Warum machen sie das?
Es ist für mich einfach keine Option, depressiv auf der Couch sitzen zu bleiben. Auf die Straße zu gehen ist heute wichtiger denn je. Und da frag ich mich auch nicht, ob das auch jemand anderes organisieren könnte oder ob es gefährlich ist.
Ist das, was Sie machen, gefährlich?
Naja, wenn man in Hamburg eine Demo organisiert, dann kann man sich schon einigermaßen sicher sein, dass man unbehelligt bleibt. Ich würde sagen, dass es in vielen Orten im Osten einfach ein höheres Bedrohungspotential gibt. Jemand hat unserem Bündnis gerade einen Screenshot geschickt mit unserem Demoaufruf und der Aussage: „Das Pack marschiert mal wieder, das schreit nach einem kleinen Spaziergang.“ Das könnte man als Drohung verstehen. Wenn ich auf dem Marktplatz stehe und das Mikro in die Hand nehme, dann weiß ich schon: Die da am Rand stehen und zuhören, die wissen, wer ich bin und wo ich wohne. Ich mache es trotzdem.
Haben Sie keine Angst?
Es wäre keine gute Idee, sich in diesen entscheidenen Zeiten nach der eigenen Angst zu richten.
Die Umfragewerte für die AfD sind nach den Demos im vergangenen Jahr nicht zurück gegangen. Und Merz‘ Umfragewerte leiden auch kaum darunter, dass er mit den Stimmen der AfD gearbeitet hat.
Ja, das stimmt. Wenn wir hier auf der Demo: „Wir sind die Brandmauer!“ rufen, dann ist das wichtig, aber wird es auch reichen? Der Titel der Lokalzeitung lautete am Samstag: „Wenn Kanzler direkt gewählt werden würde: Alice Weidel wäre beliebteste Kandidatin in MV“. Das ist eine andere Situation als in Hamburg oder Berlin. Ich bin aber schon sehr froh über unsere Öffentlichkeit hier.
Inwiefern?
Es gibt wirklich viele Leute, die nicht einverstanden sind, die was machen wollen. Die Angst haben, wütend sind, den Rechtsruck nicht hinnehmen wollen. Bei einer spontanen Demo vor zwei Wochen, am Tag, nach dem Merz mit den Stimmen der AfD seine Gesetzesvorlage zur Begrenzung der Migration durchgebracht hat, kamen von einen Tag auf den anderen ohne viel Mobilisierung 400 Leute. An einem kalten Wintertag mit Nieselregen.
Wer geht da auf die Straße?
Letztes Jahr war ich auf Demos in Dresden, Halle und Greifswald, und ich hätte mir diese Demos kaum größer und schöner wünschen können. Es waren wirklich viele, sehr unterschiedliche Menschen unterwegs. Das sind auch breite Bündnisse. In Greifswald gab es im letzten Jahr eine große Demo gegen Rassismus, zu der nicht wir, sondern der Oberbürgermeister, der Bischof, der Sportbund, Unternehmen aufgerufen hatten. Und auch die demokratischen Parteien waren dabei.
Aber die CDU fehlte.
Ja, aber die hat sich wenig später auch zerlegt. Die Greifswalder CDU-Fraktion ist im letzten Sommer über die Frage der Brandmauer zerbrochen. Ein Teil der ehemaligen CDU-Fraktion kooperiert jetzt offen mit lokalen rechten und rassisstischen Gruppierungen. Gegen diejenigen laufen Parteiausschlussverfahren. Was aber für mich viel wichtiger ist: Wer von der CDU war unter den Teilnehmern?
Waren da welche?
Ja. Unter anderem der frühere Oberbürgermeister und CDU-Mann Arthur König. Der ist einfach ein aufrechter Demokrat. Das hat mich wirklich sehr berührt. Es würde mich nicht wundern, wenn er auch am Sonntag dabei wäre.
Bringen die Demos überhaupt etwas?
Ich denke, es ist gut und wichtig, zu zeigen, dass dem Rechtsruck auch etwas entgegen steht: Menschlichkeit, Solidarität, humanistische Werte. Und dass wir viele sind!
Also dienen sie auch der Selbstvergewisserung?
Ja, natürlich auch. Aber nicht nur. Sie sind ein starkes Zeichen. Wie ein helles Taschenlampenlicht in der Dunkelheit. Damit man das noch besser sehen kann, würde ich mir mehr Berichterstattung darüber wünschen. In Talkshows, im Fernsehen, Radio, in der Zeitung. In der letzten Wochen waren Hundertausende auf der Straße.