Montagmorgen in einem Büro im Rostocker Gewerkschaftshaus. Der Vielfaltskalender der Partnerschaft für Demokratie ist mit Mehmet-Turgut-Weg-Stickern an der Wand befestigt, ein halb aufgebauter Schrank steht vor dem Schreibtisch von Seyhmus Atay-Lichtermann. „Ich brauche noch einen abschließbaren Schrank“, erklärt der Projektleiter von Pass[t] Genau, dem neuen landesweiten Beratungsnetzwerk für Einbürgerungsinteressierte. In vier Tagen ist die offizielle Eröffnung des Projektbüros. Doch eigentlich sitzt Atay-Lichtermann dort schon seit Monaten. Und seitdem hat er schon viele Anfragen erhalten.
Das Ziel des Modellprojekts ist es, Ausländer:innen auf dem Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft zu unterstützen. Denn der kann nervenaufreibend und frustrierend sein: Dokumente und Nachweise besorgen, übersetzen lassen, Formulare verstehen, korrekt ausfüllen und lange warten. Hauptamtliche Berater:innen, regionale Projektleiter:innen wie Atay-Lichtermann, und sogenannte Einbürgerungslots:innen helfen Einbürgerungsberechtigten: Sie informieren, unterstützen bei den Anträgen und begleiten zu Behörden.
In Hamburg und Bremen arbeiten die Behörden bereits mit Einbürgerungslots:innen zusammen. Nun hat der Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat das Projekt Pass(t) Genau ins Leben gerufen, gefördert von Reem Alabali-Radovan (SPD). Die Staatsministerin für Migration und Antirassismusbeauftragte der Bundesregierung ist in Schwerin aufgewachsen. Vielleicht auch ein Grund, weshalb ihr Heimatbundesland neben Rheinland-Pfalz Modellregion für ihr „Herzensprojekt“ ist, wie sie es nennt. Ihr sei es wichtig, das Projekt in einem ost- und einem westdeutschen Bundesland zu erproben. Und in MV sei das ausgeschöpfte Potenzial bislang besonders niedrig: „Es gibt viele Menschen in MV, die sich einbürgern lassen könnten, es aber noch nicht gemacht haben.“ Demnach sei der Beratungsbedarf im Land besonders hoch. Acht ehrenamtliche Einbürgerungslots:innen für MV sind bereits ausgebildet: zwei Syrer:innen für Schwerin, zwei weitere Syrer:innen für Wismar, eine Ukrainerin für Greifswald und drei Menschen aus Syrien, Russland und Deutschland für Rostock. Eine weitere Schulung fand im September statt.
Neues Gesetz für schnellere und leichtere Einbürgerungen
Der Grund für das Modellprojekt: das neue Einbürgerungsrecht des Bundes, das seit Ende Juni in Kraft ist. Mit schnelleren Verfahren sollen Arbeitskräftemangel und demografischem Wandel begegnet werden. Ausländer:innen, die fünf Jahre dauerhaft in Deutschland leben und arbeiten, können sich einbürgern lassen. Bisher war das erst ab acht Jahren möglich. Bei „besonderer Integrationsleistung“ ist sogar eine Verkürzung auf drei Jahre möglich – wenn die Betreffenden im Beruf besonders gut arbeiten, sich ehrenamtlich engagieren oder sehr gut Deutsch sprechen.
Darüber hinaus ermöglicht die Reform die doppelte Staatsbürgerschaft. Dass Menschen den deutschen Pass erhalten, ohne ihre bisherige Staatsbürgerschaft und damit einen Teil ihrer Identität aufgeben zu müssen. „Viele wollen die nicht abgeben“, erklärt Atay-Lichtermann. Er selbst wurde 2007 eingebürgert, da war er Anfang 20. „Für mich war das ganz einfach“, erklärt der heute 40-Jährige. Er habe angerufen und am nächsten Tag einen Termin bekommen. Das sei heute nicht mehr möglich. Schon alleine, weil es keine Termine mehr gibt – der Antrag wird ausschließlich online gestellt.
Ob er lieber die doppelte Staatsbürgerschaft hätte, wo es nun möglich ist? „Ich bin Norddeutscher, das reicht“, sagt Atay-Lichtermann lachend. Er ist Ende der Neunziger als 15-Jähriger mit seiner kurdischen Familie aus der Türkei nach Deutschland geflohen, wohnte gegenüber dem berüchtigten Sonnenblumenhaus, war und ist mit der Familie Turgut befreundet, deren Sohn und Bruder vom rechtsterroristischen NSU ermordet wurde. Seit zwei Jahren ist er Vorsitzender des Migrantenrats der Hansestadt. Er ist Rostocker. Dennoch verstehe er alle, die ihre Staatsangehörigkeit behalten wollen.
Lebensleistungen anerkennen
Die Reform soll nicht nur Anreize für vor wenigen Jahren Eingewanderte schaffen, sondern auch denjenigen die deutsche Staatsbürgerschaft ermöglichen, die beinahe ihr ganzes Leben in Deutschland gelebt und gearbeitet haben: ehemaligen sogenannte Gast- und Vertragsarbeiter:innen. Alabali-Radovan habe sich dafür eingesetzt, dass die Erleichterungen nicht nur für frühere Gastarbeiter:innen gelten, also Menschen, die bis 1974 in die BRD gezogen sind, sondern auch für ehemalige Vertragsarbeiter:innen in der DDR.
Sie müssen keine Sprach- und Einbürgerungstests absolvieren. „Für sie war Integration nie vorgesehen“, erklärt Atay-Lichtermann. „Die Generation hat nie einen Sprachkurs besucht.“ Sie dürfen außerdem auch dann eingebürgert werden, wenn sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien nicht ohne Sozialleistungen bestreiten können. „Viele von ihnen sind heute in Rente.“
Demokratiedefizit beseitigen
Angesichts der neuen Regelungen werden mehr Einbürgerungsanträge erwartet. Viele erfüllen die neuen Voraussetzungen für eine Einbürgerung bereits. Allein in Rostock sind es knapp 5.000 Menschen, die seit fünf Jahren in Deutschland leben. Bundesweit sind es rund 5,3 Millionen, die seit über zehn Jahren ohne deutschen Pass in Deutschland leben. Insgesamt haben zwölf Millionen Menschen in Deutschland keinen deutschen Pass, etwa 14 Prozent der Bevölkerung. Mit massiven Auswirkungen auf ihr Leben.
So unterscheidet das Grundgesetz zwischen Menschenrechten, die universell für alle gelten, wie Schutz der Menschenwürde, Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit. Und Bürgerrechten, die nur für Deutsche gelten. Dazu zählen die Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit sowie Freizügigkeit. Das werde zwar nicht so streng ausgelegt, „aber eigentlich sind das alles deutsche Grundrechte“, erklärt der studierte Jurist Atay-Lichtermann.
„Ich würde allen raten, den Einbürgerungsprozess durchzustehen, egal wie schwer das sein mag“, sagt Mariana Yaremchyshyna. Die Einbürgerungslotsin stammt aus der Ukraine, lebt seit sechs Jahren in Deutschland, ist Mitglied im Greifswalder Migrantenbeirat und kandierte zuletzt erfolglos für die Bürgerschaft. Ihr Arbeitgeber habe ihr vor wenigen Tagen hochschwanger gekündigt, erzählt sie. „Ich frage mich, was wäre, wenn ich nicht eingebürgert wäre.“. Ein deutscher Pass gewährt mehr berufliche Möglichkeiten, Reisefreiheit und das Recht, zu wählen und gewählt zu werden. Für Yaremchyshyna sei das Wahlrecht wichtig und damit die Möglichkeit, am politischen Leben teilnehmen und es mitgestalten zu können.
„Einige leben seit 30, 40 Jahren in Deutschland und dürfen nicht wählen“, kritisiert Atay-Lichtermann. Damit sind sie von den Stimmen der Wahlberechtigten abhängig. Hätten die zwölf Millionen Menschen bei den vergangenen Kommunal- und Europawahlen wählen dürfen, hätten die Ergebnisse anders ausgesehen, ist er sich sicher. Demokratische Parteien hätten davon profitiert, meint er. Atay-Lichtermann selbst trat bei der Bürgerschaftswahl für die SPD an und scheiterte.
Schnittstelle zwischen Mensch und Behörde
„Mir war es wichtig, dass wir nicht nur informieren, sondern sowohl den Einbürgerungsbehörden als auch den Antragstellenden helfen“, erklärt Alabali-Radovan. Das Beratungsnetzwerk ist dabei die Schnittstelle zwischen Mensch und Behörde. Einerseits müssen die Berater:innen Menschen direkt ansprechen, über ihr Recht auf Einbürgerung informieren und zur Einbürgerung motivieren. Doch nicht alle müssen erst von der Einbürgerung überzeugt werden: „Viele fühlen sich geehrt, dass ihre Lebensleistung jetzt anerkannt wird“, sagt Atay-Lichtermann.
Andererseits will das Beratungsnetzwerk die Behörden entlasten, betont der Projektleiter: „Wir sind da, um Arbeit abzunehmen.“ Die Berater:innen prüfen, ob alle Unterlagen nach den Erwartungen der hiesigen Behörden korrekt und vollständig sind. Dabei müssten sie sich gut mit den jeweiligen Ämtern absprechen. „Denn die Behörden arbeiten je nach Stadt unterschiedlich.“
Dadurch, dass die Berater:innen wissen, wie die Behörden arbeiten, könnten sie auch „Erwartungsmanagement in der Community“ betreiben, wie Atay-Lichtermann sagt. Sie könnten erklären, dass es keine Termine gibt, der Antrag in Rostock 14 Monate lang bearbeitet wird und es sich nicht lohnt, per E-Mail nach dem Bearbeitungsstand zu fragen. So könnten Frust und Mehrarbeit auf beiden Seiten verringert werden. „Wenn die Länder sehen, dass es für die Einbürgerungsbehörden einen Nutzen hat, bin ich ganz zuversichtlich, dass andere Bundesländer dieses Projekt für sich übernehmen“, hofft Alabali-Radovan.
„Was wir hier machen, gefällt den Rechten nicht“
Der Tag der Büroeröffnung. 65 Gäste aus Gesellschaft, Politik und Verwaltung sind am späten Nachmittag ins Rostocker Gewerkschaftshaus gekommen. Im Büro ist der abschließbare Schrank aufgebaut, im Foyer halten neben Alabali-Radovan auch Rostocks Oberbürgermeisterin Eva-Maria Kröger (Die Linke) und MVs DGB-Chef Fabian Scheller Reden. Atay-Lichtermann freut sich auf seine Arbeit. „Was wir hier machen, gefällt den Rechten nicht“, sagt er grinsend. Und jetzt geht es erst richtig los.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 34 und wurde für die Online-Veröffentlichung aktualisiert.
Quellen
- Freie und Hansestadt Hamburg (Hg.): Einbürgerungslotsen: Unterstützung bei der Einbürgerung, auf: einbuergerung.hamburg.de / WFB Wirtschaftsförderung Bremen (Hg.): Einbürgerungslots*innen helfen auf dem Weg zum deutschen Pass, auf: bremen.de.↩
- Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hg.): Staatsministerin beim Bundeskanzler Reem Alabali-Radovan (SPD). Lebenslauf, auf: integrationsbeauftragte.de.↩
- § 10 III Staatsangehörigkeitsgesetz.↩
- Flägel, Victoria: Eine Stimme der Stadtpolitik, auf: katapult-mv.de (7.1.2022) / Flägel, Victoria: Der Mord an Mehmet Turgut – 20 Jahre danach, auf: katapult-mv.de (20.2.2024).↩
- Griesbach, Jens: Wie ein Rostocker den Weg für Migranten zum deutschen Pass ebnet, auf: nordkurier.de (27.6.2024).↩
- E-Mail der Pressestelle der Stadt Rostock vom 17.7.2024.↩
- Die Bundesregierung (Hg.): Schnellere Einbürgerungen unter strengeren Voraussetzungen, auf: bundesregierung.de (27.6.2024).↩